Dienstag, 24. März 2015


Viel Freude macht trotz allem die Beobachtung der Bienen, die jetzt, wo's wärmer wird, endlich schlüpfen.




Neulich ist die Mutter gefallen und lag die ganze Nacht auf dem Boden. Sie wollte unter der Spüle nachschauen, warum dort Wasser ausläuft, hat wohl das Gleichgewicht verloren und ist rücklings mit dem Kopf an den nächsten Schrank gestoßen. Sie hatte keine Kraft allein wieder aufzustehen, ist in unser ehemaliges Kinderzimmer gerobbt, hat sich dort in die Flokatis eingerollt und dort geschlafen. Jede Stunde hat sie versucht hochzukommen, dachte wohl, gleich, gleich geht es, und so verging die Nacht, bis ich morgens anrief und, nachdem ich sie nicht erreichte, den Nachbarn losgeschickt habe; der fand sie in dieser peinlichen Lage, half ihr auf, und obwohl sie das Problem abwiegelte, machte ich mich nebst Bildhauer auf den Weg zu ihr in die Heimatstadt. Etwas Pflege, etwas essen, Gespräche. Ihr ganzer Körper würde schmerzen, da ich aber keine blauen Flecke fand, denke ich, dass sie Muskelkater hatte von der Mühe beim vergeblichen Hochstemmen.

Jetzt sind die Schmerzen fort und mittlerweile trägt sie einen Notfallknopf am Handgelenk. Das entschärft die Sorge aber auch nur minimal, denn auf Nachfrage bei den Johannitern, ob auch ich sie im Notfall anrufen könne, erwidert man streng, nein, das sei ja ein Notfallknopf, den könne nur die Inhaberin selbst auslösen. Also wieder alles nicht so einfach wie gedacht: Schlüssel hinterlegen und einfach mal zum Nachschauen vorbeischicken, falls Mama nicht ans Telefon geht. Hoffen wir, dass sie sich traut zu drücken.

Ich habe immer mehr den Eindruck, dass sie Abschied nimmt. Wie klein sie ist, 46 Kilo wiegt sie und die Kraft kommt nicht mehr zurück. Trotzdem will sie weiterhin allein im Haus leben und irgendwie geht es ja auch. Na, Träumerle, frag ich, woran denkst du?, wenn sie wiedereinmal ins Leere schaut. Sie denke an den Tod und dass sie sich nochmal alles richtig ansehen müsse. Am nächsten Tag reißt dieser Satz an meinem Herz und mir laufen, wo ich auch bin, die Tränen.

Ich hab gedacht, es wäre einfacher, sie gehen zu lassen. Du musst nicht traurig sein, wenn ich sterbe, sagt sie, und ich behaupte, ich sei es auch nicht, ich würde nur nicht wollen, dass sie am Ende noch vor sich hinsiechen müsse. Das glaube sie nicht, sagt sie schlicht, und ich denke, das stimmt.




Freitag, 27. Februar 2015
Traurig bin ich, als ich von Mama zurückfahre. Habe zwar das Rad dabei, auf dem mein Blick die ganze Zeit ruht, der Details des Rahmens verfolgt und der mechanischen Elemente, so als könne dies die Rätsel der Welt lösen. Als wir zum Markt los sind, war es schon zu spät, ich weiß ja, dass wir mittlerweile für den Zehn-Minuten-Weg eine halbe Stunde brauchen, immerhin geht sie noch, aber fast muss sie weinen jetzt kann ich fast gar nicht mehr gehen, buchstäblich alle fünf Meter halten wir kurz, damit sie Kraft schöpfen kann. Ich muss sie drängen, um eins schließen die Stände, um viertel vor beschließen wir, dass ich allein weiter gehe und sie auf der Bank vorm 3.-Welt-Laden auf mich wartet. Wie üblich kaufe ich Frisches, in dieser öden Stadt gibt es sonst keinen Laden mehr, man muss raus aufs Land zu Edeka oder einer dieser Ketten, wo es nur Blödessen gibt und ich hab kein Auto. Ich könnte noch zum Bioladen gehen, der ist in okayer Spazierweite, aber Dudi sagt, Mama müsse ja nun kein teures Biofood mehr haben und kauft ihr immer Fertiggerichte von Penny, die ich dann nach Wochen wegwerfe.

