Sonntag, 28. Juli 2019
Was für eine Gnade, zwischendurch alles abwerfen zu können. Den Körper in eine aufrechte entspannte Haltung bringen und aufhören anzuhängen. Den Philosophen Jochen Kirchhoff – und durch Nennung seines Namens am Anfang des zweiten Satzes dieses Blogeintrages bekommt er eine Wichtigkeit, die er nicht haben sollte – habe ich am vierten Jahrestages des mahasamadhi des geliebten Lehrers zu hören und zu lesen begonnen. Mein Privatstudium – endlich ein Begriff, mit dem man die Vita auffrischen kann – hatte mich erst durch weltliche Themen getragen, auf einem Boot von Interesse, Ablehnung, dann wieder Wissbegierde treibend, wo ist rechts, wo links, und das weniger im politischen Sinn, backbord, steuerboard, eine Reise ins All, und der Philosoph hatte dazu die Landkarte. Und Sprache! Möglichst weit/fern von abgelutscht-esoterischen Begriffen versucht er eine Kosmologie des Geistes, des Bewusstseins. Hier wieder meine Freude an der Muttersprache, die das recht einfache Englisch des indischen Lehrers durch den Philosophen zu transzendieren scheint. (Ist das überhaupt ein sinnvoller Satz?) Der megatechnische Pharao als Widersacher des kosmischen Anthropos. Meine Güte. Ein Weltgefühl, das eine Verantwortung trägt/birgt. Während die vedantische Sicht die prakriti als maya, als Täuschung sieht, wertet sie sie ab, oder? Der Philosoph hingegen beschreibt den Kosmos als unendlich komplexes, ja bewusstes Gebilde. Und plötzlich wird aus Angst vor Leere Anbetung der Fülle – eine äußerst geschmeidige Umkehr des Blickes auf die Dinge, ein shift, aber dies ist auch schon wieder so ein durchgenudeltes Wort. (Swami antwortete auf meine Frage, ob man nicht auch in Betrachtung der Natur Erleuchtung erlangen könnte, das würde bedeuten, die Schöpfung über den Schöpfer zu stellen. Ich habe nicht antworten können, dass doch beides eines sei. Wir befanden uns inmitten des großen Disputes zwischen vedanta und samkhya.)

Und so ist dieser Sommer in vieler Hinsicht besonders. Endlich wieder normales Wetter, beschwört wetter-online, geil auf Drama. Ich weiß eigentlich nicht, was normales Wetter sein soll. Erinnerungen an heiße Nächte unter Laken, die die Mutter statt der Bettdecken bereitgelegt hat und trotzdem jammerten Dudi und ich im erhitzen Dunkel des Kinderzimmers. Straßen und Wege, vor denen unsere nacktgewohnten Füße zurückschreckten, die einzige Abkühlung vom Sprengding, unter dessen Regenbogen wir herumhopsten, und das Gras war eine große Pfütze nach Stunden der Freude. Die gemäßigten Zonen verschöben sich nach Norden. All diese Nachrichten – was für eine Gnade, zwischendurch alles abwerfen zu können. Den Körper in eine aufrechte entspannte Haltung bringen und aufhören anzuhängen.




Dienstag, 24. März 2015
Neulich ist die Mutter gefallen und lag die ganze Nacht auf dem Boden. Sie wollte unter der Spüle nachschauen, warum dort Wasser ausläuft, hat wohl das Gleichgewicht verloren und ist rücklings mit dem Kopf an den nächsten Schrank gestoßen. Sie hatte keine Kraft allein wieder aufzustehen, ist in unser ehemaliges Kinderzimmer gerobbt, hat sich dort in die Flokatis eingerollt und dort geschlafen. Jede Stunde hat sie versucht hochzukommen, dachte wohl, gleich, gleich geht es, und so verging die Nacht, bis ich morgens anrief und, nachdem ich sie nicht erreichte, den Nachbarn losgeschickt habe; der fand sie in dieser peinlichen Lage, half ihr auf, und obwohl sie das Problem abwiegelte, machte ich mich nebst Bildhauer auf den Weg zu ihr in die Heimatstadt. Etwas Pflege, etwas essen, Gespräche. Ihr ganzer Körper würde schmerzen, da ich aber keine blauen Flecke fand, denke ich, dass sie Muskelkater hatte von der Mühe beim vergeblichen Hochstemmen.

