Dienstag, 21. Mai 2024
Als ich letzte Woche meine Aufarbeitung der Schulgründung begonnen hatte, wurde mir beinahe schlecht, während ich den Text schrieb. Die Unterströmung gefiel mir nicht. An der Oberfläche war alles ganz wunderbar. Ich arbeitete freudvoll an einem wichtigen, zukunftsorientierten Projekt mit, gab meine Ideen ein und sorge dafür, dass alles, was das Haus verlässt, gut aussieht. Scheinbar nie versiegende, in Farben ausgemalte Phantasien begleiteten mich Tag und Nacht. Die Unbeschwertheit unserer Ideen war begeisternd, belebend, verjüngend. Wie wir alle in einem tollen Gebäude zusammensitzen, Erwachsene und Kinder, Eltern, Lehrer, Begleiter, Handwerker, Organisatoren, Freunde, Helfer. Ich dachte mir Unterrichtseinheiten für Schrift, Gestaltung, Zeichnen, Stricken und Häkeln aus, die anderen mochten Ähnliches im Sinn gehabt haben, und feilte mit an Aussehen, Rechtschreibung und Grammatik des Gesamtkonzeptes. Sogar Möbel waren bereits organisiert, die Bestefreundin wollte gemütliche Sitzgelegenheiten spenden und auch das Klavier bot sie an, ja, wir brauchten unbedingt Musikinstrumente, auch ein Gewächshaus draußen, innen Teppiche und Kram zum Spielen und Lernen.

Gleichzeitig wurden aber Strukturen geschaffen, ohne dass ich sie so recht wahrnehmen wollte. Die Eltern, deren Mitarbeit dringend benötigt wird, wurden in AGs organisiert oder angewiesen, sich selbst zusammenzufinden. Die Anweisungen unserer Speerspitzen-Lehrerin wurden strenger, nicht alle Eltern, oder eigentlich niemand wusste um die Einzelschritte einer Schulgründung, woher auch. Vertrauensvoll ließen wir zu, dass Anregungen zu alternativlosen Anweisungen mit kaum verhohlenem Befehlscharakter wurden. Der rauhe Ton begann uns zuzusetzen, in heimlichen Chatgruppen wurde schon über die diktatorische Leitung gelästert. (Ich selbst bin in zwei abgespaltenen Gruppen der Ratlosigkeit.)

Der Punkt, an dem ich ausstieg, war ein politischer. Bisher hatten wir es geschafft, gesellschaftspolitische Meinungen tolerant abzupuffern und nicht in die Diskussionen mit einfließen zu lassen, obwohl klar war, dass es verschiedene Meinungen gab. Die Lehrerin, daselbst bei jenen Demonstrationen zugegen, die sich gegen eine gewisse Partei aussprachen, forderte in einem unsäglichen Keifton, dass nun wir uns als Schule ebenfalls zu positionieren hätten. Im Zuge dieser ganzen politischen Schuld- und Unrechtszuweisungen waren auch wir hintenrum als demokratische Schule in Verdacht geraten, von völkischen Interessen, Schwurblern und anderen Antidemokraten unterwandert zu sein blabla.

Wohl die Hälfte der Gründer, darunter auch ich, wollten sich nicht positionieren müssen, denn in allen offenliegenden Schriften, Websites, Flyern und Informationsmaterialien geben wir uns deutlichst als Demokraten, Verfassungsfreunde etc. zu erkennen. Es sei unnötig, dieses dauernd zu wiederholen, fanden wir. Es wurde darüber nicht demokratisch abgestimmt. Sowieso schien sich das Demokratieverständnis unserer Speerspitze in einer Suppe aus Gift und Galle zersetzt zu haben. Und so erschien auf unserer Website eine Erklärung, die gleich in den ersten Zeilen von negativen Reizworten nur so strotzte und nun, allen Suchmaschinenoptimierungsempfehlungen zum Trotz (oder gerade deswegen), findet man unseren Schulnamen gemeinsam mit den unliebsamen Attributen. Eine Ironie des Schicksals, oder?

Am nächsten Tag kündigten T. und ich unsere Vereinsposten – zum Kuckuck mit dieser scheinheiligen Demokratie, mit ihrer Weltoffenheit (nach Westen) und einer Ansammlung "freiwilliger" Arbeitskreise. Dieses ganze Gedöns ging mir zudem ans Herz: Ich verbrachte schlaflose Nächte mit Grübeln und sorgenvolle Stunden mit Herzrhythmusstörungen. Kaum hatte ich mich erklärt, die Diskussionsgruppen verlassen und einige der Akteure im Messenger blockiert, ging es mir besser!

