Mittwoch, 13. April 2022
Am milden Abend sitze ich im Fenster des Badezimmers, kann den Innenhof überblicken und den Abendvögeln lauschen. Es ist nicht richtig bequem, so halb auf der Kante, und wahrscheinlich sieht es von unten ziemlich gefährlich aus. Ich nutze aber für diese Gelegenheit einen leichten Rechtsdrall, und falls ich fallen würde, dann direkt vor die Badewanne auf den Kachelboden. In den Wolken ist eine bloße Stelle, die den Mond frei lässt. Die vielen Fledermäuse, völlig lautlos, kommen sehr nah. Soeben hat die Nachbarin, Mutter des Schulkindes, das Fenster der Küche geöffnet und ich höre sie und ihren Mann miteinander kommunizieren. Sie haben so eine schnelle Art des Sprechens kultiviert und gewöhnlich reden beide gleichzeitig. Vorgestern bekam ich einen kleinen Grafik-Auftrag. Bis ich begriff, welche Art Dienstleitung ich zu erfüllen hätte, verging ungefähr eine halbe Stunde, in der er mir ausführlich erklärte, wie er ein Klavier derart umgebaut hätte, damit es zwar weiterhin analog aussieht, aber elektronisch verstärkt ist. Es möchte Straßenmusik damit machen, das ist in dieser Stadt nur akustisch erlaubt. Das merkt keiner, sagt er.

Seltsamste Vorgaben bestimmen unsere Leben. Eine Trickfilmerin (für Kinderfilme) erklärte mir die Richtlinien klimafreundlichen Arbeitens, um dieses filmförderungswürdig zu gestalten. Dieses Konstrukt beeinhaltet das Nutzen von Elektroautos/-Taxis und teuerem Ökostrom, einem veganen Tag pro Woche für etwaige Angestellte und weitere nachzuweisende und sehr kostenintensive Vorschläge auf 14 Seiten. Meine Frage, ob sie ohne Filmförderungen ertragreicher arbeiten könne, sei unmöglich zu beantworten.

Als ich mit der Gärtnerin auf einen Kaffee draußen war, kamen plötzlich alle vorbei. Die Tattowiererin vom Wäschewaschen, der Bildhauer vom Zahnarzt, die Genesene mit dem Hund und meine alte Bürokollegin, um den ausgefüllten Vordruck für Gas und Strom zur Post zu bringen. Ich empfand eine schöne Lebendigkeit unter den Freunden, während uns stechend die Sonne beschien.

Ich war der festen Überzeugung, ein Buch vorbestellt und per pp bezahlt zu haben, sein Erscheinungsdatum ein paar Tage später. Als ich heute nachsah, war in den Kontoauszügen nichts davon zu sehen -- ich hatte mich schon gefreut. Es ist ein Buch des niederländischen Gestalters und Rad-Weltreisenden Martijn Doolaard. Eine vierteilige YT-Serie zeigt ihn erzählend seinem Buch Two Years On A Bike blätternd und einige der kurzen Filme, die er unterwegs aufgenommen hat. Anscheinend besitzt er eine per GPS steuer- und irgendwie programmierbare, sehr hochfliegende Drohnenkamera, die hinter ihm hergleitet, einmal während er als winziger Punkt die unendliche Salzwüste durchquert. Seine bildnerischen Fähigkeiten sind herausragend, dazu er selbst als in Szene gesetzte Figur -- nie peinlich oder eitel, sondern voller Freude am Teilnehmenlassen. Martijns neuestes Projekt ist der Ausbau einer historischen Hütte irgendwo in den Alpen, filmisch begleitet. Wunderbar meditative Stücke, mit Schönheit, positiver Weltsicht und Geduld. Empfehlung!




