Samstag, 31. August 2019
Habe die Puppe von Mama dabei, sie ist mit roter Marmelade bekleckert und ich will sie waschen. Ivonne, so nennt Mama sie, guckt mit dem Kopf oben aus der für sie zu kleinen Tasche, die braunen Wollhaare wehen im Wind, als ich mit dem Rad vom Heim zum nahen Ausstellungsort fahre, um bei der Busenfreundin Kunst-Objekt haltzumachen und Geselligkeit zu erleben, meine Tasche mit Ivonne lege ich auf die Steinplatten, die die Busenfreundin kunsthalber verlegt hat, der, um jetzt den Bogen zu unserem Streit zu schlagen, als Gedächtnisort, letztlich der ihrer toten Mutter installiert ist. An den Bäumen die Hängematten, in denen schon die Freunde rumhängen. Man soll, so ihr Konzept, aus der entspannten Haltung heraus das Paradies ihrer verlorenen Kindheit kontemplieren, das durch die Steinplatten aus dem elterlichen Garten und einem dort ausgegrabenen Farn dargestellt wird. Sei's drum, heute aber soll hier getrunken werden und das Ensemble gefeiert.

S. fragt nach dem Tascheninhalt, aus dem Ivonnes Haare wallen und ich erkläre das Entstehen von Ivonne, die ich als Demenzpuppe für Mama handgearbeitet habe und darüber gibt es interessierte Gesprächsmöglichkeit im Kreis. Das ruft die Busenfreundin auf den Plan, die es ekelig findet, die Puppe jetzt hier beim Essen (es gibt Brot, Käse und Oliven, auf Ivonne ist bloß Konfitüre) vorzuzeigen, sie sei da etwas empfindlich wegen ihrer Mutter. Ich kann das alles vestehen und S. steckt Ivonne zurück in meine Tasche, die ich wieder auf die Steinplatten lege. Indes der neue, überaus niedliche Cocker-Spaniel von S. ebenfalls Aufmerksamkeit erregt, die Busenfreundin blökt S. an, sie solle ihn nicht zu nah an die Nahrungsmittel lassen, die auf dem Boden liegen, das sei ekelig.

Ein Tag voller Ekel. Die Busenfreundin keift und zankt, stellt einige Details der Ausstellungsprobleme mit den Kollegen falsch dar, bei denen sie bei Richtigstellung ziemlich schlecht wegkommen würde. Und H. solle nicht so unsexy in der Matte liegen, er hatte sich aber das Knie schmerzlich verdreht und jeden Grund unsexy zu sein. Vor den anderen, die H. nicht kennen, breitet sie aus, dass sie mal ein Paar waren, was wiederum S., die jetzige Freundin von H., sowieso nicht hören mag, es ist eine echt schlimme Situation, die sicherlich nicht nur von mir so empfunden wird. Ich blicke betreten vor mich hin und sage nichts. Und sie dann weiter: im Übrigen solle ich meine Tasche wonders hinlegen und nicht an diesen heiligen Ort (der Bodenplatten, wahrscheinlich Sandstein aus Kirchbrak). Mir bricht vollends das Herz, ich stehe in der selben Sekunde auf und mit einem Zeit für mich zu gehen nehme ich die Tasche, ich will noch zum Bildhauer, dessen Ausstellung gleich beginnt, S. schaut mich an und berührt meinen Arm, und dann stapfe ich über die Wiese davon.

Ich will die Busenfreundin nicht mehr sehen, geht es mir immer wieder durch den Kopf, während ich mit dem Rad und Ivonne, die aus der Tasche schaut, zum Bildhauer fahre. Nie/nie mehr. Ich weiß das alles, ich weiß, wie sie sich fühlt, tote Mutter, Messihaushalt, ich befürchte, sie trinkt auch viel, alles echt furchtbar. Aber sie weiß nicht, wie ich mich fühle und setzt ihr Leid über das aller anderen. Ich weiß, dass sie mir die Intimität, die Zärtlichkeit, die ich mit Mama habe, stets geneidet hat, weil sie gleiches mit ihrer Mutter als eklig empfand. In ihren Augen konkurrieren unsere Mütter, begreife ich. Ich weiß, dass sie mir jede Aufmerksamkeit neidet, die ich anstatt ihrer bekomme. -- Und nun macht sich alles an der armen Ivonne fest, die mittlerweile in Olivenseife gebadet ist und auf der Fensterbank trocknet. Ich bin so traurig, ich könnte heulen.




