Samstag, 3. Januar 2015
Aufräumen, lesen, etwas schreiben, spazieren gehen. Später kochen. Ein halber Käsekuchen steht auf dem kühlen Fensterbrett, innen. Frohes Neues. Obwohl es sich bloß um ein recht willkürliches Datum handelt, anders als Sonnwend zum Beispiel, fühlt sich Neujahr doch jedes Mal besonders an. Als gäbe es eine Barriere zu überklettern oder tatsächlich etwas hinter sich zu lassen. Ich möchte nicht mehr so viel Sorge um Mama haben, vielleicht mache ich mit R. das Ritual zum Bindungen trennen. Diese Art klebriger Verbindung, die nur Familienmitglieder untereinander haben. Mit der Busenfreundin beschlossen, nicht mehr über die Familie zu reden, je mehr Worte, umso tiefer bleibt man drin stecken. Nicht ignorieren, sondern einfach vorbeiziehen lassen, wie in einer zünftigen Meditation.

Die Bestefreundin ist mittlerweile wieder von ihrem neuen Mann ("da ist ein neuer Mann in meinem Leben") getrennt. Er war entweder müde oder hat über die Sorge um seine Kinder gesprochen. Nach zweidrei Monaten schon keinen Sex mehr, sondern frühe Sofaschläfchen um acht. Wir reden über den Zwang zum Sex, das heißt, ich will darüber reden, aber sie versteht mich nicht, für sie ist es ein Recht auf Sex. Meine Güte. Ich verspüre seit gestern einen leichten Groll, nicht auf sie, sondern auf das Thema. Sich das Gewünschte einfach nehmen, im besten Fall natürlich teilen, weiß ich ja. Als Ziel gemeinsame Orgasmen. Wie absurd. Und dann noch einen und nochmal. Als gäbe es nur Nähe durch die unteren Chakren. Naja, sagt sie, eben auch unten und nicht nur im Herz. Sie müsste es eigentlich besser wissen.

Trotzdem ist der Jahreswechsel mit ihr und dem Bildhauer äußerst angenehm. Wir liegen vorm Kamin und quatschen oder kochen mehrere Gänge. Den Hügel, auf dem angeblich ordentlich geballert wird, erreichen wir 15 Minuten zu spät, nach einer nicht besonders gut vorbereiteten Nachtwanderung durch Wald und Heide. Beide Freunde haben anschließend wehe Füße und mir war ein wenig schlecht von der Aufregung, nachts durch unbekanntes Gelände zu laufen. Dreiviertelmond. Oben weht ein eisiger Wind und in der Ferne leuchten Raketen wie kleine Cocktail-Schirmchen über der Heide. Ganz plötzlich sind wir fast allein, und hätten wir nicht eine vergessene Taschenlampe mitgenommen, wir wären vielleicht verschollen.




Mittwoch, 17. Dezember 2014
Beschlossen, dieses Jahr nur noch das Nötigste zu arbeiten und alle Termine auf Januar verschoben. Die stete Kapitalismuskritk anbei. Die Konten sind wieder auf dem Stand vom letzten Jahr, also ausgeglichen. Die Mutter der Leserin ist gestern gestorben. Sie hatte seit vier Wochen keine Nahrung mehr genommen und seit eineinhalb nichts mehr getrunken. Das berührt mich sehr. Meine Mama indes hat wieder Kraft geschöpft und ich erkenne, dass sie ihr eigenes Leben hat. Ihr eigenes Sterben haben wird. Und ich das meine.


Und unter alldem, da keimt etwas Zartes. Es wird teils gespeist durch gute Erinnerungen, teils ist es sehr neu und deshalb begeisternd. Nach fast fünf Jahren wieder den Bass aus der Tasche gefriemelt, deren Reißverschlüsse rauh geworden waren. Die Finger sind ebenso, aber ich übe ein einfaches Stück, mit dem ich das Bass-Spiel einst begonnen habe, 1979, von The Smashing Pumpkins. Einfach durchachteln. Billy Corgan sieht eigentlich aus wie der Geräuschemann. Allerdings fand ich Billy gut, bevor ich den Geräuschemann traf. Und mein Musikmachen begann auch vor ihm. Ich muss das auseinanderhalten. Voreinander trennen. Letztlich hat er sich sowieso nicht für meine Lieder interessiert, zu meinem Soloauftritt im August 2008 ist er nicht mal gekommen. Wenn ich jetzt neu starte, finde ich vielleicht endlich Frieden, und vielleicht kann ich neue Lieder schreiben, nicht die weinerlichen Love Songs von einst.