Freitag, 23. Juli 2021
Der Abendspaziergang führt mich zu den nahen Auen. Hier ist alles irgendwie stadtnah, auch die Natur. Manchmal fühle ich mich wie in einem riesigen liebgemeinten Zoogelände für Menschen -- die vielen Kaninchen, die vor mir ins Gebüsch zurückhoppeln, zeigen mir aber, dass gesorgt ist für alle Wesen, die hier siedeln. Auf meinem Weg gibt es Brücken, Alleen, Wehre, Mündungen -- ich gehe hier oft, aber im Jahreslauf ergibt sich stets ein neuer Blick, jetzt, Ende Juli, steht das Gebüsch hoch, die Pfade sind zertreten und trocken, die vielen, damals frisch aufgebrochenen Maulwurfshügel flach und steinern unter meinen dünnen Sohlen. Je später ich losgehe, umso weniger Menschen treffe ich. Um sechs Uhr ist noch viel Lärm am Spielplatz, der auch für Erwachsene Übungsgeräte und Reckstangen bereitstellt, an der belebten Skaterbahn, und vorn sitzen zwei junge Frauen auf einer Decke und halten ihre Zigaretten so wie ich mir rauchende Frauen im Großreich Persien vorstelle, ich lächele breit und sage etwas zu ihnen, das sie nach einem Moment der Unsicherheit zurücklächeln lässt.

Jetzt, später am Tag, ist es stiller dort. Es ist noch so warm, dass ich sofort schwitze, ich mache aus dem Gang eine Übung im Gehen, Schritt für Schritt, den Rücken gerade, die Schultern zurück. In der Allee blickt man zur Rechten über einige Kiesteiche, ich sehe die Schwäne, noch liegen all die umgestürzten Baumriesen des Orkans vor einigen Jahren wie ausgestellt. In einem anderen Jahr gab es dieses Hochwasser, als mein Bildhauer auf dem Gelände des Rittergutes ein Objekt zeigen konnte, einen Nachbau des Laubenvogels, das komplett im Wasser versank. Der kleine Bach, über den ich jetzt gehe, hatte damals die gesamte Gegend überschwemmt, die Busenfreundin blies ihr Paddelbot auf und fuhr mit den Kindern der Adligen (des Rittergutes) über die Wiesen des Gutes, die grün und saftig unter der Wasseroberfläche schimmerten, bis am nächsten Tag alles oll und matschig wurde und nach weiteren Tagen einen üblen Gestank verbreitete. Erst später begriff ich, dass es der Geruch von Aas war, von ertrunkenen Tieren in ihren Erdhöhlen, die mit der schwärenden Pampe vermischt als unguter Odem um das Rittergut zogen und uns den Aufenthalt verekelten.

Das Wasser stand so hoch, dass sogar das kleine Deichtor geschlossen wurde, durch das ich mit meinem Mütterlein oft spazieren fuhr. Vom Deich aus wies ich ihr Richtung Wiese, Weg und Brücke, alles war nurmehr ein einziger See, wo wir vorher die Störche hatten klappern hören. Ob sie es damals schon nicht mehr begriff, wo wir waren, weiß ich nicht.

Mein Weg geht weiter zum Stadtsee, es gibt einen Kiosk, an dem ich manchmal ein Eis kaufe, über den See nach links der Blick zum Rathaus, Tretboote, die aussehen wie Autos, ich kann mit diesem Ort nicht viel anfangen, einmal bin ich mit dem Mütterlein ins Schiff gestiegen und fragte den Kapitän, wohin fahren Sie denn, er sah mich belustigt an und entgegnete, wohin soll's denn gehen, eigentlich wollte nur ich wissen, wo überall er hält, und ob ich mit dem Mütterlein und ihrem Rollstuhl hier wieder zurückkomme.

Auf dem zeitlichen Scheitelpunkt des Gangs befindet sich das Wehr. Soeben las ich, dass es 1928 gebaut wurde, und dann 2019 erneuert, das hatte ich verfolgt, jetzt sind die Flächen begrast, die Treppe für die Paddler installiert, auf der Schräge des Ablaufs picken Enten an wässrigem Grün, der Haufen angeschwemmten Holzes des damaligen Hochwassers hat sich gesetzt und ist mit langen Grashalmen bewachsen. Ich finde es schön, dass niemand es wegräumt, vielleicht eine zükünftige Landzunge, ich war bei ihrem Entstehen dabei.