Freitag, 15. Juli 2016
Und weil die Buddhistin und ich überhaupt nicht im Training sind, fühlen wir uns nach je eineinhalb Gläsern feinstem Rotwein aus Portugal als hätten wir ordentlich einen im Kahn. Sie hat ihr Fernstudium mit 2 abgeschlossen, ein Anlass zur Freude, und auch zum Grundsatzcheck des Geistes, der ja immer so mitläuft, als wäre er ebenfalls besoffen. Wir haben viel zu reden, am schönsten sind die Phasen, in denen wir uns mit unseren Eltern versöhnt fühlen. Ich erzähle von der kleinen Mutter, wie immer mit großer Rührung, wir kramen unserer Mütter Erinnerungen aus, wie jung sie waren, und wie toll die Kerle, mit denen sie irgendwie gezwungenermaßen eine Familie gegründet haben. Der Wein macht, dass wir ihre Beweggründe er- äh, gründen, und wir halten unsere Hände und postulieren, dass man sich auch liebhaben kann, ohne sich sexuell zu vereinen und so weiter, es ist alles so ganz wunderbar und so muss es auch nach dem zweiten gut eingegossenen Getränk sein, wir kommen doch wohl je auf 350 ml, was ja zusammen schon fast eine ganze Flasche macht und so, und morgen trinken wir zum Frühstück je zwei Ramazotti, was wir noch nie gemacht haben, weil wir je zwei schwierige Gespräche vor uns haben, ich über das Ende meiner diakonischen Beziehung und sie über zu leistende Wochenstunden. Ich habe mit den Teilnehmerinnen ein verdammt cooles Alphabet, auch genannt Font, aus Kartoffeln zusammengeschnitzt, jeder sollte übrigens ein eigenes Alphabet haben, vielleicht eines aus den Gesten des Lehrers der Buddhistin und nicht bloß aus Kartoffeln, das wären dann die höheren Weihen.
the quick brown fox jumps over the lazy dog
Wo auch sonst rüber?

Morgen werde ich die kleine Mutter nach Papa ausfragen und wie sie sich kennengelernt haben, vielleicht erinnert sie sich ja noch. Jegliche Konzepte von Ehe und so sind ihr schon in Vergessenheit geraten und mit der Buddhistin bewundere ich die Schönheit der sogenannten Krankheit Demenz. Ganz im Hier und Jetzt, das wollen wir doch alle, oder?




Freitag, 9. Januar 2015
Jetzt haben alle wieder Meinung und platzieren Grafiken und Sachen auf sämtlichen Profilen. Ich frage mich, wie Wahrheit überhaupt praktiziert werden kann, ungefärbt von Propaganda und verschwurbelten Berichten. Was bedeutet die persönliche Meinung überhaupt noch in einem von Massenmedien beherrschten Leben? Ich weiß nicht. Es ist mir beinahe peinlich, wie schnell eine markante Wortmarke zur Hand ist, die nun wie ein Wimpel zur Fußball-WM vertausendfacht im Wind steht. Schreckliches passiert (dauernd), und wir sollten gefälligst genau hinschauen, in wessen Namen eigentlich.

Hier sehen Sie ein Foto, das voll und ganz meiner persönlichen Meinung entspricht. Und?




Mittwoch, 12. November 2014
Viertel vor zehn abends. Dudi kann Mama nicht erreichen, sie hat diese Woche Telefondienst. Wir lassen es noch weitere Male klingeln, vielleicht ist sie ja im Keller und hängt Wäsche auf am Montag. Aber sie geht nicht ran. Ist nun der Fall eingetreten, den Nachbarn anzurufen? Anscheinend. Er ruft zurück, er könne zwar ins Haus, aber nicht in die Wohnung, Lichter seien an, die Zwischentür aber abgeschlossen, er habe mehrmals geklingelt und gerufen und nichts rührt sich. Ist nun der Fall eingetreten, die Tür einzutreten? Anscheinend. Der Nachbar weist die Feuerwehr ein, die treten einmal kurz zu und stehen wenige Sekunden später in Mamas Schlafzimmer. Die wundert sich, wieso so viele fremde Männer in ihrem Zimmer sind, ist erst aufgewacht vom Lärm an der Tür. Hoher Blutdruck und Zucker, stellen die Notmänner fest, ich bin mittlerweile schon im Taxi und fahre Richtung Heimat, kostet 144 Euro. Spreche mit dem ausführenden Mann, die kaputte Tür würden sie selbstverständlich bezahlen, er sei der Ansicht, Mama ins Krankenhaus zu bringen und durchchecken zu lassen, sie würde seltsam lallen und nicht ganz bei sich sein. Das kenne ich eigentlich nicht, und am Sonntag hatte sie noch Lauf gefegt vorm Haus, damit die Fußgänger nicht stolpern.

