Viertel vor zehn abends. Dudi kann Mama nicht erreichen, sie hat diese Woche Telefondienst. Wir lassen es noch weitere Male klingeln, vielleicht ist sie ja im Keller und hängt Wäsche auf am Montag. Aber sie geht nicht ran. Ist nun der Fall eingetreten, den Nachbarn anzurufen? Anscheinend. Er ruft zurück, er könne zwar ins Haus, aber nicht in die Wohnung, Lichter seien an, die Zwischentür aber abgeschlossen, er habe mehrmals geklingelt und gerufen und nichts rührt sich. Ist nun der Fall eingetreten, die Tür einzutreten? Anscheinend. Der Nachbar weist die Feuerwehr ein, die treten einmal kurz zu und stehen wenige Sekunden später in Mamas Schlafzimmer. Die wundert sich, wieso so viele fremde Männer in ihrem Zimmer sind, ist erst aufgewacht vom Lärm an der Tür. Hoher Blutdruck und Zucker, stellen die Notmänner fest, ich bin mittlerweile schon im Taxi und fahre Richtung Heimat, kostet 144 Euro. Spreche mit dem ausführenden Mann, die kaputte Tür würden sie selbstverständlich bezahlen, er sei der Ansicht, Mama ins Krankenhaus zu bringen und durchchecken zu lassen, sie würde seltsam lallen und nicht ganz bei sich sein. Das kenne ich eigentlich nicht, und am Sonntag hatte sie noch Lauf gefegt vorm Haus, damit die Fußgänger nicht stolpern.

Bin erstmal froh, dass sie noch lebt und weise den greisen Taxifahrer an, direkt ins Klinikum zu fahren. Ich weiß nicht, wo das genau ist, irgendwo JWD, die Beschilderung ist mies und ich weine ein bisschen, gut dass wir den Stau in Bad Eilsen umfahren konnten, Nachts um 12 ein Stau, wo gibt es das schon. Geld aus dem Automaten ziehen, wie geht das nochmal? Meine Beine knicken beinah um, und der Taxifahrer wünscht mir alles erdenklich Gute. Ich hätte mit ihm einen Preis machen sollen, vielleicht so 100 Euro oder 90, jetzt isses aber auch wurst. Wo ist die Notfallaufnahme, hier um die Ecke, welche Ecke, na dort, ich weiß nicht, was sie meinen, und werde geführt, und dort auf die Klingel drücken, welche Klingel, ich sehe nichts, können Sie bitte für mich drücken?

Endlich an Mamas Bett. Eher Pritsche. Sie döst sehr seltsam. Ihr Lippen sehen so vertrocknet aus, als hätte sie gerade eine Wüste durchquert, ohne Wasser. Ich tränke sie erstmal, hat sie vergessen, ein guter Trick, um das Pinkeln zu vermeiden, das ihr Mühe bereitet. Sie ist ein wenig sauer und weiß nicht, warum sie hier ist. Die Ärztin wird bald kommen und sie erstmal durchchecken.

Und so weiter. Es ist traurig, verdammt. Ihre Urinprobe geht verloren und sie soll nochmal. Das dauert alles ewig. Auch der Bericht der Notfallärztin an die Hausärztin, ein paar Zeilen und ein paar Klicks und Kreuzchen im Formular brauchen eineinhalb Stunden. Sie stellt Mama Fragen, welcher Wochentag, welcher Monat, welches Jahr. Geburtsdatum? Sie weiß es nicht. Außerdem ist die Ärztin fremdländisch und hat einen Akzent, den Mama nicht versteht, ich wiederhole die Fragen, aber sie guckt mich bloß an und schüttelt leicht den Kopf. Wie neulich beim Optiker, Mama, lies mal die Buchstaben vor, ich sehe nichts, da oben ist eine Lampe. Ich finde die Typo auch kacke, Helvetica dreifach extended und das P sieht aus wie eine Rassel. Kein Wunder, dass die Brillen verkaufen.

Mama stellt mir seltsame Fragen, was ist das da, und ich weiß nicht genau, was sie meint, da oben die Uhr? Oder die Gitter für die Luftzufuhr? Die Laptops? Ich lasse sie schlafen, sie schaut mir in die Augen und ratzt einfach weg dabei, die Lider einen spaltbreit geöffnet. Ich glotze auf den Monitor, ihr Herz schlägt gleichmäßig und die anderen Kurven sehen auch beruhigend aus, trotzdem fürchte ich jeden Moment die Null-Linie. Sie holen sie nochmal zum CT, gottseidank kein Schlaganfall, und sonst eigentlich auch nichts Richtiges. Blutarmut. Irgendwo eine kleine Infektion. Das Hirn schrumpft, ganz normal in dem Alter. Eine leichte Demenz.