Der Rest des Weges ist praktisch neu. Der Asphaltbelag ist neu, wunderbar glatt, ich bin dort als Erste gegangen, als er schwarz glänzte und die Absperrungen noch standen. Das Erdreich war frisch gefurcht, jetzt ist es bewachsen mit mannshohen Pflanzen und später gehe ich am neuen Statteil vorbei, die Architektur der Wohnanlagen gefällt mir, man sieht auf den Fluss von Balkonen herab, gegenüber alte Häuser aus der Gründerzeit, die Brücke, die in meinen Stadtteil führt, rechts davon das hohe alte Backsteingebäude, danach die schlimme Bausünde der 70er, vielleicht einen Kilometer nach Westen, alles zerfällt dort, Investoren streiten sich mit der Stadt, es sieht aus wie nach dem Krieg.

Fast bin ich Zuhause, muss nur noch vorbei an diversen Ristorantes, die auf Bürgersteigen rechts und links Essen bereitstellen, der Durchgang ist schmal, Servicepersonal mit Masken, ich quetsche mich ohne vorbei, es macht alles gar keinen Sinn.

Wenn man Geburtstag plant, aber keine Gäste einlädt, hat man Bier und Wein im Überfluss. Im Laufe dieses Textes habe ich zwei große Biobiere genossen und bin jetzt halbwegs betrunken. Gut, dass die Batterie des Rechners hält, so muss ich nicht aufstehen und evtl. torkeln. Die Nachbarn höre ich von hier aus der Küche, es ist ein entspanntes Lachen, das tut mir gut nach all dem Quatsch der Welt, den ich immer noch höchst aufmerksam verfolge.




Freitag, 7. Mai 2021
Die ohnehin als überschaubar zu wertende Liste mit anstehenden Aufgaben ist in der Woche noch kürzer geworden. Ich möchte mich zu einer Zeitspanne hinbewegen, an der einmal alles erledigt ist. In dieser Zeitspanne wird auch nicht mehr diskutiert oder anderweitig kommuniziert, auch ist die Wohnung geputzt, die Wäsche gewaschen und sind die Blumen gegossen oder stehen in einem Arrangement, das Pflege unnötig macht. Ebenso soll aller Wunsch nach Kunst und Kultur für eine Weile schweigen, wird doch ohnehin jede Aussage, jede Meinung, jeder Stil, sogar jede Farbnuance, auf die man sich soeben geeinigt hatte, verdreht und in Zweifel gezogen, soll es ein Rot aus 100m und 100y sein, oder mit nur 95 % Magenta? Oder 90 %? Ich denk' nochmal drüber nach.

Trotz allen Verkrampftseins deutet sich an, dass eine Kunst-Ausstellung, zu der L. und ich eine gemeinsame Arbeit beisteuern, stattfinden kann. Das Thema stand schon lange fest, ich wünschte mir schon lange, L. als Gast zu gewinnen, hatte eine Anfrage aber hinausgezögert, aus Scheu oder Lustlosigkeit, wer weiß das schon noch. Letzte Woche endlich kamen wir zusammen und im künstlerischen Nu hatten wir zwei Arbeiten in ein großartiges Absurdium hinein verknüpfen können. Ich bewundere ihre frische Unverblümtheit, ihre Offenheit, ihre Frechheit. So ein Mensch ist mir schon lange nicht mehr gegegnet! Einige andere Freundschaften hingegen empfinde ich zur Zeit eher besorgniserregend zäh, von unerklärlichen Launen bewegt und deshalb abwählenswert, und auf eine merkwürdige Art bin ich auf der Hut vor Schelte.

Solch eine Schelte kann ich nur erahnen. Meine Gedanken kreisen oft weit außerhalb des Geschehens, auf das sich diese Welt geeinigt hat. Gestern vorm Geldautomaten hatte ich den Eindruck, mir ein Spielgeld aus der Kinderpost ziehen zu wollen. Natürlich befindet sich in der Anlage eine gewaltige Woge von Idee und Technik, eine technokratische Schöpfung ohne Seele, die, wenn man sich ihr bewusst wird, Angst erzeugen kann.

