Donnerstag, 27. Januar 2022
Die Schlagzeugerin und ich brüten über unseren jeweiligen Handarbeiten. Während sie Pailletten auf ihre selbstgestrickte Mütze näht, beschäftige ich mit dem Säumen von Dudis Jacke, schlechthin ein unerkanntes Meisterwerk, dessen Schwierigkeitsgrad noch nicht zu erahnen war, als sie nach einem einfachen Pulli aus Quadraten fragte. Der nun eine Jacke ist. Und einen Rand benötigt. Und Knöpfe. Evtl. mit einer Leiste. Ach ja, Bündchen auch noch.

Die Schlagzeugerin und ich hatten uns aus den Augen verloren. In der Band war ich nicht mehr, geplante oder zufällige Treffen gab es nur noch im Bioladen, in dem sie damals arbeitete. Ich hätte gerne Brötchen. Im Herbst lud sie mich, seit dem vorletzten Dekadenwechsel das erste Mal, zu ihrer Geburtstagsfeier. Ich wollte keinen Test machen und auch nicht beim Tortenessen oder Tanzen über das Thema reden müssen, so sagte ich ab, schlug aber ein baldiges Zweiertreffen vor. Und jetzt haben wir unser drittes Handarbeitsgruppenpaartreffen und nennen uns Mottenkäfer.

Ein berührender Moment, als sie zur Gitarre greift und mir eines ihrer berühmten Zwei-Akkorde-Lieder vorspielt. Mit lebendiger Stimme singt. Sie ist ein seltsamer Mensch. Sagt offen, sie sei eine Säuferin und näht sich blinkende Pailletten auf die Mütze. Wegen ihr hatte ich begonnen, Songs zu schreiben. Sie hat mir die ausgefallensten Bands vorgestellt. Ich fühle mich von ihr vollständig angenommen und auch ich habe sie ohne Wenn und Aber in mein Herz gelassen. Ihr Refugium unterm Giebel nennt sie Nähstübchen. Sie gibt jeder Gruppe, der sie angehört, einen Namen. Sie will nicht mit dem Saufen aufhören, sagt sie, denn es gäbe keinen Grund.




Donnerstag, 16. April 2020
Ostersonntag reiche ich ein paar Aufmerksamkeiten fürs Mütterlein zum Fenster hinein. Es scheint allen soweit gutzugehen, den Bewohnern, dem Kollegium, das guten Mutes sei, wie man mir versichert. Auf dem Weg zurück fahre ich an der Gemeindekirche vorbei, deren Pastorin auch regelmäßig Andachten im Heim hält. Draußen auf dem gepflasterten und mit einer Buchenhecke umrahmten Hof hat sich eine Gruppe Menschen versammelt, Gesang ist zu hören. Mir ist so sehr nach Geselligkeit, dass ich nicht zögere, mein Rad zu stoppen, es an der Hecke anzulehnen und mich den ca. 30 Betenden und Singenden anzuschließen. Pastorin A., weiß gekleidet, liest die Ostergeschichte, eine vierköpfige Kapelle spielt das Kyrieeleison, wir beten das Vaterunser, lächeln uns zu und nach all diesen Tagen geht endlich mein Herz auf – die Freude in dieser kleinen, subversiven Gesellschaft ist so sehr zu spüren. Wir bekommen Segen und Osterglocken mit und eine Grußkarte, die ich daheim am Küchenaltar platziere.

Wie die Natur im Frühling aufgeht, empfinde ich dieses Jahr besonders überwältigend. Trotz der bangen Gedanken, die von hier nach da schwingen, vermag ich den Wald und all die versteckten Orte, die der Bildhauer und ich kennen und aufsuchen, doch zu genießen. Nach einer tränenreichen Aussprache haben wir uns versichert, den Gemeinsamkeiten zu folgen und nicht dem, was uns trennen könnte. Wir sammeln Brennesseln, Gundelrebe und Lungenkraut im Wald, sehen einen Hasen vor uns aufspringen, in der Ferne eine Gruppe von acht, neun Rehen – die hatte ich vor einzwei Wochen schon beobachten und fotografieren können. Auch in der Nähe der Stadt gibt es Wege, die wir neu finden, einen Trampelpfad direkt am Bach, durch urwaldiges Gelände, heimelig, vorsichtig. Plötzlich springt mich etwas großes Dunkles an, leise ohne Stimme, es ist wohl kaum der Biber, der derart um mich herum fliegt, dass ich mich drehe und wende und doch läuft er meinem Blick fort. Dann sehe ich den Hund, ferner, den ich im Wald allein sicherlich für einen Wolf (endlich!) gehalten hätte, schmal, mit langen Beinen und braungrauem Fell.