Ich will das nicht. Demenz.

Erst um halb sieben sind wir wieder zuhause, ich stecke Mama ins Bett und schlafe selbst bis neun. Ich muss doch zur Hausärztin, den Bericht vorbeibringen. Wie lange arbeitet die überhaupt? Ich sitze dann bei ihr vorm Schreibtisch, was wollen Sie jetzt von mir, fragt sie, und dann erzählt mir gleich was von Teilentmündigung und Pflegestufen. Blöde Kuh.

Mama und ich verbringen einen guten Tag, ich flöße ihr Tees ein, Vitamin C und Kräuterblut, kaufe Backfisch und Lebkuchen-Kuchen vom guten Bäcker. Sie hat einen schönen Appetit und will noch eine Birne geschält bekommen und Walnüsse geknackt. Ich dusche sie noch und öle sie ein und fahre etwas beruhigt nach Hause. Schlafe elf Stunden.

Jetzt ist Dudi bei ihr, sie muss ja immer aus der Ferne anreisen. Morgen kommt die Hausärztin und wir besprechen gemeinsam die Lage. Ich weiß auch nicht. Pflegedienst erstmal? Kommt mir alles so falsch vor, kleine Mama. Sie will das auch nicht. Es tut mir leid, dass ihr so viel Sorge um mich habt, sagt sie zu mir.





Bei einer Großtante, die einmal in einem solchen Zustand war, habe ich erlebt, dass sie Dinge und Menschen gesehen hat, die gar nicht im Zimmer waren. Zum Beispiel fragte sie immer, wer denn der Herr mit dem Zylinder neben der Tür sei. Da war aber kein Herr und auch kein Zylinder. Nach einer Weile hat sich das aber von selbst wieder gegeben. Vielleicht hat ihre Mutter auch so etwas gesehen.

Ich wünsche Ihnen und Ihrer Familie alles Gute.

Danke, liebe Trippmadam.
Ja, den Eindruck hatte ich auch, ich hab versucht, ihrem Blick zu folgen, und der ging irgendwo halbhoch an die Wand. Dort war aber nichts.

Pflegestufe muß ja kein Nachteil sein. Ich kenne mich leider in Details nicht aus, aber es gibt ja auch Möglickeiten, daß z.B. ein Pflegedienst nur morgens vorbeischaut, beim Anziehen hilft und Frühstück. Das muß nicht mal dauerhaft sein, wenn es ihrer Mutter u.U. auch wieder besser gehen sollte. Falls es die Hausärztin nicht weiß, kann sicher ein Sozialdienst beraten. Alles Gute!

Mittlerweile kann ich mir das auch vorstellen. Wir werden sehen, was wir morgen mit der Ärztin besprechen können, nachdem sie Mama gesehen hat. Sie will uns auch dabei helfen, den Dienst zu beantragen und zu organisieren.
Dass wir die Ärztin nicht mögen, ist noch ein anderes Problem, ich hatte schon vor 10 Jahren gepredigt, doch mal den Hausarzt zu wechseln, tja – ich kann so wenig machen.

Erst jetzt lese ich das. Hier ja auch solche Dinge. Ganz wichtig erscheint mir der Haus-Not-Ruf, am besten vom Roten Kreuz installieren lassen, da muss sie sich - wenn bei klarem Verstand - morgens und abends durch Tastendruck an- und abmelden, wenn das ausbleibt, dann melden die sich freundlich über Lautsprecher und im Notfall kommen dann zuerst die Nachbarn mit Schlüssel und dann das Rote Kreuz. Und wegen der Pflegestufe, hier ist das seit einem knappen Jahr so, der Pflegedienst wird finanziert, einmal morgens zum Waschen und Anziehen und Mittagessen herrichten. Mit der Option von weiteren Leistungen. Und so weiter. Wahrscheinlich haben Sie mittlerweile schon alle Auskünfte eingeholt, wenn ich mit Antworten oder Erfahrungen helfen kann, dann gerne auch telefonisch, mich findet man ja.

Alles Gute erstmal und herzlich, Schneck

Wenn ältere Menschen zu wenig trinken, kann das dazu führen, dass sie in einen etwas verwirrten Zustand geraten. Hat man Ihre Mutter denn in der Klinik an den Tropf gehängt, um sie wieder etwas aufzufüllen?