Akteure ist auch so ein Wort aus dem Kauderwelsch der Akteure. Die deutsche Sprache hat mittlerweile ordentlich zugelegt an unschönen Begrifflichkeiten, die einen Batzen schwerst erklärungsbedürftigen Inhalts mit sich führen. Ganz zu schweigen vom Gendern mit seinen kunstvoll eingebrachten Wort*innen-Lücken, bei denen mir beim Zuhören jedesmal der Atem stockt.




Freitag, 17. Mai 2024
Naja, wir haben es versucht und manche versuchen es noch. Die Nachbarin T., Mutter des Schulkindes, fragte mich, ob ich die Grafik machen könnte. Natürlich, eine schöne Arbeit, ein interessantes Thema für mich als Lehrerstochter, endlich. Ich war sogar bereit, für den Trägerverein ehrenamtlich zu arbeiten, um dieses Herzensprojekt auf den Weg zu bringen mit professionellem Design.

In Deutschland gibt es die Schulpflicht. Bisher war mir nicht klar, was das für Eltern bedeutet, die ihre Kinder nicht in eine staatliche Schule schicken möchte. Die T. kennt sich da aus. Bekannte von ihr schlossen sich Freilernergruppen an, nahmen Bußgeldverfahren auf sich, meldeten die Kinder aus Deutschland ab, ließen das Kind von einem Arzt oder Psychologen für nicht schulbar erklären, verließen das Land oder liefen irgendwie unterm Radar des Systems.

Das große Vorbild unserer Schule ist Summerhill in England, die vor 100 Jahren gegründet wurde und noch immer schlaue und stolze Schüler gut ausgebildet ins Leben entlässt. So etwas wollten wir auch!

Seit Dezember 2022 war ich dabei. Die Arbeit machte mir großen Spaß, die grafischen Ergebnisse ließen sich sehen und brachten eine Helligkeit und Ordnung ins bisher eher muffige Aussehen. Ich mochte die Menschen, die ihre Zeit, Energie und Liebe in diese Idee steckten, und mit D. und L. haben sich echte Freundschaften gebildet.

Das nötige Fachwissen für eine Schulgründung aber und ein ungehemmtes Durchhaltevermögen brachten R. als Lehrerin und H. als Jungpolitiker mit Finanzwissen mit. R. schrieb das Schulkonzept und H. rechnet an Finanzplänen herum und trifft sich mit Politikern. Sie waren die Speerspitze, wir anderen arbeiteten ihnen zu. Ein Architekt, engagierte Eltern und ein paar gute Denker bereichern die Initiative. Sie war schon 2018 gegründet, als langsam in Gang kommender Versuch, die Welt zu retten. Dann kam die Pest Corona, die Bemühungen erlahmten – nahmen dann aber wirklich Fahrt auf, als wir Neuen dazukamen.

Es war kompliziert. Ungleich viel Zeit ging damit einher, für ein bestimmtes Gebäude Nutzungskonzepte zu entwerfen, Baugenehmigungen einzuholen und Gespräche mit Stadt, Banken und Geldgebern zu führen. Eine ehemalige Sonderschule, deren Grundriss an eine quadratische Burganlage erinnert, in 13 Jahren durch verschiedenste Wohn- und kulturelle Projekte abgenutzt, verunstaltet, veraltet, war Ziel unseres Speerspitzenpaares. Wir wollten es sanieren.

Genau das ist der Punkt, von dem mir jetzt klar wird, dass er im Dunkeln liegt – warum ausgerechnet dieses viel zu große, zu teure, zu schwierige, allerdings schöne, dennoch heruntergekommene mit einem Architekturpreis geehrte Juwel, nun von dummen Menschen verwohnt, besprüht, beschmutzt – das regte mich so auf.

