Mittwoch, 12. November 2014

Ich weiß schon, warum der Bildhauer und ich die Gesteine so schön finden. Da ist das Elend schon längst vorbei, alles hinüber und nur noch Abbild.




Viertel vor zehn abends. Dudi kann Mama nicht erreichen, sie hat diese Woche Telefondienst. Wir lassen es noch weitere Male klingeln, vielleicht ist sie ja im Keller und hängt Wäsche auf am Montag. Aber sie geht nicht ran. Ist nun der Fall eingetreten, den Nachbarn anzurufen? Anscheinend. Er ruft zurück, er könne zwar ins Haus, aber nicht in die Wohnung, Lichter seien an, die Zwischentür aber abgeschlossen, er habe mehrmals geklingelt und gerufen und nichts rührt sich. Ist nun der Fall eingetreten, die Tür einzutreten? Anscheinend. Der Nachbar weist die Feuerwehr ein, die treten einmal kurz zu und stehen wenige Sekunden später in Mamas Schlafzimmer. Die wundert sich, wieso so viele fremde Männer in ihrem Zimmer sind, ist erst aufgewacht vom Lärm an der Tür. Hoher Blutdruck und Zucker, stellen die Notmänner fest, ich bin mittlerweile schon im Taxi und fahre Richtung Heimat, kostet 144 Euro. Spreche mit dem ausführenden Mann, die kaputte Tür würden sie selbstverständlich bezahlen, er sei der Ansicht, Mama ins Krankenhaus zu bringen und durchchecken zu lassen, sie würde seltsam lallen und nicht ganz bei sich sein. Das kenne ich eigentlich nicht, und am Sonntag hatte sie noch Lauf gefegt vorm Haus, damit die Fußgänger nicht stolpern.

Bin erstmal froh, dass sie noch lebt und weise den greisen Taxifahrer an, direkt ins Klinikum zu fahren. Ich weiß nicht, wo das genau ist, irgendwo JWD, die Beschilderung ist mies und ich weine ein bisschen, gut dass wir den Stau in Bad Eilsen umfahren konnten, Nachts um 12 ein Stau, wo gibt es das schon. Geld aus dem Automaten ziehen, wie geht das nochmal? Meine Beine knicken beinah um, und der Taxifahrer wünscht mir alles erdenklich Gute. Ich hätte mit ihm einen Preis machen sollen, vielleicht so 100 Euro oder 90, jetzt isses aber auch wurst. Wo ist die Notfallaufnahme, hier um die Ecke, welche Ecke, na dort, ich weiß nicht, was sie meinen, und werde geführt, und dort auf die Klingel drücken, welche Klingel, ich sehe nichts, können Sie bitte für mich drücken?

Endlich an Mamas Bett. Eher Pritsche. Sie döst sehr seltsam. Ihr Lippen sehen so vertrocknet aus, als hätte sie gerade eine Wüste durchquert, ohne Wasser. Ich tränke sie erstmal, hat sie vergessen, ein guter Trick, um das Pinkeln zu vermeiden, das ihr Mühe bereitet. Sie ist ein wenig sauer und weiß nicht, warum sie hier ist. Die Ärztin wird bald kommen und sie erstmal durchchecken.

Und so weiter. Es ist traurig, verdammt. Ihre Urinprobe geht verloren und sie soll nochmal. Das dauert alles ewig. Auch der Bericht der Notfallärztin an die Hausärztin, ein paar Zeilen und ein paar Klicks und Kreuzchen im Formular brauchen eineinhalb Stunden. Sie stellt Mama Fragen, welcher Wochentag, welcher Monat, welches Jahr. Geburtsdatum? Sie weiß es nicht. Außerdem ist die Ärztin fremdländisch und hat einen Akzent, den Mama nicht versteht, ich wiederhole die Fragen, aber sie guckt mich bloß an und schüttelt leicht den Kopf. Wie neulich beim Optiker, Mama, lies mal die Buchstaben vor, ich sehe nichts, da oben ist eine Lampe. Ich finde die Typo auch kacke, Helvetica dreifach extended und das P sieht aus wie eine Rassel. Kein Wunder, dass die Brillen verkaufen.

Mama stellt mir seltsame Fragen, was ist das da, und ich weiß nicht genau, was sie meint, da oben die Uhr? Oder die Gitter für die Luftzufuhr? Die Laptops? Ich lasse sie schlafen, sie schaut mir in die Augen und ratzt einfach weg dabei, die Lider einen spaltbreit geöffnet. Ich glotze auf den Monitor, ihr Herz schlägt gleichmäßig und die anderen Kurven sehen auch beruhigend aus, trotzdem fürchte ich jeden Moment die Null-Linie. Sie holen sie nochmal zum CT, gottseidank kein Schlaganfall, und sonst eigentlich auch nichts Richtiges. Blutarmut. Irgendwo eine kleine Infektion. Das Hirn schrumpft, ganz normal in dem Alter. Eine leichte Demenz.

Ich will das nicht. Demenz.

Erst um halb sieben sind wir wieder zuhause, ich stecke Mama ins Bett und schlafe selbst bis neun. Ich muss doch zur Hausärztin, den Bericht vorbeibringen. Wie lange arbeitet die überhaupt? Ich sitze dann bei ihr vorm Schreibtisch, was wollen Sie jetzt von mir, fragt sie, und dann erzählt mir gleich was von Teilentmündigung und Pflegestufen. Blöde Kuh.

Mama und ich verbringen einen guten Tag, ich flöße ihr Tees ein, Vitamin C und Kräuterblut, kaufe Backfisch und Lebkuchen-Kuchen vom guten Bäcker. Sie hat einen schönen Appetit und will noch eine Birne geschält bekommen und Walnüsse geknackt. Ich dusche sie noch und öle sie ein und fahre etwas beruhigt nach Hause. Schlafe elf Stunden.

Jetzt ist Dudi bei ihr, sie muss ja immer aus der Ferne anreisen. Morgen kommt die Hausärztin und wir besprechen gemeinsam die Lage. Ich weiß auch nicht. Pflegedienst erstmal? Kommt mir alles so falsch vor, kleine Mama. Sie will das auch nicht. Es tut mir leid, dass ihr so viel Sorge um mich habt, sagt sie zu mir.