Bin erstmal froh, dass sie noch lebt und weise den greisen Taxifahrer an, direkt ins Klinikum zu fahren. Ich weiß nicht, wo das genau ist, irgendwo JWD, die Beschilderung ist mies und ich weine ein bisschen, gut dass wir den Stau in Bad Eilsen umfahren konnten, Nachts um 12 ein Stau, wo gibt es das schon. Geld aus dem Automaten ziehen, wie geht das nochmal? Meine Beine knicken beinah um, und der Taxifahrer wünscht mir alles erdenklich Gute. Ich hätte mit ihm einen Preis machen sollen, vielleicht so 100 Euro oder 90, jetzt isses aber auch wurst. Wo ist die Notfallaufnahme, hier um die Ecke, welche Ecke, na dort, ich weiß nicht, was sie meinen, und werde geführt, und dort auf die Klingel drücken, welche Klingel, ich sehe nichts, können Sie bitte für mich drücken?

Endlich an Mamas Bett. Eher Pritsche. Sie döst sehr seltsam. Ihr Lippen sehen so vertrocknet aus, als hätte sie gerade eine Wüste durchquert, ohne Wasser. Ich tränke sie erstmal, hat sie vergessen, ein guter Trick, um das Pinkeln zu vermeiden, das ihr Mühe bereitet. Sie ist ein wenig sauer und weiß nicht, warum sie hier ist. Die Ärztin wird bald kommen und sie erstmal durchchecken.

Und so weiter. Es ist traurig, verdammt. Ihre Urinprobe geht verloren und sie soll nochmal. Das dauert alles ewig. Auch der Bericht der Notfallärztin an die Hausärztin, ein paar Zeilen und ein paar Klicks und Kreuzchen im Formular brauchen eineinhalb Stunden. Sie stellt Mama Fragen, welcher Wochentag, welcher Monat, welches Jahr. Geburtsdatum? Sie weiß es nicht. Außerdem ist die Ärztin fremdländisch und hat einen Akzent, den Mama nicht versteht, ich wiederhole die Fragen, aber sie guckt mich bloß an und schüttelt leicht den Kopf. Wie neulich beim Optiker, Mama, lies mal die Buchstaben vor, ich sehe nichts, da oben ist eine Lampe. Ich finde die Typo auch kacke, Helvetica dreifach extended und das P sieht aus wie eine Rassel. Kein Wunder, dass die Brillen verkaufen.

Mama stellt mir seltsame Fragen, was ist das da, und ich weiß nicht genau, was sie meint, da oben die Uhr? Oder die Gitter für die Luftzufuhr? Die Laptops? Ich lasse sie schlafen, sie schaut mir in die Augen und ratzt einfach weg dabei, die Lider einen spaltbreit geöffnet. Ich glotze auf den Monitor, ihr Herz schlägt gleichmäßig und die anderen Kurven sehen auch beruhigend aus, trotzdem fürchte ich jeden Moment die Null-Linie. Sie holen sie nochmal zum CT, gottseidank kein Schlaganfall, und sonst eigentlich auch nichts Richtiges. Blutarmut. Irgendwo eine kleine Infektion. Das Hirn schrumpft, ganz normal in dem Alter. Eine leichte Demenz.

Ich will das nicht. Demenz.

Erst um halb sieben sind wir wieder zuhause, ich stecke Mama ins Bett und schlafe selbst bis neun. Ich muss doch zur Hausärztin, den Bericht vorbeibringen. Wie lange arbeitet die überhaupt? Ich sitze dann bei ihr vorm Schreibtisch, was wollen Sie jetzt von mir, fragt sie, und dann erzählt mir gleich was von Teilentmündigung und Pflegestufen. Blöde Kuh.