R+H, unsere Speerspitze, wollten das so. Ich verstand es nicht. Es wurden Zahlenreihen und Argumentationen ins Feld gebracht, es gab beleidigte Reaktionen, wenn man andere, einfachere Ideen vorschlug, es wurde gezwängt und gedrängt, und doch vertrauten wir dem Plan. In der Rückschau wirkt es auf mich wie eine riesengroße Profilierungsschau unseres angehenden Jungbonzen, dem wir blauäugig hinterherrannten. Für Gespräche wurden in der letzten Minute Präsentationen aus dem Boden gestampft, die ich mich in der allerletzten Minute beeilte, zu aller Zufriedenheit zu gestalten. Es wurde nicht ausreichend oder gar nicht kommuniziert mit den hoffnungsvollen Eltern, die bereits ihre Kinder angemeldet hatten, wir durften nichts über die Verhandlungen mit der Stadt nach außen dringen lassen.

Kurz gesagt, es war ein irres Spiel. Natürlich zankten wir uns, natürlich gab es unschöne Momente, es wurde geschmeichelt und gedroht, es gab aber auch Zusammenhalt, Begeisterung, wenn wieder ein Schritt getan wurde, einer unter Dutzenden aufreibenden, nervenden Schritte, die Wochen auseinanderlagen, die jetzt, am Ende... wie soll ich's sagen
wir bekommen das Gebäude nicht. Es ist vorbei. Es ist zu groß für uns. Wir haben keinen Plan B oder C.




Mittwoch, 17. Juni 2020
Und immer den Blick nach Südost gerichtet, wo zur Zeit die Gewitter herkommen. Die Sucht nach Aufregung ist beinahe stärker als der Wunsch nach Ruhe und Stille. Die Nachbarin unter mir ist der Überzeugung, ich sei nicht still genug und beklagt nächtliches Türenklappern, das angeblich aus meiner Wohnung kommt. Ich nehme an, niemand in diesem Haus schließt sorgsamer die Türen, niemand geht sanfter abgerollt über Holzböden als ich. Vielleicht ist es ihr ein Dorn im Auge, dass ich so viel mit dem Bildhauer kichere, wenn er bei mir übernachtet. Vielleicht möchte sie auch gern wieder einmal getötet werden, wie im vorletzten Jahr, als sie einige von uns Nachbarn darum anflehte. Ein Schock, jemanden bei seiner Psychose zu erleben. Für Wochen war sie in der Psychatrie, ihre Mutter sagt, sie sei seitdem nicht mehr dieselbe.

Die allgemeinen Vorgaben haben also auch schon das Zuhause erreicht. Die Bewegungen, Be- und Anmerkungen, die Hinweise im Stammcafé, wer darf rein, wer wartet draußen, wie viele dürfen rein, wenn drinnen zwei sitzen, z. B. die Leserin und ich in Erwartung eines entspannten Frühstücksgespräches, und hier noch der Anwesenheitszettel, aber die Wasserkaraffe gibt es nicht mehr, dafür Gemurmel hinter Masken mit zweimal Nachfragen. Nervt.

Weiterhin viel Netzgelese und Offstreamgeschaue. Dabei philosophische Perlen gefunden, die nach all dem Stumpfsinn den Intellekt erregen und eine neu entstehende Aufmerksamkeit für gesellschaftspolitische Themen füttern – vielleicht ist es aber auch nicht hilfreich, zu tief dort einzutauchen und in dunklen Ecken menschlichen Fehlens zu stöbern. Die dadurch ausgelösten Ängste im eigenen Innern ertragen lernen, kommt mir wertvoll vor und schrecklich zugleich.

In den Therapiegesprächen geraten allerhand kindliche Wünsche ans Licht. Ich mag dieses mutige Mädchen (das ich war) von acht oder neun Jahren, das mit all seinen edlen Werten, mit seiner Wut und Kraft zu mir in die Zukunft schaut. Die Beantwortung der Frage, ob es von mir, der Erwachsenen, ebenso enttäuscht sein könnte, wie von den meisten Erwachsenen damals, muss auf morgen warten.




Donnerstag, 2. April 2020
Die Stimmung kippelt, ist aber noch nicht ganz hinüber. Einen Disput mit dem Bildhauer gehabt, der sich besorgt zeigt, weil ich mich mit den Freundinnen zum Frühstück treffe. Ehrlich, stellte er mich vor die Entscheidung er oder sie (die Freundinnen), würde ich mich wohl einfach in eine Ecke verkriechen und warten bis alles vorbei ist. Ich finde es traurig, dass wir überhaupt so ein Gespräch führen und kann mir vorstellen, dass es bei vielen Paaren, Familien und anderen Gemeinschaften schlimme Zerwürfnisse gibt, die sich nicht beilegen lassen. Die Leserin berichtet aus dem Buchladen; dort ist die Tür zum Bad direkt in der hinteren engen Büroecke, und es bedeutet ein gewisses Organisationstalent, den Bedürfnissen aller Raum zu geben.