Gestern hatte das Mütterlein den 89. Geburtstag. Ihre alte Freundin W., selbst gerade 87 geworden, ruft mich an, richtet Grüße aus und berichtet von Kindern und Enkeln, die sich um sie kümmern. Mit einem Strauß zarter Blumen in lila und rosa und hellgrünem Beiwerk stehe ich wieder am Heimfenster. Zufällig ist die Leiterin, Frau M. in der Nähe, begrüßt mich und bietet an, das Mütterlein zu mir zu bringen. Mein Herz schwingt – dass ich das Mütterlein heute sehen kann! Es dauert eine Weile, es ist sicherlich noch im Mittagsschlaf. Eine andere Kollegin (die mittlerweile das Fenster bewachen muss, weil Angehörige verbotenerweise dort einsteigen), berichtet aus dem Alltag; einige Bewohner aus dem betreuten Wohnen ignorierten die Kontaktsperren und würden sich auch sonst sperrig geben, aber viele Alte aus den Pflegebereichen würden die Situation nur wenig anders als vorher empfinden, weil die Begegnungen sich von der Gruppen- nun auf die Einzelbetreuung verlagert, was ja schöner ist und naja, die Demenzkranken bemerken gar nichts besonderes. Drei Bewohner liegen im Sterben, werden gottseidank nicht ins Krankenhaus gebracht, sondern bekommen liebevolle Sterbebegleitung von Ärzten und Seelsorgern. Die Angehörigen dürfen (mit Maske) am Sterbebett weilen – ich bin so erleichtert, das zu hören.*

Da geht der Fahrstuhl auf und mein Mütterlein wird zu mir gerollt. Sie hat rosa Schlafbäckchen und schaut mich, die ich ihr schon zurufe und winke und lächle, erwartungsvoll fragend an, wer bist du? sagt sie. Ich erkläre mich und sie beginnt zurückzulächeln. Frau M. liest ihr meine Geburtstagskarte vor, die von Gefühlen trieft, und das Mütterlein, meinen Blumenstrauß ans Herz drückend, weint ein bisschen und ich auch. Sie wirkt proper und zufrieden, spricht ein paar Sätze, lauscht offensichtlich dem Gespräch, nickt zu Fragen, schaut mal zu mir, mal an mir vorbei zum Straßengeschehen, wir riechen an den Blumen und ich finde sie berührend süß. Nach einer Weile verabschieden wir uns, werfen Handküsschen und mit, wiedereinmal, freudig bebendem Herzen fahre ich über den Deich nach Hause.

* Nachtrag: Ich bin natürlich nicht darüber froh, dass drei Menschen im Sterben liegen. Ich bin froh darüber, dass mein Mütterlein sicher sein kann, dass seine Vorstellungen von einem würdigen Sterben Erfüllung finden.




Dienstag, 10. März 2020
Die Bienen waren geschlüpft, aber während der kühlen Regentage hatten sie sich irgendwo verkrochen. Gestern taumelten sie in der windigen Sonne und ich beeilte mich, die neu vorbereitenen Nistmöglichkeiten anzubringen. Um meine Hände, die an Schnüren nestelten, flogen sie, ich bin ihre Vertraute, ihre Imkerin.

Der Bildhauer und ich verbrachten das Wochenende in meinem Arbeitszimmer, wir beide mit unseren jeweiligen Objekten beschäftigt, ab und zu ein kurzer Austausch, schau mal hier, schau du mal dort, ich habe die Stereoanlage und die Lautsprecher hergeschleppt und wir hörten uns durch unsere persönliche Musikgeschichte. (Mittlerweile stehen fast alle Möbel im kleineren Arbeitszimmer und das Wohnzimmer ist fast leer, es gibt nur das Sofa und den großen Wollteppich.)

Etwas haben wir noch nie gemacht, wir sind abends raus in die Eckkneipe auf ein Bier. Dort waren wir fast mit dem Barmann allein, drei Frauen saßen nebenan im Raucherraum. Wir grinsten, als wir merkten, dass wir uns nun um ein Gesprächsthema bemühen mussten. Die spotify-playlist des Barkeepers (Schnatterinchen sein Name) barg Gitarrenlastiges, rauhes Rockiges, und unsere musikalische Reise gewann noch einmal an Fahrt.