Mama und ich verbringen einen guten Tag, ich flöße ihr Tees ein, Vitamin C und Kräuterblut, kaufe Backfisch und Lebkuchen-Kuchen vom guten Bäcker. Sie hat einen schönen Appetit und will noch eine Birne geschält bekommen und Walnüsse geknackt. Ich dusche sie noch und öle sie ein und fahre etwas beruhigt nach Hause. Schlafe elf Stunden.

Jetzt ist Dudi bei ihr, sie muss ja immer aus der Ferne anreisen. Morgen kommt die Hausärztin und wir besprechen gemeinsam die Lage. Ich weiß auch nicht. Pflegedienst erstmal? Kommt mir alles so falsch vor, kleine Mama. Sie will das auch nicht. Es tut mir leid, dass ihr so viel Sorge um mich habt, sagt sie zu mir.




Donnerstag, 4. September 2014
Hin und hergerissen zwischen den Möglichkeiten, die ein so schöner Sonnentag mir bietet. Raus in die Natur, oder am Fenster sitzen und der Sonne nachschauen. Dieser Sommer war (und ist noch) schön mit seinen imposanten Wolkenbergen und ich hatte kaum das Gefühl, das Wetter sei schlecht, auch wenn es geregnet hatte. Der See hat sich durch die klammen Nächte schon abgekühlt, ein längeres Bad ist nicht mehr so angenehm.

Gestern hatte ich mich wie ein krankes Kind von der Welt zurückziehen müssen. Nicht so sehr körperlich, eher mental. In solchen Fällen lese ich meine Jugendbücher über Indianer oder die Steinzeit, über die heilen Welten, die sich zwischen den Kriegen versteckt halten. Sollen sie doch kämpfen, und ja, es sind alles junge Männer, die sich gegenseitig metzeln, die haben noch Feuer, aber ich frage mich, ob sie die Hintergründe ihres Handelns überhaupt begreifen. Sicherlich nicht.

Gerade ruft Swami (TS) an und wir reden eine Weile über das Unrecht in der Welt, wie es aus der Unwissenheit entsteht, und die Unwissenheit wiederum in verschiedene Arten unterteilt wird, es ist das alte yogische Wissen, das uns Verständnis unserer selbst gibt. Es tröstet, lässt uns aber auch einsehen, dass wir nur begrenzte Mittel haben, weltweitem Leid ein Ende zu bereiten. Wir müssen bei uns selbst beginnen. Dass Kulturen aufblühen und untergehen, warum sollte es diesmal anders sein.

Durch das Gespräch mit Swami fällt einiges wieder ins Gleichgewicht, was mir in den letzten Tagen aus dem Lot geraten schien.




Freitag, 20. Juni 2014
Wie schlecht und böse die Welt ist! Ich bin erschöpft von den Fotografien, Wand um Wand, Meile um Meile, drinnen und draußen, Bilder mit Krieg, mit Drogen, Feuer und Toten, mit Kranken, Verkrüppelten, Ausgebeuteten, Unglücklichen, beraubtem Land, Armut, und Seuche. Kaum etwas Erfreuliches. Man bekommt endgültig den Eindruck, die Welt sei ein Jammertal, wenn nicht gar die Hölle, aus der es kein Entrinnen gibt. Das Lumix Festival auf dem ehemaligen Expo-Gelände zeigt fotografische Serien von 60 jungen Fotojournalisten aus vielen Ländern.

14 Jahre später und auch wenig erfreulich: Der Holländische Pavillon auf dem ehemaligen Expo-Gelände

Vielleicht weiß einzig das Entsetzliche noch wirklich zu interessieren – zu verkaufen, eigentlich – denn auch das in tausenden von Bildern gezeigte Leid wirkt hier bloß wie eine Ware und ich bin die Betrachterin, eigentlich die Konsumentin, deren Urteil bzw. Bestürzung gefragt ist, aber ich frage mich, geht es hier um die Qualität der Fotos, die Grobheit des Gezeigten oder gar die außerordentliche Kühnheit der FotografInnen?

Das Schöne fehlt. Die Welt ist doch schön, oder? Welche Aufgabe hätte ein Fotojournalist meiner Vorstellung? Das Schöne finden, die Perle. Man könnte einwerfen, dass viele der Bilder schön sind, im fotografischen Sinn: Bildaufbau, Farben, Kontraste, technische Ausführung. Natürlich, alles da. Also schöne Fotos von unschönen Begebenheiten.