Zu Fragen des Zwischenmenschlichen in kleinen Wohnungen findet man zur Zeit kaum Hilfe, außer diese Psychoratgeberkolumnen mit schönen Bildern freundlicher Menschen, die an hübschen Schreibtischen homeoffice machen, während die Kinder sich still beschäftigen. In den Kommentarspalten von utube-Filmen, die wieder etwas Hoffnung mitbringen, lese ich Ängste, Nöte, Hass heraus und am meisten macht mir, der hoffnungsvollen Demokratin, Angst, dass jede Meinung außerhalb des mainstreams sofort die Verschwörungstheorie-Keule bekommt. Ich bemerke mit Befremden, dass ich positive Beiträge in meinen diversen timelines nicht mehr spontan like oder teile, ohne Folgen (welche Folgen?) zu befürchten.

Die Auseinandersetzung mit der Meditationsfreundin G. ist noch nicht gänzlich erhellt, bzw. ich führe sie allein weiter im inneren Dialog. Ich persönlich, in the cave of my heart, glaube unerschütterlich an das Gute in der Welt und an eine absolute Wahrheit. Meistens dauert es eine Weile, bis sie sich zu erkennen gibt. Und oft sind diese Weilen lang, unerquicklich, sogar schmerzhaft und mit Leichen gesät. – Wir werden sehen.

(Küche ist übrigens immer noch nicht geputzt.)




Mittwoch, 18. März 2020
Das mit dem Klopapier verstehe ich nicht. In anderen Ländern sind es Kondome und Rotwein, die gehortet werden – man weiß es sich dort schön zu machen.

Das Mütterlein kann ich nicht besuchen. Auf diese Weise gibt es wenigstens eine kleine Absolution, staatlich verordnet sozusagen. Man bittet mich allerdings doch ins Heim, um die Unterschrift für das Bettgitter neu zu leisten. Ein kleiner Spaziergang an den Fluss-Auen, vielleicht noch zum See, nach den Burgund-Algen schauen und am Steg etwas Sonne zu atmen. Als Selbständige mit Rücklagen, von denen ich ohnehin z. Zt. lebe, sehe ich der Zeit zu Hause gelassen entgegen, bin regelrecht froh, eine Ausrede zu haben, Dinge nicht zu erledigen und mich auf mich selbst zu besinnen. Die Gärtnerin ist frisch getrennt und begehrt Beistand, Freundinnen-Power gar möchte sie versammeln, wir stehen zu fünft auf dem Markt in gehörigem Abstand und mir ist so gar nicht nach weiteren Details einer Beziehungsgeschichte, die immer schon schwierig war und zur Auflösung neigte.

Statt dessen rufe ich die Bürokollegin an und die Bestefreundin, wir führen lange launige Gespräche und lachen viel und es tut gut, einfach nur zu reden und sich der gegenseitigen Unversehrtheit zu versichern, ohne Beigeschmack, ohne irgendetwas anderes zu wollen.

Der Bildhauer und ich verbringen die Zeit in Sand- und Tonkuhlen, deren Formationen – hoch, tief, abschüssig, aufgerissen – mir beinahe zu aufregend sind, einmal habe ich Atemnot, und die daraus entstehende Panik, eventually virusbefallen zu sein, macht sie noch schlimmer, und ich krieche über Dünen und an Abhängen vorbei durch Gezweig und denke, so ist das nun also, wenn der Körper, das liebe Gefährt, nicht mehr mitmacht.

Zum Therapiegespräch will ich morgen auf jeden Fall. Der Routenplaner schlägt eine Rad-Fahrt am Kanal entlang vor, ein Riesenumweg, wie mir scheint, in den fernen Stadtteil, aber ich möchte jetzt nicht in die Straßenbahn steigen, die ohnehin fast ausschließlich von muffeligen Menschen besetzt ist. Durch den Stadtwald könnte ich auch, das werde ich morgen entscheiden. Ich hatte einen irritierenden Traum, den ich mit der Therapeutin besprechen will – ich sollte meine Eltern anklagen. Tue ich das nicht ohnehin? Es ist ein wirres Versteckspiel mit vielen sogenannten unerwarteten Wendungen, und es gelingt mir noch nicht, diese selbst zu ordnen.