Ich war an einem Sonntag mit dem Bildhauer in der Kiesgrube, einem riesigen, irren Gelände, dessen Schätze tief ausgebuddelt waren, anderes wieder hatte man in Hügeln stehenlassen, um die sich schmale Wege zogen, deren Verlauf uneinsehbar war. So stand ich, während der Bildhauer weiter weg im Sand nach Pflänzlein suchte, allein, als zwischen zwei Böschungen, 20?30 Meter entfernt, ein junger Wolf entlangstrollte, äußerst entspannt, völlig angstfrei, mit weichen Bewegungen und einer Natürlichkeit, die mich tief berührte. Er sah nicht zu mir, sondern hatte seinen Kopf stolz nach vorn gerichtet auf seinen Weg, der ihn dann aus meinem Blickfeld führte. Noch nicht einmal zehn Sekunden dauerte diese Begegnung.

Den ganzen Tag und immer wieder ließ ich diesen Wolf in meinem Geist vorbeischlendern. Ich nehme diesen Ort für mich, schien er zu bedeuten, ich bin Teil der Natur, hierhin gehöre ich!

Was habe ich für eine Sehnsucht, mich ebenso zu fühlen! Mit einer Selbstverständlichkeit hier zu sein, an diesem Ort, ohne mich zu rechtfertigen, ohne Fakten erst abwägen zu müssen. Ohne Aufgaben. Ohne ein besonderes Ziel auf Wegen entlanggehen mit schwingendem Körper, ganz ohne Bündel oder Angst, mit graubraunem Fell, das mir so gut steht.




Samstag, 4. April 2020
Die Obstbäume des Elternhausgartens leuchten gelborange in der Mittagssonne, überwältigend üppig. Ich will die Szene unbedingt fotografieren und meinem Vater, wo immer er sei, einen wertvoll gerahmten Abzug schenken. Beim Aufwachen noch drängt mich das Vorhaben und nur langsam wird mir klar, dass es die Bäume nicht mehr gibt. Die Käufer des Hauses hatten schon vorletztes Jahr alles aus- und umgegraben, sogar die Bilder von g**gle Earth zeigen die aufgerissene Erde.

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Das alte Macbook von 2011 ist jetzt endgültig hinüber, beim Starten zeigt es erst einen grünlichen Apfel und danach schön ultramarinblaue Streifen. Im Spätsommer letzten Jahres hatte der Fachmann noch die allerletzte Möglichkeit des Platinenbackens unternommen und höchstens noch ein Jahr Laufzeit vorausgesagt. Jetzt benötige ich für das neue Airbook einen anderen 27-Zoll-Bildschirm, der vorige funktioniert nicht mit den neuen Anschlüssen. Ein Irrsinn, jetzt zu investieren? Mal sehen, ich möchte weiterhin gut ausgestattet sein, obschon ich fast gar kein Grafik-Design mehr mache. Auch sind mir nun die Ad*be-Programme nicht mehr zugänglich, die will/kann ich nicht mieten, habe aber die Affinity-Serie erworben, mit der ich schon seit einzwei Jahren arbeite.

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Auf allen Kanälen werden die kritischen Stimmen zum Seuchenhandling deutlicher. Die Petition, die die Erforschung und Sichtbarmachung der realen Zahlen fordert, scheint mir am seriösesten formuliert, hört sich auch für den hartnäckigsten mainstreamer nicht nach Verschwörung an, und hat in kürzester Zeit das Quorum erreicht.

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Ich lese wieder Franny & Zooey. Die Sprache beglückt mich so, dass ich fast weinen muss, dazu belebt sich eine traurige Erinnerung an die große Stadt im fernen Osten, in der ich ein halbes Jahr lebte. Die Prinzessin und ich hatten uns mit den Katzen der Nachbarschaft angefreundet, speziell die Familie um Mum-Cat, wie wir sie nannten, lag uns am Herzen, die nicht nur von uns, sondern auch von Leuten vom anderen Ende der Insel regelmäßig gefüttert wurde. Ich war wieder daheim im Frühjahr und SARS brach aus. Man hatte giftige Köder in der Stadt verteilt, um tierische Übertragungswege des Virus zu stoppen und nach ein paar Tagen fand die Prinzessin Mum-Cat tot im Rinnstein.