Die Musik. Vielleicht spendiere ich mir neue Lautsprecher, die alten sind riesig und der Schaumstoff löst sich schon auf nach 25 Jahren, wahrscheinlich fallen die Töner irgendwann einfach raus.

Ja, vielleicht. Vielleicht auch nicht, das macht nichts. Es soll schön sein, das neue Jahr.




Donnerstag, 4. Dezember 2014
All die Leute, die dauernd rein und raus gehen, seit die Tür nicht mehr zugeht. Mama hat kein Vertrauen, wieso auch. Es ist offensichtlich besser, keine Pflegestufe zu haben, jetzt rede ich schon wie die, das müsste doch heißen, einer Stufe zugeordnet werden, oder wie auch immer. Also ist sie noch viel zu rege und schlau. Ich frage die Gutachterin, ob es nicht ein bisschen finanzielle Unterstützung gibt, schließlich machen wir dies und jenes, waschen, putzen, legen. Und dann verstehe ich erst, es geht allein um Demenz und die direkte Pflege des Körpers, putzen, waschen, legen gehört nicht dazu. Ansprache, Aufmerksamkeit, Mitgefühl oder gar Liebe gehören nicht mit zum Programm, da wird einfach bloß reingekommen, in alle Winkel geglotzt und geschlaubergert.

Dann doch lieber gar nichts. Die dauernd wechselnden Pflegepersonen messen eilig den Blutdruck, pieksen in Finger, um etwas Blut zu bekommen und zu messen, messen für Zahlen, bitte Zahlen her, und haben Sie Ihre Medikamente genommen, das ist alles. Noch bis nächsten Donnerstag, wir laden sie nicht mehr ein, bloß nicht weiter, die nerven.

Mama hat gekämpft wie eine Löwin, mittlerweile wissen alle, wie fit sie ist, und ihre Schwäche von vor drei Wochen war nur eine kurze. Ich finde sie toll. Wir haben viel gelernt über das, was wir wirklich wollen, was Menschen wirklich wollen, um würdig zu leben und irgendwann zu sterben.

Ich übe jetzt, und Dudi auch, mir keine Sorgen mehr zu machen und Vertrauen zu haben, in Mama und die Art, wie sie ihr Leben leben möchte. Vertrauen ins Schicksal. So wird das gehen. Finde ich.




Sonntag, 30. November 2014


Versuche mit Sand und Pendel und ein hochtrabender Titel. Ist nicht neu, aber schön und beruhigend beim Zusehen. Wir müssen alle Möglichkeiten nutzen, das meditative Leben wieder herzustellen. Ist mir sonst zu wirr hier.




Mittwoch, 26. November 2014
Seltsame Tage. Der Versuch, die Tatsachen im Sinne aller gesammelten Weisheiten einzuordnen, der Sichtweisen, denen ich mich zugehörig fühle und die sich als wahr herausgestellt haben. Mehr Einpunktigkeit. Nicht schwätzen, nicht zuviel mit Dudi kommunizieren und ihre Sorgen und Ängste als die meinen übernehmen. Am Ende des Jahres werde ich noch mit angenehmen neuen Aufträgen überrascht und ich fühle mich mehr als reichlich belohnt. Für was? Für meine Mühen? Der Mutter der Leserin geht es anders als meiner. Jene hatte schon den Priester bestellt, hofft, dass der liebe Gott sie holt und ist am Morgen böse, wenn er sie wieder hat warten lassen. All das Katholische, auch in ihrer Familie. Glauben hilft nicht weit – mir jedenfalls nicht, ich muss wissen. Und das tu ich doch! Die Busenfreundin empfielt, sich nicht allzusehr mit den sich am Lebensende Befindenden zu beschäftigen, ich solle doch lieber mit der kleinen Patentochter spielen, die sei noch am Anfang. Sie hat wohl recht, ein bisschen mehr Euphorie darüber, überhaupt am Leben zu sein, einen Körper zu besitzen, denn in diesem Weltall ist das eher eine Seltenheit.