Soweit zu den Neuigkeiten aus diesem Hause. (Noch gut drei Rollen Klopapier, genügend Reis, Nudeln, Hülsen- und Trockenfrüchte, Nüsse, Milch, Öle und frisches Gemüse vorhanden. Auch Vitamin C reichlich.)




Mittwoch, 27. November 2019
Nach einem sorglos und äußerst albern verbrachten Wochenende mit dem Bildhauer besuche ich am Montag das Mütterlein. Es sitzt da wieder so und erkennt mich nicht. Vielleicht liegt’s an meinem sehr kurzen Haar oder an allem anderen. Ich schiebe Mama in ihr Zimmer und das langsame Erkennen wird zu einem dramatischen Jammer, während Sätze fallen wie du bist mir so fremd oder das vorwurfsvolle wo warst du denn, beides wiederholt sie viele Male und heulend rufe ich alle guten Geister an, warum Gottvater, Maria und Jesus und alle Engel dazu sie hier so allein lassen, auch ich frage, wo sie denn nimmer sei und dass ich ihr nicht folgen kann. Wir liegen uns in den Armen und schluchzend beteuere ich Verlassenheit und weiteres Leid der Welt. Sie streichelt mein Gesicht und ist ganz wach dabei, fast erkenne ich sie wieder und sie wechselt zu einem lächelnden du bist mir nicht fremd, es dauert eine Ewigkeit, bis wir uns beruhigen, ihr Atem ging schnell und die bittersten Tränen wurden geweint.

Ich krieg’s nicht hin. Wie war das mit Abgrenzung und Entgrenzung?

Völlig ausgelaugt bringe ich sie zum Abendbrot an ihren Tischplatz. Sofort hat sie mich vergessen und würdigt mich keines weiteren Blickes, ihr Gesicht wieder zugefallen. Mein Winken bleibt ungesehen.

Ich bin davon überzeugt, dass das Leben ein Mysterium ist und wo ich kann, versuche ich, Geheimnisse aufzudecken; so kann ich mich an seltsamen, dunklen Gefühlen laben – und doch empfinde ich genau dies als echt krank. Am Morgen fällt mir weiteres Gesagtes ein, du bist Soldat geworden, behauptete sie und jetzt erst sehe ich ein, dass sie mich gar nicht meinte (vielleicht ihren Bruder, der mit 19 im russischen Winter bei einer Flussdurchquerung ertrank). Wahrscheinlich meinte sie mich gar nie, sondern immer nur eine der Figuren ihres inneren Dramas. Was für ein Missbrauch da mit Kräften, Liebe und falschem Blick begangen wurde.

Etwas hat diese Zeit – das Denken wird klarer. Ich verbringe den Tag mit dem angenehmen Gefühl, dass ich gar nicht gemeint bin, von niemandem, und niemals zu irgendeiner Zeit verantwortlich. Ich schlüpfe aus dem allgemeinen Schauspiel und keiner vermisst mich. Welche Erleichterung.

Schauspiel mit Pilzen.




Dienstag, 27. August 2019
Ich weiß jetzt, was die lauten Nachbarn gemacht haben, denn ich bin nun eine von ihnen. Dortselbst im Nachbarhaus allesamt verschwippt und verschwägert hat der junge Mann einen Lehmofen in den Hof gebaut. Man lässt mich großzügig über die schreckliche Kreischsäge monieren, entschuldigt sich und erklärt, man habe das falsche Sägeblatt gekauft und konnte es nicht umtauschen. Nun gibt es selbstgemachte Pizza, die die zwei Wochen Lärm beinahe ausgleichen, zudem bitte ich darum, zu weiteren Ofenbefeuerungen stets eingeladen zu werden. Das Schreikind entdecke ich auch, es sieht so rotzfrech aus, wie ich es mir vorgestellt habe, zwei Frauen sitzen abseits und quatschen, die eine offensichtlich die am Kind kaum interessierte, am Getöse bereits ertaubte Mutter.