Vielleicht gibt es bei Ihnen in der Gegend die Möglichkeit, zu einer Gedächtnisambulanz zu gehen und sie mal gründlich zu testen. Dazu benötigt Ihre Mutter allerdings eine Überweisung von der Hausärztin. Außerdem muss man ein großes Blutbild mitbringen - lassen Sie auch den Vitamin D-Wert und Vitamin B12* abtesten - sowie ein MRT vom Kopf.

* Bei der Nummer bin ich mir gerade nicht mehr ganz sicher, ich habe das irgendwo aufgeschrieben, muss schauen, ob ich das noch finde.

Ja, sie hat am Tropf gehangen, und ich hatte den Eindruck, dass es ihr wieder besser ging. Da ist sicher ein großer Nährstoffmangel bei dem wenigen Essen. Das ist das Bedenkliche, dass sie nicht für sich selbst sorgen mag, dass da kein besonderer Durst mehr ist und kein Hunger, eher ekelt sie vieles, sogar das Mineralwasser, das ich ihr gegeben habe.
Es muss sie also dauernd jemand dazu bringen zu essen und zu trinken. Der ganze Selbsterhaltungstrieb funktioniert nicht mehr richtig und der Körper wird aufgegeben. (Dazu hat sie natürlich jedes Recht.)

Ich glaube, das ist für Kinder am schwersten auszuhalten: dieses Nicht-mehr-für-sich-sorgen-Wollen. (Wir Geschwister haben uns, nach langem Ärger und fruchtlosen Diskussionen, geeinigt, nicht mehr zu intervenieren. Mutter ist, nun ja, alt genug. Trotzdem immer wieder schwierig.)
Ja, alles Gute.

Ja, sie macht das ja nicht aus Trotz uns gegenüber. Da ist einfach ein alter Körper, der nicht mehr kann und will. Ich begreife das aus spiritueller Sicht ganz anders und habe Vertrauen, dass sie ihren Weg macht. (Trotzdem ist es schwer.)

Wie alt ist denn Ihre Mutter?

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Dass das Durstgefühl und Hunger im Alter nachlassen, ist normal. Meine Mutter begegnet einer Dehydrierung, indem sie sich jeden Morgen eine Kanne mit 1 1/2 Litern Kräutertee kocht, damit sie sie über den Tag verteilt austrinkt (zusätzlich zu den Getränken zu den Mahlzeiten). Sie ist vielseitig interessiert und aktiv, geht zum meditativen Tanzen und immer noch zweimal in der Woche zur Seniorengymnastik, auch wenn sie manche Übungen seit ihrer Rücken-OP nicht mehr mitmachen kann (den dritten Kurs mit der Stuhlgymnastik hat sie vor längerer Zeit geknickt, das war ihr zu wenig). Der große Vorteil ist natürlich, dass wir Töchter in derselben Stadt wohnen, inzwischen sogar wieder alle drei.

Wenn jemand allem so müde, körperlich aber eigentlich gesund ist, liegt das mitunter auch an einer unerkannte Altersdepression.

Nachtrag für Leser

Es geht wieder. Wir haben jetzt Pflegestufe beantragt und heute einen Demenztest gemacht. Hat keinen Spaß gemacht, sie wusste kaum Tiere und die Uhr konnte sie auch nicht richtig zeichnen. Sie hatte keinen Bock, sagt sie. Außerdem sei das unter ihrer Würde, sie sei schließlich Frau R. Krabbe, Gattin, Mutter und überhaupt. Ja, die feine Frau. Ich gehe aber erstmal davon aus, dass Mama als nicht pflegebedürftig eingestuft wird, dazu ist sie zu kregel. Zu plietsch. Sie kann allein aufstehen, sich waschen, anziehen, frühstücken und hat Übersicht über ihre Medikamente. Ich kenne sie allerdings gut genug, um zu sehen, dass ihre geistigen Kräfte nachlassen. Sie ringt z. B. nach bestimmten Begriffen, wenn wir dann rausfinden, welche das sind, sind es meist solche, die auch mir erstmal nicht einfallen. Geht also alles irgendwie noch. Oder ich auch dement. Übergangsweise kommt zur Zeit Schwester Hedwig am Abend, schaut nach ihr und misst Blutdruck und Zucker.
Es gibt offensichtlich noch ein anderes, zwischenmenschliches Problem. Zwischen Dudi und mir bzw. Mama. Das muss ich erst noch näher betrachten, das gefällt mir gar nicht.