Mittwoch, 19. November 2014
Jedenfalls habe ich einen tollen Freund. Wenn ich ihn ansehe, finde ich, dass er von außen überhaupt nicht aussieht wie er innen ist, also in der Seele. Das ist sein größtes Geheimnis. Von außen wirkt er ernst, seriös und älter – hatte ich ihn bei der ersten Begegnung nicht sogar gesiezt? Was machen Sie denn mit dieser Kugel? Wahrsagen? fragte ich in etwa. Die Kugel sei als Brennglas zu nutzen, hier, der Tisch ist bereits angekokelt, da muss der Hut drauf, wenn die Sonne scheint, damit das ganze Gelände nicht abbrennt. Ich siezte noch ein paar Abschnitte weiter, beeindruckt ob seiner Bildhauerei, während er schon beim du war. Von innen, in der Seele jedenfalls, ist er der albernste, lustigste und kindlichste Mensch, den ich kenne (außer mir). Wenn ich ihn ansehe, sehe ich den jungen Mann mit diesem trotzigen Zug um Mund und Kinn, oft fasse ich beides zwischen Daumen und Zeigefinger und zupfe daran. Wenn er dann lacht, noch mehr mit den Augen, verfliegt alles Eigensinnige sofort.
So ein Gesicht hat er jedenfalls.




Mittwoch, 12. November 2014

Ich weiß schon, warum der Bildhauer und ich die Gesteine so schön finden. Da ist das Elend schon längst vorbei, alles hinüber und nur noch Abbild.




Viertel vor zehn abends. Dudi kann Mama nicht erreichen, sie hat diese Woche Telefondienst. Wir lassen es noch weitere Male klingeln, vielleicht ist sie ja im Keller und hängt Wäsche auf am Montag. Aber sie geht nicht ran. Ist nun der Fall eingetreten, den Nachbarn anzurufen? Anscheinend. Er ruft zurück, er könne zwar ins Haus, aber nicht in die Wohnung, Lichter seien an, die Zwischentür aber abgeschlossen, er habe mehrmals geklingelt und gerufen und nichts rührt sich. Ist nun der Fall eingetreten, die Tür einzutreten? Anscheinend. Der Nachbar weist die Feuerwehr ein, die treten einmal kurz zu und stehen wenige Sekunden später in Mamas Schlafzimmer. Die wundert sich, wieso so viele fremde Männer in ihrem Zimmer sind, ist erst aufgewacht vom Lärm an der Tür. Hoher Blutdruck und Zucker, stellen die Notmänner fest, ich bin mittlerweile schon im Taxi und fahre Richtung Heimat, kostet 144 Euro. Spreche mit dem ausführenden Mann, die kaputte Tür würden sie selbstverständlich bezahlen, er sei der Ansicht, Mama ins Krankenhaus zu bringen und durchchecken zu lassen, sie würde seltsam lallen und nicht ganz bei sich sein. Das kenne ich eigentlich nicht, und am Sonntag hatte sie noch Lauf gefegt vorm Haus, damit die Fußgänger nicht stolpern.

Bin erstmal froh, dass sie noch lebt und weise den greisen Taxifahrer an, direkt ins Klinikum zu fahren. Ich weiß nicht, wo das genau ist, irgendwo JWD, die Beschilderung ist mies und ich weine ein bisschen, gut dass wir den Stau in Bad Eilsen umfahren konnten, Nachts um 12 ein Stau, wo gibt es das schon. Geld aus dem Automaten ziehen, wie geht das nochmal? Meine Beine knicken beinah um, und der Taxifahrer wünscht mir alles erdenklich Gute. Ich hätte mit ihm einen Preis machen sollen, vielleicht so 100 Euro oder 90, jetzt isses aber auch wurst. Wo ist die Notfallaufnahme, hier um die Ecke, welche Ecke, na dort, ich weiß nicht, was sie meinen, und werde geführt, und dort auf die Klingel drücken, welche Klingel, ich sehe nichts, können Sie bitte für mich drücken?

Endlich an Mamas Bett. Eher Pritsche. Sie döst sehr seltsam. Ihr Lippen sehen so vertrocknet aus, als hätte sie gerade eine Wüste durchquert, ohne Wasser. Ich tränke sie erstmal, hat sie vergessen, ein guter Trick, um das Pinkeln zu vermeiden, das ihr Mühe bereitet. Sie ist ein wenig sauer und weiß nicht, warum sie hier ist. Die Ärztin wird bald kommen und sie erstmal durchchecken.

Und so weiter. Es ist traurig, verdammt. Ihre Urinprobe geht verloren und sie soll nochmal. Das dauert alles ewig. Auch der Bericht der Notfallärztin an die Hausärztin, ein paar Zeilen und ein paar Klicks und Kreuzchen im Formular brauchen eineinhalb Stunden. Sie stellt Mama Fragen, welcher Wochentag, welcher Monat, welches Jahr. Geburtsdatum? Sie weiß es nicht. Außerdem ist die Ärztin fremdländisch und hat einen Akzent, den Mama nicht versteht, ich wiederhole die Fragen, aber sie guckt mich bloß an und schüttelt leicht den Kopf. Wie neulich beim Optiker, Mama, lies mal die Buchstaben vor, ich sehe nichts, da oben ist eine Lampe. Ich finde die Typo auch kacke, Helvetica dreifach extended und das P sieht aus wie eine Rassel. Kein Wunder, dass die Brillen verkaufen.