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Dudi berichtet von ihren Katzen, die nach dem Umzug und einem langen inhäusigen Winter ans Haus gewöhnt worden waren. Sie dürfen nun in den Garten und schauen sich fröhlich um beim gemeinsamen Mensch-und-Tier-Spaziergang durch die Umgebung, der ihnen zeigt, wo sie sich befinden. Während wir telefonieren, ertönt das Gemaunze von Fritz, der sich stets in unsere Gespräche mischt; ich bin überzeugt, er findet die Töne der (anderen) Sprache reizend, die sein Frauchen (nur) mit mir spricht.

(Ich erspare Ihnen hier ein weiteres Sternchen.)




Montag, 30. März 2020
Könnte, würde, sollte, möglicherweise... all das. Es schneit jetzt gerade. Und zwar fast echte Flocken. Solche, die man am Himmel erkennen kann, die dick sind und vor dem Grau etwas dunkler. Sie wären noch echter, blieben sie liegen, dazu ist es aber zu warm. Vorm Fenster steht der Ahorn in seiner hellgrünen Blüte, es sieht hübsch aus, wie die Flocken hindurchsinken.

Am Freitag war es so warm, dass ich beim Spaziergang die Jacke ausziehen konnte. Wir gingen zu zweit, die Sufi-Meditierende G. (die jetzt ihren eigenen Meditationen nachgeht) und ich. Sie erklärte, sie wolle unsere gemeinsame Freundin K., die zur Risikogruppe gehört, vor dem Virus schützen, wir könnten womöglich, obschon symptomfrei, Überträgerinnen sein. Sie wies mich dann zurecht: Ich solle mehr Abstand zu ihr halten. Ich ging halb auf der linken Seite des Spazierweges und wurde im nächsten Augenblick von einer Radfahrerein wütend zurechtgeschnauzt. Alle waren draußen und es war unmöglich, auf den schmalen Wegen Abstand zu halten. So trottete ich, nicht verstehend, was zwischen uns (spirituellen Freundinnen) vor sich ging, hinter G. her, im steten Versuch, ihr nicht zu nahe zu kommen. Wir hatten dann diese elende Diskussion über Fallzahlen, Ansteckungsgefahr, Todesfälle und Wahrscheinlichkeiten – inmitten schönster Frühlingsstimmung und nettester Ausblicke über Gewässer und Gänseauen. Am Ende war ich völlig gestresst von all dem Ausgeweiche und in der Nacht dachte ich bis weit nach Mitternacht über die plötzliche Fremdheit zu G. nach und ward völlig mürbe gegen zwei.

Der Bildhauer und ich verbringen das Wochenende auf meinem Schlafsofa, das wie ein Boot ist, mit dem wir die schlimmsten Wellen nehmen. Unsere mittägliche Ausfahrt durch die leere, nach dem Wetterumschwung wieder regengraue Stadt ist bedrückend und uns ist klar, wie sehr gerade solch eine Stimmung dazu beiträgt, jegliche Abwehr zu schwächen. Wir vermissen Kunst und Kultur bzw. das Schöne im eigentlichen Sinn, das ist jetzt in dieser Stadt nicht zu finden. Zurück zu Hause zünde ich Kerzen an, koche opulente Gerichte, es gibt genügend Wein, oder Bier, wie jeder mag. Wir lesen uns aus "Die Höhlenkinder" vor, ein Buch, das wir beide schon seit unseren jeweiligen Jugendzeiten als eines der wichtigsten erachten (während er die Versöhnungszene zwischen Peter und Eva rezitiert, weint er [und ich lache]), schauen Handwerksfilme des SWR und spielen Scrabble mit deutschsprachig klingenden Wörtern (Lebser, Sölgen, Harsel, Gurm u. a.)

Ich möchte im Moment keine Leute treffen, mit denen ich unterschiedlicher Meinung bin. Das ist mir schlicht zu nervig.