Auch sitze ich bis zur Dämmerung mit neuen Freundinnen herum, rede sicher genauso laut wie sie durchs Carrée über Verflossene(s), trinke (die famose Gin-Mischerei mit den schönen Flaschen hat jetzt auch Likör!) und lache viel, vor allem mit der Gesprächpartnerin aus dem Schwäbischen, die so ihre Art hat. Es ist ein schöner Nachmittag. Wir thematisieren auch, ob und wann man sich (bei Kindergeschrei oder gar Gewalt, der man beiwohnt) einmischen sollte, ich als alarmiert, aber zurückhaltend Reagierende, die andere grundsätzlich dazwischengehend, auch in Männerstreits, wenn es beginnt, bedrohlich zu werden.

Am nächsten Tag, oh Wunder, das Kind schreit wieder so herum, höre ich erstmalig in diesem Sommer ein nun schrei doch nicht so! Worauf das Kind tatsächlich still ist.




Montag, 5. August 2019

Der Bildhauer hat einige der Stecken erneut überstrichen, mittlerweile die vierte Schicht von schwarz über weiß und senfgelb zu diesem Blauton, heute beginnt der Aufbau der Ausstellung, die Busenfreundin ist auch dabei mit einem Objekt, das sie selbst nicht so richtig versteht, das finde ich irgendwie sehr lustig, auch kunsttheoretisch, und der Bildhauer und ich machen was Kindliches, als Künstler sind wir frei und müssen überhaupt nichts erklären, ich stelle mir jetzt schon wehende Stoffe unter Bäumen vor, man kann reinkriechen und sich verstecken, das ist doch toll. Gerade nach dem gestrigen, sehr bedrückenden Tag der Kindheitserinnerung brauche ich heute einen solchen Ort. Und E. hat uns angeboten, ihren Garten weiterhin als unser Refugium zu nutzen, welch angenehme Wendung.




Freitag, 6. Januar 2017
Im südlichen Hinterhof werden unter lärmenden Jungsstimmen noch die letzten Böller abgebrannt, ich guck raus, wer sich da so aufregt, ein Hund kläfft. Die Sonne ist jetzt hinter den Dächern. Sollte ich nochmal zu Mama wollen, dann jetzt bald los. Ich schwanke dauernd zwischen Nächstenliebe und Abgrenzung. Hab’ ich noch nicht raus. Was Gutes tun – wem zuerst?

Die Welt ist recht klein geworden. Mag mir keine Geschichten von Leuten mehr anhören, vieles schwächt mich, weil ich sofort mit großem Schwung mittendrin bin und Meinung habe. Die ich auch zum Ausdruck bringen möchte. Auch hier: Wieso eigentlich? Reines Zuhören kann ich meist nicht mehr, es ist doch immer dasselbe sich im Kreis drehen. Noch ein Pferd, noch ein/e Geliebte/e, noch ein Geldwunsch bzw. ein -nichthaben. Dudi sagt, sie könne solchen Erzählungen oft schon deren zukünften Verlauf voraussagen, genauso erschreckend wäre es, die anderen blind in ihre Voraussagbarkeit hineinleben zu sehen. Mir geht es ähnlich. Ich finde mich in der Rolle der Warnenden, zur Zustimmung müsste ich mich zwingen. Als würde mein Segen irgendetwas ändern.

Was kann ich mir denn selbst voraussagen? So zum Jahresbeginn. In der imaginären Glaskugel sehe ich, dass der Bildhauer und ich uns auch dieses Jahr noch gewogen sein werden. Dass sich das Thema Arbeit/Geld gravierend ändern wird. Dass ich die Mutter loslassen kann und Weggefährten wegfallen. Dass dass ich mich allgemein reduziere, sich meine spirituellen Erfahrungen verdichten und ich gesund bleibe. Ein neues Kunstprojekt mit dem Bildhauer beginne. Und dass ich hier bleibe, oder mal wegfahre für ein paar Tage. /Glaskugel ende