Mama stellt mir seltsame Fragen, was ist das da, und ich weiß nicht genau, was sie meint, da oben die Uhr? Oder die Gitter für die Luftzufuhr? Die Laptops? Ich lasse sie schlafen, sie schaut mir in die Augen und ratzt einfach weg dabei, die Lider einen spaltbreit geöffnet. Ich glotze auf den Monitor, ihr Herz schlägt gleichmäßig und die anderen Kurven sehen auch beruhigend aus, trotzdem fürchte ich jeden Moment die Null-Linie. Sie holen sie nochmal zum CT, gottseidank kein Schlaganfall, und sonst eigentlich auch nichts Richtiges. Blutarmut. Irgendwo eine kleine Infektion. Das Hirn schrumpft, ganz normal in dem Alter. Eine leichte Demenz.

Ich will das nicht. Demenz.

Erst um halb sieben sind wir wieder zuhause, ich stecke Mama ins Bett und schlafe selbst bis neun. Ich muss doch zur Hausärztin, den Bericht vorbeibringen. Wie lange arbeitet die überhaupt? Ich sitze dann bei ihr vorm Schreibtisch, was wollen Sie jetzt von mir, fragt sie, und dann erzählt mir gleich was von Teilentmündigung und Pflegestufen. Blöde Kuh.

Mama und ich verbringen einen guten Tag, ich flöße ihr Tees ein, Vitamin C und Kräuterblut, kaufe Backfisch und Lebkuchen-Kuchen vom guten Bäcker. Sie hat einen schönen Appetit und will noch eine Birne geschält bekommen und Walnüsse geknackt. Ich dusche sie noch und öle sie ein und fahre etwas beruhigt nach Hause. Schlafe elf Stunden.

Jetzt ist Dudi bei ihr, sie muss ja immer aus der Ferne anreisen. Morgen kommt die Hausärztin und wir besprechen gemeinsam die Lage. Ich weiß auch nicht. Pflegedienst erstmal? Kommt mir alles so falsch vor, kleine Mama. Sie will das auch nicht. Es tut mir leid, dass ihr so viel Sorge um mich habt, sagt sie zu mir.




Montag, 10. November 2014
Als wären die Tiere hier gerade eben durchgelatscht. Die Fläche sieht aus wie frische Matsche und die Spuren sind mit Regenwasser gefüllt. Dabei ist alles versteinert und Millionen Jahre alt. Der Bückeberg sei einst eine Lagune gewesen, berichten uns die Wegetafeln, und die Dinosaurier seien vorsichtig über das Gelände getrottet, mit kleinen Schritten, ein junges Tier neben einem Erwachsenen, von Nord nach Süd und entgegengesetzt, eine dritte Fährte dazu im schrägen Winkel. Beim Abbau des berühmten Obernkirchener Sandsteins, der seit über tausend Jahren gebrochen und in vielen bekannten Gebäuden weltweit (z. B. Kölner Dom, Weißes Haus) verbaut wurde, ist 2008 diese Sedimentschicht aufgedeckt worden und wir sehen auf die möglicherweise größte zusammenhängende Ansammlung von Saurier-Trittsiegeln.






Südlich schließt sich der Bruch an, in dem aktuell gearbeitet wird und vorher trotteten wir in seit Jahrzehnten stillen Seitenspalten herum. Auch hier hatte der Bildhauer während seiner Studienzeit gecampt und gearbeitet. Wir folgen einem Pfad mit neonfarbenen Zeichen, die ins Gehölz gesprüht wurden, ganz frisch, offenbar von Mountainbikern befahren, oben auf einem Steinplateu endend, auf dem Abraumhügelchen zu noch mehr kunstvollem Radeln einladend. An Unterständen vorbei, vielleicht für die Arbeiter, die hier den Stein für das zukünftige Germania abzubauen hatten. Verwildert, rauh und unheimlich bietet sich uns der offene Berg. – Und wieder tun wir einen Blick in unsere eigenen Abgründe.