Jetzt sind die Schmerzen fort und mittlerweile trägt sie einen Notfallknopf am Handgelenk. Das entschärft die Sorge aber auch nur minimal, denn auf Nachfrage bei den Johannitern, ob auch ich sie im Notfall anrufen könne, erwidert man streng, nein, das sei ja ein Notfallknopf, den könne nur die Inhaberin selbst auslösen. Also wieder alles nicht so einfach wie gedacht: Schlüssel hinterlegen und einfach mal zum Nachschauen vorbeischicken, falls Mama nicht ans Telefon geht. Hoffen wir, dass sie sich traut zu drücken.

Ich habe immer mehr den Eindruck, dass sie Abschied nimmt. Wie klein sie ist, 46 Kilo wiegt sie und die Kraft kommt nicht mehr zurück. Trotzdem will sie weiterhin allein im Haus leben und irgendwie geht es ja auch. Na, Träumerle, frag ich, woran denkst du?, wenn sie wiedereinmal ins Leere schaut. Sie denke an den Tod und dass sie sich nochmal alles richtig ansehen müsse. Am nächsten Tag reißt dieser Satz an meinem Herz und mir laufen, wo ich auch bin, die Tränen.

Ich hab gedacht, es wäre einfacher, sie gehen zu lassen. Du musst nicht traurig sein, wenn ich sterbe, sagt sie, und ich behaupte, ich sei es auch nicht, ich würde nur nicht wollen, dass sie am Ende noch vor sich hinsiechen müsse. Das glaube sie nicht, sagt sie schlicht, und ich denke, das stimmt.




Montag, 10. November 2014
Als wären die Tiere hier gerade eben durchgelatscht. Die Fläche sieht aus wie frische Matsche und die Spuren sind mit Regenwasser gefüllt. Dabei ist alles versteinert und Millionen Jahre alt. Der Bückeberg sei einst eine Lagune gewesen, berichten uns die Wegetafeln, und die Dinosaurier seien vorsichtig über das Gelände getrottet, mit kleinen Schritten, ein junges Tier neben einem Erwachsenen, von Nord nach Süd und entgegengesetzt, eine dritte Fährte dazu im schrägen Winkel. Beim Abbau des berühmten Obernkirchener Sandsteins, der seit über tausend Jahren gebrochen und in vielen bekannten Gebäuden weltweit (z. B. Kölner Dom, Weißes Haus) verbaut wurde, ist 2008 diese Sedimentschicht aufgedeckt worden und wir sehen auf die möglicherweise größte zusammenhängende Ansammlung von Saurier-Trittsiegeln.






Südlich schließt sich der Bruch an, in dem aktuell gearbeitet wird und vorher trotteten wir in seit Jahrzehnten stillen Seitenspalten herum. Auch hier hatte der Bildhauer während seiner Studienzeit gecampt und gearbeitet. Wir folgen einem Pfad mit neonfarbenen Zeichen, die ins Gehölz gesprüht wurden, ganz frisch, offenbar von Mountainbikern befahren, oben auf einem Steinplateu endend, auf dem Abraumhügelchen zu noch mehr kunstvollem Radeln einladend. An Unterständen vorbei, vielleicht für die Arbeiter, die hier den Stein für das zukünftige Germania abzubauen hatten. Verwildert, rauh und unheimlich bietet sich uns der offene Berg. – Und wieder tun wir einen Blick in unsere eigenen Abgründe.




Montag, 11. August 2014
Der See liegt klar und trägt vom Wind geformte Spitzen. Der Freundliche fragt nach "meinem Nachwuchs", gemeint ist der Bildhauer, den ich schon zum See mitgenommen hatte, der soll, wenn die alten FKKler tot sind, den See weiterbeleben. Der muss heute arbeiten und im übrigen, lache ich über "Nachwuchs", ist er fünf Jahre älter als ich. Nach meiner Runde einmal um den See, sitze ich noch am Steg, genieße gänsehäutig den Windatem auf der Haut und freunde mich mit einem etwa achtjährigen Mädchen an, es hat schon Seepferdchen und das Bronzeabzeichen. Du schwimmst wie ein Fisch! Nein, ruft es, wie eine Ente! Na klar, sage ich, die können es ja fast besser. Es gibt Kuchen und die Seerosenblätter sind 20 bis 25 Meter groß. Nein, Quatsch, Zentimeter.