Die Busenfreundin und ich sind wieder zusammengekommen. Monate waren vergangen, die wir nicht miteinander gesprochen hatten, dann gab es einen Geburtstag bei der Tätowiererin, an dem wir uns vorsichtig nähern konnten. Es war auf eine Weise angenehm, meine Bedenken hatten sich verflüchtigt und ich merkte, dass auch sie von ihrer besten Seite zu zeigen sich bemühte. Sie entrümpelt stetig das Elternhaus und lud uns ein, stöbern zu kommen und etwas auszusuchen. Es gab Kaffee und Sekt mit Plätzchen, ich fand Bücher, ein schönes Stück Leder und einen Besen für Radiergummikrümel. Auf der Rückfahrt berichteten wir uns von den Besonderheiten der letzten Monate, ebenso vorsichtig, aufmerksam fragend und zuhörend.

Während der Therapiestunde ward das Mütterlein aufgestellt. Als ich auf ihrem Platz stand, wurde mir deutlich, dass sie meinem Groll mit vollkommenem Unverständnis begegnet, ihm regelrecht ausweicht, mit so einer Bewegung des Oberkörpers wie beim Aikido. Ich (an ihrer Stelle) dachte (über mich selbst), was hat sie bloß immer? Nach dem abschließenden Versprechen, mich um mich selbst zu kümmern (weil sie es nicht mehr kann), ist fühlbar eine nicht unangenehme Leerstelle zurückgeblieben. Ich weiß noch nicht genau, wie diese zu füllen ist.

Außerdem: Wieviele meiner Idole werden noch demontiert? Die Kommentarspalten sind voll von heftigst geführtem Gerede und ich fühle mich (als Fan, zudem als Frau) mindestens ebenso bepöbelt (behalte meine Ansichten aber für mich).




Freitag, 2. November 2018
Dies ist keine Demenzpuppe, Gott bewahre.

Nova Meierhenrich spricht mit Judith Rakers in der letztwöchigen Ausgabe der NDR-Talkshow über ihren depressiven Vater. Es berührt mich (in der Nachschau bei Frühstücksei und Kaffee), wie sehr die Krankheit alle Familienmitglieder buchstäblich gebannt hat und welche Parallelen es zu meiner Mutter bzw. zu meiner Familie gibt – dass man (also sie oder ich) praktisch kaum eigenen Interessen nachgehen kann, weil der über allem schwebende Todeswunsch des Vaters (bzw. die Ignoranz meiner Mutter) alle Kraft und Liebe absorbiert. Als sie sagt, sie würde nach all den langen Jahren jetzt erst zu sich finden, kommen mir die Tränen.

Am neu eingerichteten Reformationstag besuche ich die Mutter und finde sie im Tagesraum mit einer großen hässlichen Puppe auf dem Schoß. Man kann die eigenen Hände in Kopf und Handschuh stecken und durch entsprechende Bewegungen dem Gegenüber den Anschein vermitteln, die Puppe sei lebendig. Ich kann nicht herausfinden, ob Mama glaubt, die Tante, wie sie dieses seltsame Dings nennt, sei wirklich lebendig, jedenfalls spricht sie unaufhörlich mit ihr, während ich Blumen versorge und etwas aufräume. Was sie sagt, klingt völlig wirr, von jedem ihrer üblichen Sätze ein Teil, aber ich nehme ihren Stolz wahr, dass jenes Dings am liebsten bei ihr sei. In der Nachschau kommen mir wieder Tränen, wenn ich mir vorstelle, wie ein/e Designer/in versucht hat, dieses Objekt zu gestalten, machen'Se mal, Ihnen wird schon was Passendes einfallen. Ich verstehe schon nicht, was das für eine Frisur sein soll, mit so Zotteln an der Seite, ganz zu schweigen von der Knollennase, dem beigefarbenen Hautstoff, der blöden Jeansjacke und den beknackten zu engen Schuhen. Was, wenn Mama im Moment des Todes in diese ach so glänzenden Knopfaugen blickt und dieser Blick gleich ihr Karma fürs nächstes Leben bestimmt, immer auf der lebenslangen Suche nach zufriedenstellendem Modedesign (oder Flucht vor hässlichen Demenzpuppen) – wo sie selbst doch hip und Hutmacherin war, und in den 50er Jahren dafür gesorgt hat, dass betuchte Damen schickes auf den ondulierten Haaren trugen. (Vielleicht bin auch ich ja bloß auf der Suche nach gutem Design, nach Schönheit und Freude, wer weiß, was ich als letztes zu sehen bekommen habe.)