Ein großer graugestromter Kater hatte sich in der Zwischenzeit zu Mama auf die Bank gesellt und lässt sich von ihr durchstreicheln, sein übergroßes Bedürfnis nach Nähe finden wir extrem niedlich, achtet er doch so gar nicht auf coolness, wie es sich für einen Kater seiner Statur gehören könnte, auch hat er einige Kampfesspuren am Ohr, ein gefährlicher Typ, aber er biedert sich an und wirft sich wieder und wieder an ihre Hüfte und genießt die Zärtlichkeiten ohne Hemmungen.

Unsere wöchentliche Tour führt uns weiter zum Mittagessen, abwechselnd zur Hausmannskost auf dem Dach des Kaufhauses, zum Indischen oder zum Fischbäcker, wo wir lange sitzen und viel reden. Danach Blumen kaufen, Banksachen erledigen, zur Marienstatue in den Dom, Kerzen anzünden und ein bissel beten. Weiter mit dem Taxi nach Hause, für den Rückweg zu Fuß reicht die Kraft schon lange nicht mehr. Daheim wird gebadet und geölt, dann gibt es Tee mit Kuchen vom Marktbäckerstand. Die Bedürfnisse, der Hunger, sind kleiner geworden, das Essen schmeckt nicht mehr besonders, aber das Süße mundet wohl. Ich setze sie, frisch gebadet, geölt und nackt, in Laken und Decken gehüllt, in ihren roten Sessel, stelle einen kleinen Tisch daneben und sie bedient sich und lässt sich von der Sonne bescheinen. Dort guckt eine kleine Schulter raus, ein Schlüsselbein, die Haut ist weiß und zart, und wer wollte, könnte da noch viel Liebreizendes entdecken.

Bis auf weiteres verknotet.

Am Abend fahre ich zurück, das Rad mit in der Bahn und mein Blick liegt auf den silbernen Speichen und dem großzügigen Profil der Reifen. Ich bin traurig, es gibt aber keine Worte oder keinen besonderen Grund, und ich will auch keine finden, ich hatte sowieso zu viel gegrübelt in den letzten Tagen, über die Arbeit an Webseiten, die ich nicht selbst konzipiert und gestaltet habe (Notiz an mich: das mache ich nie wieder), ob mich eine Beziehung spirituell weiterbringt oder über den Kapitalismus, der immer und immer weiter so macht, ich will das nicht mehr verstehen müssen und krieche todmüde ins Bett mit dem leisen Ruf: Lasst mich doch in Ruhe mit euren bescheuerten Webseiten!

Vorher hatte ich noch einer dieser schönen wissenschaftlichen Sendungen gesehen, die die These verfolgten, die Tierzeichnungen in Lascaux seien aus bzw. um Formen diverser Sternbilder gebildet, und ich wünschte mich direkt ins Neolithikum, allein, nichts anderes als den Sternenhimmel betrachtend oder den Mondverlauf und auf einem Knochenstück mit Punkten einen Kalender eingravierend. Vielleicht auch zu zweit, vielleicht mit dem Bildhauer, der ja Ähnliches tut, wenn er aus der Natur Formen erschafft. Hinweg die Frage, ob man zu zweit sein muss, die würde gar keine Rolle spielen, einfach weil wir zu zweit wären.