Wie oft ich mich über die absichtlichen Versprecher des Bildhauers wohl noch scheckig lache. Er hat sich gestern beschwert und da musste ich noch mehr lachen. Auf seinen Streifzügen, die nun auch die meinen sind, suchen wir Kräuter und Äpfel, geben den Pferden der Bürokollegin davon ab, die Tiere nuckeln weiter noch genüsslich an der eigenen Zunge wie an eingebauten Schnullern; wir bekommen von den Gartendamen Mirabellen und armdicke Zucchini, die wir am Abend zu verschiedenen Gerichten bereiten. Ebenso wie ich nutzt er keinen Esstisch – meiner steht zugeklappt in der Küche an der Wand und seiner irgendwo im Treppenhaus, klein und antik, und so picknicken wir im Bett, wenn wir uns nicht schon vorher aus Pfanne und Töpfen sattnaschen, arrangieren die Schüsseln auf einem großen Tablett und nehmen von allem. Reichlich.

Viel Zeit haben wir zusammen verbracht. Fast jeden Tag. Ich finde es immer noch reizvoll, seine vergangenen Spuren zu erwandern, ob ich nicht doch eine Erinnerung finde, die wir teilen. Viele seiner Kommilitonen und deren Arbeiten kenne ich wieder, aber von ihm ist da nichts. Er lässt mich den Ordner mit den Zeitungs- und Ausschnitten aus Magazinen, Fotos und Ausstellungseinladungen durchstöbern, da sind interessant arrangierte Porträts des Künstlers im Seitenlicht, umstanden von seinen farbenfrohen, filigranen Objekten. Meist sehe ich einen ernsten Mann beinahe grimmig und sehr direkt ins Objektiv schauen, es gibt bloß eines, vielleicht 25 Jahre früher, da lächelt er leicht, und ich sehe den jungen Mann, der seinen großen Humor in den Arbeiten versteckt hat. Das stimmt natürlich so nicht, aber mir ist als wäre ich die einzige, die ihn darin findet, während das gemeine Publikum noch nach Tiefgründigem sucht.

Was rede ich. In mir sitzt noch das Staunen und ich mag kaum glauben, dass wir uns überhaupt getroffen haben. An der Brombeerhecke macht er eine kurze Bemerkung, darüber dass man (also er) sich durch eine frühere Begegnung (also mit mir) viel Leid hätte ersparen können, welches er (nicht es ihn) als lebenswichtig verfolgt hatte. Ich schweige, weil ich nicht glaube, dass das stimmt, genieße aber das Gesagte. Wir hätten uns früher sicherlich so nicht erkannt. Erst durch das vorher Durchlebte sind wir fähig geworden, nun ausgiebig voneinander zu kosten.

Die Brombeeren hier sind weich und süß. Und die folgenden Küsse ebenso.




Freitag, 25. Juli 2014




In meine Nachtträume mischt sich natürlich wieder der Geräuschemann. Er ist 20 Jahre jünger, hat langes rotes Haar, das er auf diese jungenhafte Weise seitlich gescheitelt trägt, und ich finde ihn umwerfend. Aber ich muss mich abwenden, weil er sich unnahbar gibt, wie immer. Im Traum scheint es mir, als würde ich ihn für immer allen anderen vorziehen.

In der echten Gegenwart aber gibt es interessante Menschen, weit reichhaltiger und wahrhaftiger als die der Sehnsuchtsräume je sein könnten. In meiner Erinnerung bleibt der Geräuschemann einsilbig und fern.

So als würde der eine immer bloß den anderen ersetzen, mache ich mir Sorgen. Natürlich, vorher nahe Menschen verblassen in der Vergangenheit, aber wie es das Schicksal will, ähneln sich die Geschichten, für die man sich zu interessieren beginnt in lauschigen Nächten. Ob es je möglich ist, das bereits ins Rollen Gebrachte zu stoppen, vielleicht will ich das auch gar nicht, ich bin noch nicht zu Ende mit dir, Leben. Noch nicht bereit zu entsagen, warum auch, stelle ich mit frischer Neugierde täglich die Frage, und somit in Frage, in was mich meine Lehrer eingeweiht haben. An mir ist es bloß, Gelassenheit zu üben.