Dienstag, 24. Dezember 2019
Der Glaskörper ist am Augeninnenraum befestigt, mit ein paar Stichen aus Eiweißfasern oder so, und wenn im Alter der Glaskörper beginnt zu schrumpeln wie ein Apfel, dann lösen sich manchmal die Befestigungen. Es kann dann zu Blutungen kommen, die sich in den Glaskörper ergießen. Und so hat man dann dunkle Schlieren vor der Linse, die mit jeder Augenbewegung nervös mitzittern. Ich bin froh, dass es nichts Schlimmes ist, wie der Arzt mir versichert und weil ich trotzdem weine, bekomme ich von den Helferinnen ein Stück Mercischokolade. Das Niedliche daran kann ich in dem Moment nicht so richtig würdigen, sitze ich doch mit anderen im abgedunkelten Tropfraum und warte auf die zweite Stufe der Pupillenerweiterung, damit noch mehr des Einblickes in meine Seele stattfinden kann. Bin mit den Nerven am Ende. Ein optisches Gerät wird mir dann direkt auf die betäubte Linse gesetzt, das so mittels Gel darauf herumgleiten kann, damit auch nicht der allerkleinste Riss dem ärztlichen Auge entgehe. Das ist kein echter Spaß und noch als ich zuhause bin, bin ich geblendet.

So laufe ich mit nervigen Blutplocken durch die sowieso schon nervige Weihnachtszeit, vermeide das Sehen und warte auf Absorption, was ein paar Wochen dauern kann.

Ebenso warte ich auf Absolution. Zu diesem Zweck habe ich eine Therapie begonnen, die Gespräche, Aufstellungen und andere Psychomethoden nutzen wird, um mich von allen Sünden zu befreien. Die Therapeutin ist eine weltschlaue Frau Mitte 60 und vermag es wohl, in meine verwirrten Philosophien etwas Ordnung zu bringen. Es gibt Lächerliches aber ebenso vieles, das zum Weinen läd. Die ersten Gespräche beschäftigen sich natürlich mit dem Mutterthema, das mir mittlerweile wie eine unüberwindbare Mauer erscheint, hinter der ich mich gefangen fühle. Ich lese über Patriarchatsforschung und weine, ich höre Siddharta von Hermann Hesse und weine, ich betrachte Höhlenmalereien und weine. Es scheint mir alles durch und durch beweinenswert, und das ewige Gefühl eines namenlosen Unheils, das über mir schwebt will und will nicht weichen.

Möge ein Licht in die Welt getragen werden, mögen Sie alle, meine werten Leser, eine lichtvolle, friedliche Zeit verbringen, ohne Blutvergießen, ohne Leid und ohne Bosheit.




Freitag, 26. Juli 2019
Für ein paar Wochen überlässt uns E., eine Künstlerkollegin des Bildhauers, ihren Schrebergarten. Wir sollen uns wie zu Hause fühlen. Aus einer Albernheit heraus planen wir, ihr jeden Tag mehrere dubiose Textnachrichten den Garten betreffend nach Schottland zu schicken. … man kann trotzdem noch drin wohnen. Oder mach dir jetzt bloß keine Gedanken, aber… Statt dessen erfreuen wir uns an dem Unperfekten ihres Gartenlebens, in das wir uns geschmeidig einfügen, wir finden alles wohlgeordnet und zur Hand, machen Feuer in der Schale, grillen Zucchini, rösten Kartoffeln und zupfen Mangold und Ruccola, und schlafen später dort, im kleinen Steinhaus. Für Stunden liege ich unterm Apfelbaum und schaue durch seine Zweige in den Himmel, ist es nicht ein Wunder, dass wir atmen und dass der Himmel blau ist, der Bildhauer streicht die Stecken senfgelb über (später rosa) für ein Kunstprojekt, das im August startet, ich darf allein über die Form entscheiden, das Konzept hat sich aus unseren jeweiligen Handgelenken schütteln lassen und ich kann mir nichts Schöneres vorstellen, als weiter und weiter mit dem geliebten Mann zu gehen, zu sehen, wohin sich unsere Ideen entwickeln.