Mittwoch, 18. Februar 2015
  • Auf dem Sofa, lesend. Der Bildhauer hatte zu Weihnachten von seinen Mäzenen eine riesige Wolldecke bekommen, die ein Prinzessinnenbett abzudecken vermag, oder eine Jurte, und weil er aber Wolle nicht so gut am Körper haben kann, ist die Decke jetzt bei mir. Auch wenn man sie doppelt legt, ist sie immer noch groß genug für mich und so warm, dass ich mich bei Minusgraden und offenem Fenster nackt darunter verkriechen kann. Jetzt also lesend, bei einem starken Milchkaffee und einem Riegel Bitterschokolade.
  • Wir lesen uns gerade gegenseitig 1913 von Florian Illies vor. Als ich neulich länger schlief, hatte der Bildhauer sich einen Vorsprung angelesen und den hole ich jetzt nach. Wie wunderbar: Die Hauptakteure der Moderne, allesamt junge Frauen und Männer mit erheblichen Macken. Schön geschrieben und sehr lustig. Sogar Franz Kafka: haha. Ich weiß noch, mit welch großem Ernst (hier würde der Bildhauer jetzt mit matter Stimme und hängenden Mundwinkeln Ernst Barlach sagen, haha,) also, mein Deutschlehrer hatte mir Leseratte Empfehlungen mitgegeben, und so las ich mich eifrig durch Kafkas Hauptwerke. Von dem Ernst bleibt jetzt nicht mehr viel, Kafkas weinerliche Briefe an Felice Bauer erscheinen nurmehr menschlich und, tatsächlich, irgendwie absurd komisch. Vielleicht, weil ich Ähnliches durchgemacht habe und die Welt besser begreife als mit 17.
  • Drüben in Nachbars Bäumen baut sich das Elsternpaar ein neues Nest, gleich zwei Meter neben dem alten, das sicherlich ziemlich zugekackt ist oder anderweitig nutzlos geworden. Wenn die im Sommer wieder blöd kommen und sich mit den Katzen zanken, kann ich immer noch mit der Zwille rüber, aber so weit komme ich sicherlich nicht.
  • Wie das Licht langsam durchs Zimmer streicht, sehr langsam. Unglaublich, dass wir auf so einem rasend schnellen Planeten hocken und doch sieht man die Bewegung nur, wenn man lange schaut.
  • Frohes Neues Jahr – der Ziege. Jetzt wird es sicherlich Frühling.




Freitag, 13. Februar 2015
Allein mach ich das nie, im Bett frühstücken. Aber heute. Mit dem Bildhauer zusammen gibt's immer zuerst Kräutertee, wenn ich noch halb schlafe, dann, nach etwas reden oder lesen, Kaffee frisch gemalen und süßen Toast oder Croissants ans Bett. Wenn ich allein bin, steh ich sofort auf und spule das Morgenthema ab, duschen (oder auch nicht), oft raus zum lieben Italiener bei Peccorinobrötchen mit selbstgemachtem Pesto, oder daheim mit ayurvedischem Griesbrei in jeder Menge Ghee gekocht. Aber heute – Sonne scheint rein und löst langsam die depressiven Verspannungen der Nacht, ich weiß nicht, wo das Zeug immer herkommt, wie eine dunkle Wolke schwebt es über meinem Geist, aus Tagesresten, Unerledigtem und Sorge über Mama.

Es ist wirklich quatsch, sich Sorgen zu machen, das begreife ich mehr und mehr, und so kontraproduktiv. Wahrscheinlich haben die Sorgen rein gar nichts mit wahrem Geschehen und Gefühlen der Pflegeperson zu tun. Alles bloß Projektion. Alles meins. Wie schön es dann ist, sich tatkräftig zu kümmern, ein freundliches Telefonat über dies und das, Lebendigkeit streuen, unangestrengt und leicht. Wie im Zen.

– und jetzt aufstehen.




Donnerstag, 12. Februar 2015
undsoweiter, ich will machen. In der Planung sind verschiedene Projekte, unter anderem das Neukonzipieren meiner Website. Es soll Fotogalerien geben – aber schon die würden bedeuten, die Fotos zu sichten, ordnen und zu benennen. Dazu ein CMS installieren und so weiter. Ausufernd. Und bevor ich beginne, taucht die übliche Frage auf: Wozu? Dass ich ende wie die Busenfreundin, die seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten versucht, der Fotografien Herr zu werden, die im Laufe ihres Lebens entstanden sind, Unmengen von ihnen sicherlich bemerkens- und erhaltenswert. Mittlerweile beherrscht das Chaos im Arbeitszimmer sie statt umgekehrt, Grund genug auf steter Flucht davor zu sein, ihr Therapeut ist auch schon sauer. Oder nehmen wir die (ehemalige) Bürokollegin, ich mag gar nicht darüber schreiben, wie sehr ich leide, dass sie sich so verzettelt. Jetzt hat sie mit Handlettering angefangen und präsentiert mir unsägliche Titelentwürfe für ihr Buch, das sie seit vier Jahren machen will. Außerdem nimmt sie meine Workflow-Vorschläge nicht an. Verdammt, wie oft haben wir schon darüber geredet, erst eine Art Handmuster zu machen, mit Fotoabzügen, und so weiter.