Wie Taucher stundenlang im Schlamm herumwühlen, um Goldbrösel zu finden, die vier Euro am Tag bringen und die Gesundheit runinieren mit dem Quecksilber, das zum Auswaschen des Metalls benutzt wird. "Krokodil"-Abhängige mit vergammelten Körpern in vergammelten Behausungen in s/w, ausdrucksstarke Bilder von ehelicher Gewalt (wieso hat die Fotografin nicht eingegriffen?), in bunte Tracht gekleidete guatemaltekische Frauen vor ausgehobenen Massengräbern, hübsche Menschen in wasserarmen Gebieten, die für einen Eimer braunes Wasser Stunden gehen müssen, Kinderschönheitswettbewerbe mit Zweijährigen in Amerika, Straßenkinder in Berlin. Ein Hauch eingebildeter Freude nur durch Alkohol, Drogen, Konsum, Prostitution, Macht.

All das. Was Menschen zu verantworten haben, endet oft hässlich. Hätte gern ein anderes Fazit.

http://www.fotofestival-hannover.de/
Noch bis Sonntag, auch mit Livestreams der Vorträge von Fotografen. Weiter unten auf der Startseite ein Überblick über die 60 Ausstellungen.




Samstag, 4. Januar 2014
Wer kennt sie, oder kennt sie nicht, die Geschichten über die großen Yogis, ihre geheimen Kräfte (siddhis) und ihre jesus-like-en Wundertaten? Allerdings gibt es nur wenige echte Zeugen und auch deren Berichte sind für Außenstehende kaum glaubwürdig. Das wenige, dessen ich Zeugin war, ist nicht besonders spektakulär, keine fliegenden Menschen, keine Flammenbündel in Handflächen, kein Wasser zu Wein. Ich sehe nur meinen Lehrer, den ich für den liebevollsten, feinsinngsten und wahrsten Menschen halte, den es geben kann. Er ist mir Vater und Mutter zugleich, wo meine Eltern ohnmächtig waren, ist mir Vertrauter und geliebter Freund, der mich am besten kennt. Durch seine Anwesenheit kann ich mich selbst erkennen als reines Wesen.

Seine (körperliche) Verfassung, im Gegensatz zu seiner geistigen, ist seit Jahrzehnten schwächlich. Er habe nachlässig und zu spät die Übungen seines Meisters befolgt, da war der Körper schon unwiederbringlich geschädigt. Ärzten zufolge müsste er schon seit 20 Jahren tot sein, aber er versichert, dass die Kraft seines Meisters ihn am Leben erhält, damit er seine Mission erfüllen kann, die an das bodhisattva-Gelübde geknüpft erst beendet ist, wenn alle Wesen vom Leid befreit sind. Das kann noch dauern, wenn man sich die Welt so anschaut.

Zwecks Lebensverlängerung hatte sich der Meister meines Lehrers einen neuen Körper genommen, angeblich nicht nur einmal. Dazu wird der alte, verbrauchte durch einen anderen, gesünderen ersetzt, das kann jemand gerade Gestorbenes sein, der durch den Eintritt der feinstofflichen Energie-Hüllen, den koshas, wiederbelebt wird. Sowas kann man in Yoganandas Autobiografie eines Yogi nachlesen, es kommt nicht häufig vor, aber das alte heilige Wissen, shri vidya, beschreibt, dass und wie es geht.

Im ganzheitlichen Krankenhaus im Norden Indiens, das der Meister meines Lehrers gegründet hatte, gibt es ein paar Räume, die ihm gewidmet sind. Das Zimmer, in dem er seinen Körper 1995 verlassen hat, z. B., vibriert noch vor Leben, oder die Galerie mit vielen Fotografien des Erleuchteten, der am spirituellen ebenso wie am weltlichen Leben größte Freude gehabt hat. So sieht man ihn Tennis spielen, mit den Kindern scherzen oder an Festmahlzeiten mit bekannten Persönlichkeiten aus aller Welt teilnehmen und viel und sicherlich sehr laut lachen. Ich aber finde die Fotos am beeindruckendsten, die ihn in den zwanziger Jahren zeigen. In der chonologisch angeordneten Serie sieht man hier noch einen älteren Herrn, dann ein paar unscharfe Fotos eines in eine Decke gehüllten Mannes mit Bart und verschwiemelten Augen. Die Bildunterschriften besagen, dass der Meister zurück sei aus dem Himalaya, wohin er sich eine zeitlang zurückgezogen hatte. Alle darauf folgenden Fotografien zeigen einen erstaunlich verjüngten, schönen Mann mit großen Augen, runden Brauen und sinnlichen Lippen. Mir lief ein Schauer über den Rücken.