Als Ganzes ist der Garten ein perfektes Kunstobjekt, es ist stimmig, von den fleckigen Gartenhandschuhen, die auf der Fensterbank liegen bis zum zerbrochenen Brett des mittigen Tisches, von den zentimeterdicken Brettchen, die das Besteck im Kasten voneinander trennen über den Kloverschlag, auf dessen vorliegende Kiesdecke man pinkelt und duscht, dorthin wird auch das Abwasser geschüttet, das Große aber kommt ins Plumsklo und wird mit einer Handvoll Streu bedeckt, in der Küchenecke gibt es einen Tresen, aus dessen grob von Hand ausgesägter Rundung heraus man Dinge beschickt. Verteilt ums Haus sind Sitzecken, eine entzieht sich vollständig den Blicken der Vorbeigehenden, eine andere schmiegt ein simples Brett neben den Anbau, während der große Tisch mitten im Garten unter den Bäumen allen Erscheinungen offen steht.

Im Detail ist die Anlage unordentlich und nicht sauber. Wir reden über das Nicht-Perfekte und wie viel wir davon aushalten können, auch in unseren Wohnungen. Ich denke an meinen vor Jahrzehnten schon zerfressenen Holzboden, noch immer verdächtige ich einige überlebende Tierchen unterm vom Vater geerbten Perserteppich, man möchte vielleicht auch mal ebene Wände haben, in denen ein Schräubchen hält, um ein Objekt ansehnlich zu drapieren, und hier im Garten wird ebenfalls keiner dieser Wünsche erfüllt, es ist alles irgendwie provisorisch, die 50er-Jahre-Steckdose wackelt in ihrer Befestigung und die Vierkanthölzchen, auf denen die Glasscheiben ruhen, auf denen wiederum die Ölflaschen und schöne Gläser stehen, sind grob mit weißer Farbe bestrichen und stehen über. Es ist schön hier. Wir halten es gut aus, das Nicht-Perfekte. Wir denken an Schöner-Wohnen, wo jedes Kissen und jedes andere Dings genauestens derart entworfen wurde, dass man damit angeben kann, da fällt mir ein, dass der stinkreiche Stiefvater des Bildhauersohnes uns eingeladen hat, seinen Stinkreichtum (Haus, Auto, Boot oder so) zu bewundern, dazu müssten wir nach Stuttgart fahren, was wir sofort dankend ablehnen, denn I don’t want to socialize with this people wie schon seinerzeit die Prinzessin erklärte, als wir eingeladen wurden, nach der Vernissage des Exmannes der Bestenfreundin noch zu bleiben, was für ein Gedankenschwenk nach HK, wo alle diese Leute–usw, ich bewunderte die Prinzessin für diesen selbstbewussten Entscheid, den ich ein klein bisschen bedauerte, denn gern hätte ich mit ihr händchenhaltend dem socializing beigewohnt.

In allem freigelassenen Nicht-Perfekten wohnt die Vergänglichkeit. Hier wird nicht gegenangeputzt, -gebastelt und -gefriemelt, hier werden einfach zwei Blecheimer unter den Wasserhahn gestellt und staubige Schuhe übereinander und wir laufen hin und her und machen Kräutertee oder Kaffee, und sitzen hier oder da und sehen ihr zu.




Mittwoch, 29. Mai 2019
Komme mir neuerdings alt vor. Natürlich, als Teilnehmerin der babyboomer kann ich das auch. Ich könnte es auch lassen. Mich statt dessen einfach hinsetzen und so. Dem Gefühl, es ganz gewaltig verkackt zu haben, entfliehen. Und dann schauen, ob das wirklich eine Flucht ist oder was jetzt real ist und was maya. Jedenfalls, noch nehme ich teil und schaue Sendungen. Oder, wie soeben, dem Eichelhäher nach, der mit einem Gefährten durch die Hinterhöfe streift, fliegt und so guckt. Er soll aber nicht an meine Bienen, neulich musste ich schon wieder den Buntspecht vertreiben, von dem ich weiß, dass er gern die Deckel der Bienennester aufpickt. Sicherlich lecker, sind die Damen und Herren schon verpuppt? Dazu ein kleiner Vorrat an Pollen.