Wahrscheinlich verirre auch ich mich gerade in den ziellosen Aktionen meiner Freunde. Undsoweiter. Ein gutes Wort. So funktioniert nämlich der Geist: Undsoweiterundsoweiter.

Lieber wieder aufs Sofa und weiterlesen: Zen in der Kunst des Bogenschießens, der Schüler-Klassiker von Eugen Herrigel. Vor über dreißig Jahren gelesen und jetzt neu gefunden. ..., dass es eine verschwenderische Fülle heilig gehaltener Zen-Texte gibt. Sie haben indessen die Eigenschaft, nur dem ihren lebensspendenden Sinn zu offenbaren, der aller entscheidenden Erfahrungen gewürdigt worden ist und somit aus diesen Texten herauszulesen vermag, was er unabhängig von diesen schon hat und ist. ... Zen kann somit wie alle Mystik nur von dem verstanden werden, der selbst Mystiker ist ... An diesem Text wiederum die eigene Entwicklung erkennen, macht gerade froh.




Freitag, 6. Februar 2015
In der Dämmerung erwachen und noch nicht wissen, welches Grau das ist, Dämmerungsgrau noch ohne Farbe, oder Schlechtwettergrau. Langsam nur macht es sich breiter und ich liege regungslos eingewickelt in Decken bei offenem Fenster und schaue, wartend. Erinnerungen an Lichtfarben in fernen Ländern. Hong Kong, viel früher als ich sonst aufzustehen pflegte, gehe ich raus auf die Straßen zum nächsten Geldautomaten. Dort dieses Licht, das auf ein paar Menschen fällt, die warten. Reflektiert noch von Mauern und Straßenbelägen. In Rishikesh, in der Stille sitzen am Lieblingsplatz und auf die Sonne warten, die über den Vorbergen des Himalaya aufgehen wird. Wieder dieses Licht, erst grau, unmöglich zu erkennen, ob es Wolken gibt, und dann der Moment, wenn das Grau bläulich scheint, erst nur eine Ahnung, dann, gefiltert von feinsten Partikeln, hellblau! diffus, aber schon mit der Gewissheit von weiteren minimalen Verschiebungen der Stimmungen, hin zu Glück.




Mittwoch, 28. Januar 2015
M. ruft seinem Bruder zu: "J., du musst noch schucken!" Mach ich ja, beruhigt dieser den Älteren und ich lache. Wie lange hab ich dieses Wort nicht mehr gehört! Schucken heißt zahlen und gehört zum Vokabular der Arbeiter, Sinti und anderer Bürger meiner Heimatstadt, Papa kannte und nutzte viele Wörter, wie ich mich jetzt erinnere und am Tisch taucht ein vertrautes Gefühl auf. Warum wir hier sitzen und essen, was J. später schucken wird, ist eher traurig – meine Tante ist mit über 90 Jahren gestorben. Meine Mutter ist nun die letzte Verwandte dieser Generation, alle anderen Tanten und Onkel sind lange tot. Vielleicht gibt es noch ein paar fernere, die ich nicht mehr kenne.

Mama und ich sind schon eher an der Kapelle gewesen und sehen J. und M., der von J. im Rollstuhl geschoben wird, auf uns zukommen, bei ihnen eine Frau mit ergrautem Prinz-Eisenherz-Haar. Ob J. heimlich eine Freundin hat? Wir begrüßen uns, ich umarme J., und die Frau reicht mir dann ihre Hand. Kennst du mich noch? Nee, sag ich und sie, ich bin doch deine Cousine U.! U. habe ich das letzte Mal gesehen, als ich sechs oder sieben war und sie schon über 20. Ich hatte damals nicht verstanden, wer das sein könnte und erinnere jetzt Fotos, auf denen sie zu sehen ist, mit dem gleichen Haarschnitt. Ich bin überrascht und freue mich sehr. U. ist die uneheliche Tochter von H., die von unserem Großvater A. wegen der Schande aus der Familie verstoßen wart. 1946 war das, und obwohl H. den Kindsvater nicht heiratete und auch nicht mit ihm zusammenlebte, schenkte ihr die Beinahe-Schwiegermutter ihren Familiennamen. Deshalb hieß U. mit Nachnamen immer schon anders als die anderen Kinder der großväterlichen Linie.