Das bewusste Verlassen des nutzlos gewordenen Körpers wird von fortgeschrittenen Yogis praktiziert, da wird nicht einfach so aus Versehen gestorben, sondern ist vorausbestimmter Teil des Lebensplanes, so wie die Geburt in ausgewählten Körpern mit einem frühen Erinnern an vergangene Leben ohne Verlust des in anderen Leben angeeigneten Wissens. Der Lehrer ruft seine Schüler zusammen, damit sie Zeugen seines mahasamadhis werden – ein deutliches Knackgeräusch in der Schädeldecke begleitet das willentliche Öffnen der Fontanelle, durch die der feinstoffliche sich vom festen Körper löst, der daraufhin seine Funktionen einstellt.

Dass die Meister sich hernach den Schülern in ihren feinstofflichen Körpern zeigen und ihre Belehrungen weiter gehen, ist anscheinend Gang und Gäbe. Ich selbst war keine Zeugin, aber ich habe mir von Zeugen davon erzählen lassen. Ob dieses alles für den Leser dadurch glaubwürdiger wird, muss mir erstmal egal sein, darum geht es hier nicht.

Wie ich vor ein paar Tagen hörte, ist die Gesundheit meines Lehrers so labil, dass er nun in einem Krankenhaus weilt. Er sei öfters ohnmächtig geworden und hätte Atemprobleme. Und es stimmt mich froh, dass die Ärtze, natürlich, nichts richtiges finden können, es sei jedenfalls eine Anzahl von ihnen mit Untersuchungen beschäftigt. Die anderen Diagnosen, die im Laufe der Jahre gestellt wurden, haben ja auch nichts bedeutet – der Körper funktioniert in genau der Weise, dass er dem Geist (noch) dienen kann. Alles andere ist sowieso Sache eines (geheimen) Wissens, von dem wir nichts verstehen (wollen).

Ich schwanke zwischen Betrübnis und großer Freude und weiß mich nicht richtig einzupendeln. Er sagt, er hätte noch nicht die Kunst des Sterbens erlangt, so wie sie sein Meister beherrscht hat. Ich frage mich, ob das bedeutet, dass er seinen Körper nicht willentlich ablegen werden kann, und was das dann wiederum bedeutet. Aber das sind bloß Feinheiten. Jedenfalls gehen täglich Genesungswünsche ein (online), und die unterscheiden sich deutlich von denen, die an unseren Fahrprofi gehen. Sie sind vollkommen frei von Angst oder Trauer. Sondern voller Dankbarkeit, und die Hoffnung, die darin zum Ausdruck kommt, bezieht sich auf weitaus größere Welten.




Samstag, 14. Dezember 2013
Hier ist eins. Läuse auf den restlichen Ringelblumen, ein Trauerspiel.




Donnerstag, 5. Dezember 2013
Bestimmten Themen kann ich mich nur gefühlsmäßig nähern. Da machen dann Argumente und Zahlen keinen Sinn, die ich dann sowieso nicht verstehe oder zum Beispiel derart, dass Gegenargumente zu Frau Schwarzers Texten für mich wie Pro-Argumente zum Körperverkauf klingen. Woraufhin ich sofort das Interesse an einer so geführten Auseinandersetzung verliere. Aber gären tut es trotzdem.

Dass Sex etwas Heiliges sei, wie die östlichen Lehren weise sagen, und die Körper die Tempel unserer Seelen. Dass körperliche Freude nicht käuflich sein kann, sondern ein Geschenk sei und eine Gnade. Wo allein schon der Besitz eines Körpers und ihn zu bewohnen Freude ist und Gnade.