Ich brauche buchstäblich den ganzen Tag, um mich davon zu erholen und lege stundenlang Patiencen: 40 Räuber, die sowieso nie aufgehen, wenn man sie in der schwierigen Variante spielt. Gottogott, give me love, give me peace on earth, give me life, keep me free from birth (George Harrison). Und: help me cope with this heavy load. Demenzpuppen -!




Samstag, 14. November 2015
Ist im Frühjahr sechs Jahre her, dass ich nicht mehr in der Band spiele. Keine Reue. Heute das erste Mal, dass ich sie sehe. Immer noch keine Reue, aber ich erkenne das Gefühl von Gemeinschaft und Aufregung, das ich damals hatte. Ich am Bass – ein bisschen hochgestapelt, der jetzige Basssist kann das viel besser, er gibt sogar Melodien, während ich mehr oder weniger vor mich hingeachtelt oder -geviertelt hatte. Der zweite Gitarrist macht die Songs lebendiger, drei der Stücke kenne ich noch und die neuen Sachen gefallen mir auch, aber ich nähre mich bloß von der Erinnerung des Gefühls, das jetzt lange hinter mir liegt. Ich höre nicht mehr gerne Musik, fast gar nichts, und oft, wenn ich irgendwo bloß eine Zeile oder bekannte Sequenz höre, dudelt es in mir weiter über Tage, unerhebliches Zeug und nervig in seiner Schleife.

Es ist vieles aus Bildern gemacht. Eine Bassistin sein, bewundernde Blicke bekommen, und vielleicht sogar cool gefunden zu werden. Damals hätte es mir viel bedeutet, obschon wir in keiner Weise bekannt waren, irgendwie lokal, höchstens. Der Rückblick befremdet mich, ich verteile Lob, stelle meine leere Bierflasche zurück auf den Tresen und gehe ohne mich zu verabschieden nach Hause.




Mittwoch, 17. Dezember 2014
Beschlossen, dieses Jahr nur noch das Nötigste zu arbeiten und alle Termine auf Januar verschoben. Die stete Kapitalismuskritk anbei. Die Konten sind wieder auf dem Stand vom letzten Jahr, also ausgeglichen. Die Mutter der Leserin ist gestern gestorben. Sie hatte seit vier Wochen keine Nahrung mehr genommen und seit eineinhalb nichts mehr getrunken. Das berührt mich sehr. Meine Mama indes hat wieder Kraft geschöpft und ich erkenne, dass sie ihr eigenes Leben hat. Ihr eigenes Sterben haben wird. Und ich das meine.


Und unter alldem, da keimt etwas Zartes. Es wird teils gespeist durch gute Erinnerungen, teils ist es sehr neu und deshalb begeisternd. Nach fast fünf Jahren wieder den Bass aus der Tasche gefriemelt, deren Reißverschlüsse rauh geworden waren. Die Finger sind ebenso, aber ich übe ein einfaches Stück, mit dem ich das Bass-Spiel einst begonnen habe, 1979, von The Smashing Pumpkins. Einfach durchachteln. Billy Corgan sieht eigentlich aus wie der Geräuschemann. Allerdings fand ich Billy gut, bevor ich den Geräuschemann traf. Und mein Musikmachen begann auch vor ihm. Ich muss das auseinanderhalten. Voreinander trennen. Letztlich hat er sich sowieso nicht für meine Lieder interessiert, zu meinem Soloauftritt im August 2008 ist er nicht mal gekommen. Wenn ich jetzt neu starte, finde ich vielleicht endlich Frieden, und vielleicht kann ich neue Lieder schreiben, nicht die weinerlichen Love Songs von einst.

Die Musik. Vielleicht spendiere ich mir neue Lautsprecher, die alten sind riesig und der Schaumstoff löst sich schon auf nach 25 Jahren, wahrscheinlich fallen die Töner irgendwann einfach raus.

Ja, vielleicht. Vielleicht auch nicht, das macht nichts. Es soll schön sein, das neue Jahr.