Ich finde das abenteuerlich und lasse mir beim Leichenschmaus mehr von ihrem Leben erzählen. Mir scheint, dass meine Tanten wahre Rebellinnen waren und die Homosexualität meines lieben Onkels H. macht die Familie noch beeindruckender. Und U. sei früh, mit 18, aus der Heimatstadt fort, weil sie es nicht mehr ausgehalten habe. Eine bunte Mischung hat mein Großvater da zusammengezeugt, vielleicht ist der alte Nazi aus Gram darüber so früh gestorben. Uns Tischgenossen eigen ist eine gewisse Familienähnlichkeit, und U. entschuldigt sich, dass sie mich so anglotzen müsse, ich sähe meinem Vater ja so ähnlich, das schmale Gesicht und wie ich so schauen würde. Auch die Augen eines anderen Gastes, einer langjährigen Mieterin des Großvaterhauses, liegen deshalb stets auf mir und geben mir das Gefühl, als hätte ich irgendwas im Gesicht. Eine Weile bin ich mir selbst fremd, so als wäre ich eine Schauspielerin in der Rolle meines Vaters. Strange.

Wieder einmal wird klar, wie sehr die zweite Frau meines Großvaters, die Mutter meines Nachzügler-Vaters, die Familie auseinandergebracht hat. Ihr war niemand recht, auch ihre Stiefkinder nicht, das beruhte wohl auf Gegenseitigkeit, einzig der schwule H. hatte sie als Mutter annehmen können, er war noch ein Baby, als seine leibliche Mutter starb. Die Matriarchin löste nach dem Tod ihres Mannes offenbar alle Bindungen zu den Stiefkindern, zog mit ihrem Sohn, meinem Vater, und uns zusammen und verurteilte alle(s) in Grund und Boden. Deshalb wusste ich mein halbes Leben nicht, dass J. und M. meine Cousins sind, sowieso war ihr peinlich, dass M. behindert ist, und auch meine Eltern haben nichts dazu beigetragen, Licht in die Verwandschftsverhältnisse zu bringen. Konformität mit der Greisin war bestimmt konfliktfreier so.

Umso mehr freue ich mich über meine neu erworbene Cousine. Es macht Spaß, mit ihr zu plaudern, da ist nichts Fremdes, ich kümmere mich die ganze Zeit kaum um Mama, die klein und mit glatten Teint neben mir sitzt und an ihrem Schnitzel rumschneidet. Ich will endlich meine Familie kennenlernen!

Wir bleiben doch in Kontakt, wünschen wir uns beide zum Abschied, J. hat in der Zwischenzeit alles geschuckt, auch den Kaffee und die Riesenportion Nachtisch, bedauern noch eben, dass wir uns erst jetzt getroffen haben und hoffen auf mehr davon in Kürze.




Montag, 26. Januar 2015
Am meisten betrübt es mich, dass meine Mutter (wie viele andere Ältere) sich nur wenig spirituell entwickelt hat. Ich hätte erwartet, dass eine wie immer geartete, fruchtbare Auseinandersetzung mit dem Tod (und somit dem Leben) sie in ihren letzten Lebensjahren stärken würde. So höre ich neuerdings immer häufiger die Klage was ist das denn noch für ein Leben? Dass es keine Philosophie gibt, mit deren Hilfe sie das eigene Leben zu reflektieren vermag, macht mich traurig. Ich habe mir immer vorgestellt, dass man am Ende frohen Herzens nach Hause gehen kann, zufrieden mit dem Gelebten und Gehabten und geduldig wartend, wenn der Körper beginnt sich zu verabschieden.

Früh wurden wir Schwestern vom Katholizismus genervt, zum Kirchgang gezwungen und auch zur Beichte, aber Vorbildcharakter hatte das Ganze für mich nicht, sondern deutlich den des Missbrauchs, denn Nächstenliebe wurde zwar gepredigt, aber nicht praktiziert, oder nur so, dass die Eltern selbst Empfänger für Nächstenliebe waren. – Da bin ich vielleicht ungerecht, aber in der Rückschau kommt es mir vor, dass eher wir die Gebenden waren – unsere Gaben aber waren durchdrungen von Schuld, und nicht Mitgefühl.