Gestern habe ich mit der Mechanikerin das neue Fahrrad besprochen. Sie gab Empfehlungen, wo ich noch keine festen Vorstellungen hatte, manches Detail schwebte mir aber schon vor, sie maß meinen Körper aus, reichte den Farbfächer und zeigte mir andere Räder zum Vergleich. Da kommt jetzt keine Stange von der Stange, der Rahmen wird für mich angefertigt, Zubehör wird nach eigenen Wünschen montiert, sogar die Speichen werden per Hand in die Felge gedreht, das ganze Gerät scheint für die Ewigkeit gemacht. Es darf dabei nur nicht regnen.




Sonntag, 6. Juli 2014
Ich fahre vom See zurück, den Weg am Fluss entlang, zu beiden Seiten stehen hoch verschiedene weißblühende Pflanzen im Sommer, der Blick weitet sich ohne Punkt zu allen Seiten, unten am Rand die Hände, die die Enden des Lenkers umgreifen, und hier auf dem Deich ist der Himmel größer und riesige runde weiße Wolken fahren mit mir. Wie alles miteinander verbunden ist! Die Hände, das Auf und Ab der Knie, das Rad, der Weg, das knirschende Geräusch, das zwischen Reifen und Schotter entsteht, der Wind, der das weite T-Shirt bläht und den Schweiß trocknet, der sich zuvor im See abspülen ließ und jetzt wieder neu fließt.




Donnerstag, 3. Juli 2014

Weil Sommer ist.




Montag, 30. Dezember 2013
Ein langer Spaziergang zum See. Dabei heimliche Wege benutzt. Jedenfalls waren sie mir bisher heimlich. Am Fluss entlang. Ein Zelt entdeckt, mit einem Tisch und einem Stuhl davor, eine Arbeitsumgebung, ein paar Gebrauchsgegenstände liegen herum oder hängen an Ästen. Den Weg, auch der Sonne, so genommen, damit diese mir lange ins Gesicht scheinen kann. Am See leuchtet Weihnachtsschmuck in den Büschen neben dem Steg, der wie immer nasse Fußspuren zeigt.


Noch kreisen die Gedanken. Werden ruhiger. Viele liegen zusammen mit den anderen auf einem Haufen Unglück. Ich empfinde eine Art zarter, neuer Freiheit.

Foto nochmal näher ran. Das bin also ich in der parallelen Kugelwelt.




Samstag, 14. Dezember 2013
Es ist so ein Ziehen und Zergeln, das von der Welt ausgeht. Ich kann gar nicht erfüllen, was die Gier verlangt. Lasst mich doch mal! Und wenn es dann doch wie ein langer ruhiger Fluss ist, das Leben, grenzt es an Langeweile. Vorhersehbare Hochzeiten, hohe Zeiten, mit einem langen o, die im ersten Moment viel versprechen, dann aber mach ich trotzdem nicht los, weil sie viel zu vorhersehbar sind.

Und so surfe ich auf Wellen, mal in ihren Tälern, die mit Weltlichem mir die Sicht nehmen, mal auf den Kämmen, in Höhen mit unendlichem Blick, der Weisheit feilbietet, als wäre das Ziel schon erreicht. Auch nur eine Ware, denn dann geht es wieder hinab in rasender Wut, und alles Proviant gleich mit, verschlungen. Dann frage ich mich auch, was ich eigentlich hier mache. Wozu der Körper, wozu ein environment, aus dem man nie herauskommt, man könnte verreisen, dort sieht es anders aus, blauer Himmel vielleicht, oder ein warmes Meer, aber der Rest ist gleich, handeln, konsumieren, in einem Körper sein, das gleiche Ziehen der Welt, das gleiche Verlangen. Es ist unmöglich, es zu vermeiden.

Aber, wenn es kaum noch zu ertragen ist – die Wende. Nach oben, auf einem meerfarbenen Sog. Wie dieser Moment mich zu beglücken vermag, nichts, was mich aufhält, und oben, oben

– ist es schön. Stille. Leichtigkeit.

Deshalb ist der Weg klar und das Ziel ebenso, weil beide eins sind, wirklich.