Meine eigenen Erfahrungen bestehen aus Beidem, aus dem puren Glück, das Körperlichkeit bringen kann, aber auch aus jenem Austausch des erwarteten Gutes (denn Erwartungen haben wir immer, sonst würden wir gar nicht handeln) zwischen zwei Personen, der tatsächlich einem Handel gleichkommt – nicht mit Geld, aber trotzdem bezahlt. Aufmerksamkeit, Lust, Hingabe, Nähe, Geborgenheit sind schöne Attribute der Ware; Sorge, Begierde, Angst, Konfusion, Verzweiflung ihre unangenehmen Begleiter. Liebe is' was anderes.

"Darüber die schnöde Sexobjekthaftigkeit der ganzen verdammten Welt erkannt, und gestaunt." Hier zitiere ich mich selbst. Ich könnte das jetzt noch ausführen, aber lasse es damit gut sein. Ich weiß ja, was ich meine.




Donnerstag, 7. November 2013
Auf dem Gelände ist nach 100 Jahren Bauzeit nun Ruhe eingekehrt. Die Familien sind in ihre großzügig geschnittenen Lofts gezogen und von hier, wo wir unser täglich Brot erarbeiten, können wir durch ihre Südostvollverglasungen sehen, was sie so machen. Tagsüber machen sie nichts, denn sie sind gar nicht da, weil sie nämlich ebenfalls arbeiten müssen. Auf dem Hof wurden Bäume gepflanzt, Laternen installiert und Bänke aufgestellt, es gibt ein paar kleinere Rasenflächen und drüben eine Art Loungelandschaft aus Holz. Gestern konnte man eine Fotografin beobachten, die eines der Lofts im Erdgeschoss ausgiebig ablichtete, dazu war drinnen alles an Leuchtmitteln angeschaltet, was Deckenstrahler und … ach, ich weiß jetzt nicht, welche Namen teures Gelamp trägt, aber sicherlich ist alles vom Feinsten. Beim Vorbeigehen erblickte ich Parkettfußboden, Küchenzeilen und sehr gerade glatte Wände. Glatte Wände habe ich daheim ja nicht, aber was mich wirklich neidisch macht, ist Parkettfußboden. Ich hätte gern Parkettfußboden und dann würde ich endgültig alle meine Möbel verkaufen, damit möglichst viel davon zu sehen wäre.

Dieser Text heute führt zu nichts, aber so sind nun meine Gedanken. Neid und Geiz bzw. Gier. Denn ebenfalls denke ich darüber nach, dass ich für einen Bittstellerjob nicht geschaffen bin. Ich habe einen schönen großen Pflanzen-Fotokalender gestaltet und 60 Stück davon drucken lassen, und sehe mich nun vor der Aufgabe, die Menschen davon in Kenntnis zu setzen, damit Sie mir eines dieser Freude verbreitenden Objekte für 19,90 abkaufen – wenn Sie also wollen …? Der kleinliche Persönlichkeitsanteil grübelt nachts darüber nach, ob das eine sinnvolle Investition war, oder bloß eine bescheuerte Idee, der andere Teil glaubt daran, dass alles so seine Richtigkeit hat, ist an Zahlen (Geld) nicht interessiert und praktiziert Karmayoga: Am besten alle Kalender verschenken. Und? Hat doch Spaß gemacht! Spaß für 450 EUR netto, kleinlicht die andere Seite. Dann geh ich lieber noch sechsmal zur zweistündigen Ganzkörper-Massage, blabla und so weiter.

Für eine Einkommens- und Verbrauchsstichprobe habe ich mich beim Statistischen Bundesamt verpflichtet und führe nun Buch über meine Ausgaben. Ich finde es wichtig, dass wir armen selbstständigen Kreativen darin auftauchen. Alkohol 4,80 im September, ein Bier vom Kiosk und ein Glas Rotwein mit der Buddhistin. Aber im Café Frühstücken mit der Leserin oder allein schlägt mit über 100 Euro zu Buche, meine Güte, genausoviel wie die Einkäufe im Bioladen.

Da ist es gut, dass ich mir meine Klamotten jetzt selbst stricke, die Wolle für einen Pullover hat 20 Euro gekostet, die emsigen Arbeitsstunden natürlich nicht mitgerechnet. Bei meinem normalen Stundensatz müsste so ein Kleidungsstück über 1.000 Euro kosten. Ich glaube nicht, dass ich potentielle Kunden von diesem Preis überzeugen könnte. Vielleicht sollte ich aber mal gegenüber in den Lofts fragen. Ist ein Unikat, ihr wisst schon. Euer Fußboden hat mindestens das Zehnfache gekostet.