Sonntag, 13. November 2016
Das erste Mal seit langer Zeit kränklich, lustlos, halsschmerzend und langsam im Kopf. Auf einer 40jahr-Firmenfeier am Samstag wurde sich über Burnout ausgetauscht, vielleicht wäre das auch eine Option für mich. Eine ereignislose Kur fernab von telefonischer Bereitschaft, und etwas Geld ohne zu arbeiten. Das ohne zu arbeiten praktiziere ich auch so, das bedeutet natürlich auch keine Einkünfte. Den fehlenden Geldzuwachs könnte man durch den Verkauf des Elternhauses abfedern, wenn der denn genehmigt würde. Die Betreuerin, die das Gericht als Bevollmächtigte der Mutter bestimmte, empfinde ich als voller Vorwürfe gegen mich. Es sei nicht rechtens gewesen, das Sparguthaben meines Vaters durch drei zu teilen, ob die Mutter denn auf ihre Hälfte verzichtet hätte? Erst später wird mir klar, dass man einfach davon ausgeht, dass die Mutter vor sechs Jahren schon dement war. In einem langen Brief berichte ich der Betreuerin und dem Gericht von dem, was ich beim Vorsprechen aus Stress unfähig war zu sagen. Vor Gericht also, verdammt! Ob diese Schuldgefühle irgendwann endlich aufhören? Das beste an dieser Auseinandersetzung ist, dass ich mir selbst klar werde, was für eine Menge Gutes ich für die Mutter getan und geregelt habe. Vielleicht wird das die Schuldgefühle vertreiben können. Wir werden das Haus außerdem nicht für einen Preis verkaufen dürfen, sagt die Betreuerin, der um so viele Tausend unter dem Gutachten liegt. Ich würde sie als Rockerbraut bezeichnen, optisch, und wenig empatisch, ob Rechtanwältinnen darin auch geschult werden? Jedenfalls bringt sie mich zum Weinen und wahrscheinlich hält sie meine Tränen für falsch, ein weiterer Grund, unfreundlich zu mir zu sein.

In der Nacht träume ich von einem metergroßen mumifizierten Embryo mit schwarzen Augenhöhlen, den ich aus dem matschigen Grund ziehe, zusammen mit anderen Hindernissen, die unserem holzberäderten Wagen im Weg liegen. Sehr ekelig, doch später sehe ich das Kind, das in diesem sich als Film entpuppenden Szenario mitmacht, auf der Wiese spielen, selbstvergessen und fröhlich, mit dickem schwarzen Kurzhaar, zu früh seine Mumienrolle vergessend, obwohl die Kamera noch läuft. Wir lachen und werden das nochmal drehen müssen. Ein in der Nachschau poetischer Traum mit guten Zeichen, aber trotzdem erst noch ein bisschen krank sein und jammern. Nachher rufe ich Dudi an, die soll mich trösten, die kleine Mutter selbst braucht eigenen Trost, auch das ein Grund zum Weinen, ich habe keine Mama mehr die mich trösten kann, rufe ich dem Bildhauer zu, nicht ohne gespielte Dramatik, die er mir natürlich verzeiht. Er vermag nicht so viel tun, außer die Stimmung mit ein paar Niedlichkeiten zu wenden und mich zum Lachen zu bringen.

Wie gehen wir vor. Ich weiß es nicht. Ich lese viel – in den alten Schriften des Vedanta, mache weiter mit der großen Mantraübung, vertiefe mein Englisch anhand Phil Collins’ Biografie, schaue Filme, die mir gut tun und denke mir Kunst aus, oder Design oder wie man das nennt. Es ist trotz des Gefühls von Stillstand eine kreative und äußerst erkenntnisreiche Zeit. Die Mutter hat möglicherweise die letzten 50 Jahre vergessen, auch auf den alten Fotos kein Erkennen des hinfortgewünschten Hauses, eine kleine Erinnerung nur an die Wickenhecke, von der Besucher je ein Sträußchen mitbekamen, das ist aber auch schon fast die gleiche Zeit her. Aber sie berichtet lebhaft von Alltäglichkeiten im Heim, die ihre gesamte Aufmerksamkeit einnehmen. Fast jedes Mal erzähle ich ihr von der Hüft-OP und warum sie nicht mehr gehen kann, was sie jedes Mal erstaunt quittiert und – wahrscheinlich sofort wieder vergisst. Es gibt aber auch viel zu lachen, über Schabernack, mit niedlich gefälteltem Mund vorgetragen, und kleinen Frechheiten. Stets freut sie sich über die mitgebrachten Blumen oder eine Süßigkeit – ihr Leben ist sehr einfach geworden. Mich animiert das wiederum ebenso zu Simplifizierungen meines lifes, hinfort auch alles zu Komplizierte. Ich sollte nun endlich auch anfangen, die letzten 50 Jahre zu vergessen. Das würde mir gut tun.