Ich treibe davon. In einer Talkshow, die ich bei utube sah, berichtet ein Mann über seine Nahtoderfahrung. Das war sehr schön. Er fühlte sich bedingungslos geliebt, was ja eher selten ist, gerade, wenn man dabei ist, zuviel CO2 auszustoßen und überhaupt die Umwelt durch bloßes am-Leben-sein unwiderruflich zu zerstören. Hoimar von Ditfurth behauptete schon vor 40 Jahren, dass es zu viele Menschen gibt. Ich bin erstaunt über die Radikalität seiner Forderung, nämlich einfach weniger Menschen zu sein. Sonst reicht es nicht.

Ich treibe davon und mag zur Zeit nicht meditieren, so als hielte mich eine große Kraft davon ab, mich an meinen Platz zu setzen und dann Ruhe. Sehnsucht nach Frieden und Bedingungslosigkeit, aber keine Erfüllung wegen all dieser drängenden Sachen (der maya).




Freitag, 27. Januar 2017
Es müsste hier mal wieder geputzt werden. Vielleicht kommt Dudi nächste Woche, die muss ja nicht in Staubflusen waten. Die vielen Wollobjekte des Haushaltes atmen überall hin und an einigen Stellen sammeln sie sich, vor der Badezimmerschwelle, da kommen sie nicht rüber oder unter der Heizung dort. So allgemein von Süd nach Nord. Es gibt auch einige Spinnen von jenen zarten kleinen, die dürfen gern bleiben, aber in der Küche gibt es schon feine Berührungen von Weben, am nackten Arm, den ich nach dem großen Glas mit Reis recke.

Es tut gut, die Aufmerksamkeit auf solche Dinge zu richten. Es gab eine Art overflow zu aufregender Gedanken an früher oder später, lange Telefonate mit Dudi über unsere Kindheit und Jugend, über die Eltern. Eine Weile neigte ich dazu, sie zu idealisieren, der Zweck möglichwerweise eine Art Versuch Frieden zu schließen – zu verzeihen. Dieses wunderbare Buch von Svenja Flaßpöhler, Verzeihen – Vom Umgang mit Schuld, verhalf mir zu Einsichten, die tatsächlich Frieden in mir auslösen konnten, ohne diesen Blick zurück, einfach in der Erkenntnis, dass ich keine Schuld habe. An nichts. Dass niemand Schuld hat. Dass Schuld ein Konzept ist, welches sich bei näherer Betrachtung in nichts auflöst. Da war dieser Moment, letzte Woche Montag, als ich nach einer schweren Nacht, da das Herz mit allen drängenden Gedanken dieser Welt gefüllt ward, aufsprang mit dem klarsten Satz ich muss dies alles gar nicht denken, und die Welt besteht nur aus unseren Gedanken!

Und ebenso plötzlich, das Herz war leer! Es war nicht einfach nur ein intellektuelles Erkennen der Nutzlosigkeit dieser Art des Denkens, sondern ein echtes, so zartes und trotzdem deutliches Gefühl in der Herzgegend, dass diese leer sei. Der gesamte Brustkorb sei leer. Wie nach einem Gewitter der Himmel wieder leer von Wolken ist, trotzdem gefüllt mit Bläue, so war das Herz, es war leer –

Den ganzen Tag verbrachte ich damit, die Aufmerksamkeit dorthin zu lenken, verbunden mit einem großen Staunen. Da war nichts, keine Sorgen, keines der Bilder über die siechende Mutter, die mich so quälen, nichts darüber, wie die Zukunft sein würde/könnte/sollte/müsste … so leicht hatte ich mich seit Jahren nicht gefühlt! Frei von Schwere! Nach all der Zeit!

Nun, war es wieder fortgegangen. Ich konnte es nicht halten. Nicht durch das Imaginieren der Leere im Herzen ließ es sich wieder herstellen, nicht durch Erinnern der Sorglosigkeit, nicht mit so tun als ob. Wieder kamen belastende Bilder zurück, Sorgen um die Zukunft – 
Allein, das Grübeln über die Mutter ist im Moment nicht (mehr) da.




Mittwoch, 2. März 2016

Dieses Bild soll den Beginn einer künstlerischen Zusammenarbeit mit dem Bildhauer kennzeichnen. Wir haben eine Idee, die (uns) nun schon seit Tagen trägt. Im September wird es eine Ausstellung geben. Wer weiß, was [von dieser Idee] übrig bleibt.