Ich kann das Schuldgefühl schlecht loslassen und würde mir wünschen, dass jemand mich davon befreit. Es kommt in Wellen und lässt mich oft nicht schlafen. Von meiner Mutter erwarte ich nicht mehr, dass sie mich freispricht. Statt essen erwartet sie von mir Linderung und Zuspruch, sprengt damit jede halbwegs vernünftige Grenze und lässt mich überfordert zurück. Diese Grenze zu setzen fällt mir schwer, und wenn ich es tue, habe ich Schuldgefühle. So dreht sich der Kreis immer und immer weiter.

Meine eigene Geistesschulung, die ich mir in den letzten Jahren gegönnt habe, betont Freundlichkeit, Geduld und Mitgefühl. Nicht zuletzt geht es darum, zu sich selbst lieb zu sein, zu Körper und Geist, in Gedanken, Worten und Taten. Mein Entschluss, mein sankalpa shakti, bleibt und wird bis zu Mamas Tod reichen.

Danach werde ich mich eine Weile fernhalten von solch nahen und verpflichtenden Bindungen.




Dienstag, 13. Januar 2015

Nach zwölf Jahren habe ich jetzt den HK'schen MacMug-Kalender von 2002/03 entsorgt (zu sehen hinten oben rechts; wie klein die Wohnung in einer der teuersten Städte der Welt, 1200 DM für knapp 30 qm). Bunt trägt er comicartige Illustrationen von Schweinen. Bedeutungsschwer, gewiss. Er erinnerte unter anderem an all die gesammelten Geburtstage. Ich werde keine aufheben, sondern vergessen sein lassen. Unter anderem Anderem ist er einer der Gegenstände aus meiner Zeit in der großen Stadt. Ein Dutzend Jahre her. Die Farben des Kalenders sind verblasst, nicht aber die inneren Bilder.

Erinnerungen – wie schön das Wort.

Im Moment besitzt das Leben hier eine friedliche Farbe. Trotz unheilvoller Geschehnisse weltweit. Es ist äußerst angenehm, die Dinge anders, nämlich aus einer Entfernung, wahrzunehmen. Es ist andererseits viel Gutes wahr geworden, das ich vor einem Dutzend Jahren mir nur erhoffen konnte. Wie lange es wohl noch schön bleibt, mit dem Bildhauer Zeit zu verbringen, mittags durch die Natur zu gehen, zu fahren, zur Zeit mit dem Auto, sobald das Wetter besser ist wieder mit dem Rad. Das Alleinsein bekommt dadurch eine andere Kraft und bleibt dennoch Bedürfnis. Es gibt immer wieder eine leichte depressive Unterströmung, ganz besonders, wenn ich Zeit nicht sinnvoll nutze.

Deshalb: Lass uns gemeinsam atmen.*

*rief eine Mutter in die Schreiorgien ihrer kleinen Tochter. Sie solle sich doch beruhigen. Gemeinsam atmen, das hilft bestimmt. (Das ist nur ein ganz kleines bisschen ironisch gemeint, am besten wir atmen jetzt alle mal gemeinsam.)




Freitag, 9. Januar 2015
Jetzt haben alle wieder Meinung und platzieren Grafiken und Sachen auf sämtlichen Profilen. Ich frage mich, wie Wahrheit überhaupt praktiziert werden kann, ungefärbt von Propaganda und verschwurbelten Berichten. Was bedeutet die persönliche Meinung überhaupt noch in einem von Massenmedien beherrschten Leben? Ich weiß nicht. Es ist mir beinahe peinlich, wie schnell eine markante Wortmarke zur Hand ist, die nun wie ein Wimpel zur Fußball-WM vertausendfacht im Wind steht. Schreckliches passiert (dauernd), und wir sollten gefälligst genau hinschauen, in wessen Namen eigentlich.

Hier sehen Sie ein Foto, das voll und ganz meiner persönlichen Meinung entspricht. Und?