Montag, 3. November 2014
Stellvertretend suchen wir Steinbrüche und Tonkuhlen auf. Die Formationen sind beeindruckend und gehen tief, nicht nur geologisch. Der Bildhauer hatte während seines Studiums etwas in Stein gemeißelt, irgendwo im Weserbergland. Um dort hinzugelangen, nach seinen 25 Jahren, fahren wir fast meine komplette Lieblings-Motorradstrecke (mit dem Auto), über diverse Berghöhen und Pässe, zweimal hin- und zurück über die Weser, nur so, wir weilen an verschiedenen Stellen, die ich ihm unbedingt zeigen muss, um am Ende endlich seitwärts in einem schattigen Tal im kalt-rotbraunen Bruch anzukommen, der seit langem stillgelegt ist. Erst finden wir nicht das Gesuchte und laufen durch taubenetztes Gras und zwischen moosüberwachsenen Quadern herum und ich fotografiere die erodierten Wirtschaftsgebäude des Geländes. Dann dort hinten, früher musste die Stelle erst mühsam erklettert werden, jetzt scheint die Tiefe mit Material ausgefüllt und das Zeichen fast auf Augenhöhe, nur ein paar Felsen weiter. Wieder so ein Zeitsprung. Ich weiß, wie der Bildhauer die gealterte Szenerie empfindet. Als ob aber sein Alter bei den Steinen eine große Rolle spielte.





An einem anderen Tag betreten wir eine Tonkuhle nahe der Stadt, dort hatten die Studenten das grauschwarze Sediment geholt, um es zu Skulpturen zu formen. Der Ton fühlt sich rein und glatt an, man kann die weichen Schichten voneinander lösen, die manchmal durchsetzt sind von Ammoniten, Belemniten oder deren Negativformen. Die Grube geht tief und bildet einen grünen Teich. Am östlichen Teil, nahe der Einfahrt, wird roter zerschredderter Backstein zurückgeführt, wir stellen uns vor, dass einst die Senke wieder damit gefüllt sein wird.

Verwunschene Orte, die Bilder gehen Tage nicht aus dem Sinn. Als hätte ich im aufrissenen Erdreich etwas entdeckt, das nicht für mich bestimmt ist; so heimlich.




Sonntag, 26. Oktober 2014
Aushalten. Wir haben keine Lösung, Mama graut vor dem dunklen Winter und möchte nicht mehr da sein. Es gibt nichts, was ich ihr sagen könnte, ich habe mein Leben lang versucht, Sachen zu sagen, die ihr helfen könnten. Aushalten, dass es nichts zu tun gibt. Statt dessen das schwer gewordene Leben mit Hilfsmitteln ausstatten.

Am Donnerstag waren wir im Kaufhaus und haben einen wunderbaren Duffle-Coat gekauft. Sündhaft teuer. Sie sieht darin aus wie ein Mädchen. Später gehen wir zu Maria in den Dom, ein Gruppe murmelnder Menschen betet sich durch den Rosenkranz. "Erklär' Maria, dass du doch noch nicht kommst, sondern erst den neuen Mantel auftragen musst." Vier Jahre ist der alte Mantel in Gebrauch.

Ich träume, dass ich vier Jahre zurück reise, und ein Wissen mitbringe, dass die anderen noch nicht haben können. Die Lieblingschefin wohnt über mir und meckert über die falsch zugeschnittenen Gardinen, ich finde sie undankbar und nervig. Ich esse mit dem Priester eine aufwendig gebackene bunte Torte wegen meiner Patenschaft und der Kollege M. kommt mit dem Motorrad. Vor vier Jahren um diese Zeit habe ich eine Familienaufstellung gemacht und ein paar Wochen später ist Papa gestorben. Ich bin wirr im Kopf.

Wenn wir, der Bildhauer und ich, des Nachts gleichzeitig aufwachen, erzählen wir uns unsere Träume. Überhaupt erzählen wir viel, ich erbat mir Nachhilfe in Chemie und bestürzte ihn mit Fragen, die er nicht beantworten kann. Es versuchen immer sieben Neutronen den Kern zu umfliegen, darüber bin ich sehr froh, sieben, aber sie fliegen ja nicht wirklich, das ist nur ein Denkmodell, und ich frage mich, wie man auf sowas kommt, wenn man's nicht sehen kann. Unsere gemeinsame Welt nimmt Gestalt an, ich gebe was und er anderes, so werden wir beide reich.

Unter all dem ist Traurigkeit. Ich wüsste, wie man sich aufs Sterben vorbereitet, sich zentriert, gestern aber brüllte Mama mich an, der liebe Gott könne ihr auch nicht helfen. Deshalb sage ich heute am Telefon nicht viel. Ich weiß nicht was.

Ein grünes Rad kann trösten. Ein bisschen.