Ostersonntag reiche ich ein paar Aufmerksamkeiten fürs Mütterlein zum Fenster hinein. Es scheint allen soweit gutzugehen, den Bewohnern, dem Kollegium, das guten Mutes sei, wie man mir versichert. Auf dem Weg zurück fahre ich an der Gemeindekirche vorbei, deren Pastorin auch regelmäßig Andachten im Heim hält. Draußen auf dem gepflasterten und mit einer Buchenhecke umrahmten Hof hat sich eine Gruppe Menschen versammelt, Gesang ist zu hören. Mir ist so sehr nach Geselligkeit, dass ich nicht zögere, mein Rad zu stoppen, es an der Hecke anzulehnen und mich den ca. 30 Betenden und Singenden anzuschließen. Pastorin A., weiß gekleidet, liest die Ostergeschichte, eine vierköpfige Kapelle spielt das Kyrieeleison, wir beten das Vaterunser, lächeln uns zu und nach all diesen Tagen geht endlich mein Herz auf – die Freude in dieser kleinen, subversiven Gesellschaft ist so sehr zu spüren. Wir bekommen Segen und Osterglocken mit und eine Grußkarte, die ich daheim am Küchenaltar platziere.

Wie die Natur im Frühling aufgeht, empfinde ich dieses Jahr besonders überwältigend. Trotz der bangen Gedanken, die von hier nach da schwingen, vermag ich den Wald und all die versteckten Orte, die der Bildhauer und ich kennen und aufsuchen, doch zu genießen. Nach einer tränenreichen Aussprache haben wir uns versichert, den Gemeinsamkeiten zu folgen und nicht dem, was uns trennen könnte. Wir sammeln Brennesseln, Gundelrebe und Lungenkraut im Wald, sehen einen Hasen vor uns aufspringen, in der Ferne eine Gruppe von acht, neun Rehen – die hatte ich vor einzwei Wochen schon beobachten und fotografieren können. Auch in der Nähe der Stadt gibt es Wege, die wir neu finden, einen Trampelpfad direkt am Bach, durch urwaldiges Gelände, heimelig, vorsichtig. Plötzlich springt mich etwas großes Dunkles an, leise ohne Stimme, es ist wohl kaum der Biber, der derart um mich herum fliegt, dass ich mich drehe und wende und doch läuft er meinem Blick fort. Dann sehe ich den Hund, ferner, den ich im Wald allein sicherlich für einen Wolf (endlich!) gehalten hätte, schmal, mit langen Beinen und braungrauem Fell.

Gestern hatte das Mütterlein den 89. Geburtstag. Ihre alte Freundin W., selbst gerade 87 geworden, ruft mich an, richtet Grüße aus und berichtet von Kindern und Enkeln, die sich um sie kümmern. Mit einem Strauß zarter Blumen in lila und rosa und hellgrünem Beiwerk stehe ich wieder am Heimfenster. Zufällig ist die Leiterin, Frau M. in der Nähe, begrüßt mich und bietet an, das Mütterlein zu mir zu bringen. Mein Herz schwingt – dass ich das Mütterlein heute sehen kann! Es dauert eine Weile, es ist sicherlich noch im Mittagsschlaf. Eine andere Kollegin (die mittlerweile das Fenster bewachen muss, weil Angehörige verbotenerweise dort einsteigen), berichtet aus dem Alltag; einige Bewohner aus dem betreuten Wohnen ignorierten die Kontaktsperren und würden sich auch sonst sperrig geben, aber viele Alte aus den Pflegebereichen würden die Situation nur wenig anders als vorher empfinden, weil die Begegnungen sich von der Gruppen- nun auf die Einzelbetreuung verlagert, was ja schöner ist und naja, die Demenzkranken bemerken gar nichts besonderes. Drei Bewohner liegen im Sterben, werden gottseidank nicht ins Krankenhaus gebracht, sondern bekommen liebevolle Sterbebegleitung von Ärzten und Seelsorgern. Die Angehörigen dürfen (mit Maske) am Sterbebett weilen – ich bin so erleichtert, das zu hören.*

Da geht der Fahrstuhl auf und mein Mütterlein wird zu mir gerollt. Sie hat rosa Schlafbäckchen und schaut mich, die ich ihr schon zurufe und winke und lächle, erwartungsvoll fragend an, wer bist du? sagt sie. Ich erkläre mich und sie beginnt zurückzulächeln. Frau M. liest ihr meine Geburtstagskarte vor, die von Gefühlen trieft, und das Mütterlein, meinen Blumenstrauß ans Herz drückend, weint ein bisschen und ich auch. Sie wirkt proper und zufrieden, spricht ein paar Sätze, lauscht offensichtlich dem Gespräch, nickt zu Fragen, schaut mal zu mir, mal an mir vorbei zum Straßengeschehen, wir riechen an den Blumen und ich finde sie berührend süß. Nach einer Weile verabschieden wir uns, werfen Handküsschen und mit, wiedereinmal, freudig bebendem Herzen fahre ich über den Deich nach Hause.

* Nachtrag: Ich bin natürlich nicht darüber froh, dass drei Menschen im Sterben liegen. Ich bin froh darüber, dass mein Mütterlein sicher sein kann, dass seine Vorstellungen von einem würdigen Sterben Erfüllung finden.