Freitag, 14. August 2020
Ein paar hundert Kilometer entfernt hat ein kleines Wesen gestern Abend das Licht der Welt erblickt. Dass ich jetzt Großtante bin, will ich nur nebenbei erwähnen, denn dieses Menschlein hat sicher eigene Pläne, ohne mich. An diesem Tag wird verkündet, dass Israel und die Vereinigten Arabischen Emirate Frieden geschlossen haben.

Ich bin hauptsächlich Beobachterin all dieser Dinge, dadurch treten gewisse Teile der Persönlichkeit, die fordernden und wollenden, in den Hintergrund. In diesem Moment empfinde ich eine Art Entspannung, trotz des steten Gefühls, Teil einer Jugendbewegung zu sein in einer unerhörten Epoche zu leben.




Sonntag, 6. Oktober 2019
Saufen mit Dudi. Ich muss nachts nochma los, um Geld zu holen, weil Dudi in Holland 'pinnen' wir nur noch, aber hier nicht, wir drehen diesen Dialog ca. 80 mal, man droht uns Zechprellerei/Polizei an, obwohl wir (ich als Nachbarin auf Armlänge) einen glorreichen Abend mit Singen am Klavier ima Raucherraum usw. – die Chefin erkennt uns wg Alc. nicht mehr, ist aber gut bei Stimme – ain't nobody make me happy – Layla – Junimond. Morgen nochmal reden. #Dudi was für ein Hashtag




Donnerstag, 11. April 2019
Die Schulfreundin zitiert sich selbst, du machst mich nabeloh hätte sie ihrem Mann zugerufen, im Verlauf eines Problemgesprächs, nabeloh, ich höre auf, wieder so ein Wort aus alter Ferne, auch das kenne ich von meinem Vater, nabeloh machten wir ihn, verrückt. Nabeloh, schucken, meimeln, göbeln, beseibeln, Hacho – ich erinnere mich an viele Begriffe aus dem Rotwelsch, die auch in meiner Familie und meinem Freundeskreis benutzt wurden. Lustigkeit kommt auf, obschon nabelo bereits einen erhöhten Grad an Verücktgemachtsein beschreibt. Das Wörterbch, das die Schulfreundin besitzt, ist leider kein etymologisches, und so finde ich nabeloh als sehr geheimnisvoll, aus dunklen Tagen und mit nichts verwandt als dem hochgradigen Genervtsein meines Vaters.

Am Montag besuche ich, nachdem ich von der Schulfreundin komme, auch meinen noch trauernden Vetter J., ich muss feststellen, dass wir eigentlich nie zu zweit miteinander geredet haben, immer waren wir zu mehreren, sein Bruder M. war mit dabei, oder meine Mutter, schlimmstenfalls, als wir Kinder waren, wusste meine Großmutter, als zweite Frau unseres Großvaters, alle Familienverhältnisse zu verschleiern, denn mit M., dem Behinderten, wollte sie nichts zu tun haben, und auch U., unsere Kusine, hatte als uneheliches Kind der Stieftochter keine Schnitte bei der strengen Frau.

J. wohnt immer noch im großelterlichen, 150 Jahre alten Haus mitten in der Stadt. Dort ist es eng und das Wohnzimmer, als herrschaftliches Zimmer zur Straße gerichtet, was leider nach Norden, bedeutet, worein niemals die Sonne scheint, ist zudem mit langen Gardinen bedacht, die Möbel sind noch von damals und U. berichtet, dass sogar der Nippes der letzten Jahrzehnte unverändert an gleicher Stelle steht. J. hat Kuchen, den ich fast ganz allein esse und auch der Kaffee ist sehr lecker, das ist ja Tradition in unserer Familie. Tradition ist auch das aufbrausende Naturell, schon die Sendung einfachster Ausdrücke birgt Gefahr, als Reizwort bei J. anzukommen, worauf er sofort nabeloh wird und lauthals kontert, mit irgendwas. Wenn man es nicht persönlich nimmt, ist es wie bei einer Satiresendung, bei der man sich auf der richtigen, lachenden Seite wähnt, sobald man aber nicht aufpasst, bleibt einem das Lachen im Halse stecken, wegen der ganzen schlimmen Wahrheit, die drinsteckt.

Was wäre die schlimme Wahrheit bei J.? Ich kann es nur ahnen. Wir reden über Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, über Gott und die Welt. Er öffnet sich mir nur langsam, aber dass er es kann, macht mich froh. Er hat auf Ehe und Kinder verzichtet, die zu pflegende Mutter und der behinderte Bruder waren ja Familie genug, niemals hätte er beide im Stich gelassen, und die einzige mögliche Partnerin kam damit nicht klar und verließ ihn. Ebenso sehe ich einen älteren dicklichen Mann, der Ähnlichkeit mit meinem Vater hat, mit mir in seiner krumpeligen Küche sitzen, der schlau und belesen ist, kultiviert, mit einem großen, liebevollen Herzen, das mich zu Tränen rührt.




Montag, 22. Januar 2018
Dieses Wochenende bin ich bei meinem Bildhauer. Wir wechseln uns ab; wer des anderen Gast ist, braucht sich um nichts zu kümmern. Bekommt Leckereien aus der Küche gereicht, in der geschnibbelt und gekocht wird. Ein Gläschen Wein? Wärmflasche? Jetzt sitze ich im Wohnzimmer auf dem Sofa mit Blick auf die neueren Gelben Objekte und den Schreibtisch mit Gegenständen, die teils benutzt, teils bewundert werden können, wie Schnitzmesser, Schnüre, Astgabeln oder besonders geformte Steine und Versteinerungen. Gestern hatte ich mein Telefon zu Hause vergessen, Panik, ich muss doch erreichbar sein, falls Mama stirbt. Am Vormittag hat sie mich wieder nicht gehen lassen, sie klebt so an mir, gesteht mir ihre Liebe und ist sehr weinerlich dabei, es ist nur sehr schwer auszuhalten, diese Liebe, von der ich nicht weiß, wem sie wirklich gilt. Mit dem Argumentieren sollte ich aufhören: Nächste Woche kommt Dudi dich besuchen. Dann macht ihr wieder was Schönes. Sie könne sich nicht erinnern, kontert sie, hoffentlich sei die nicht so spröde wie ich. Spröde, lache ich halbwegs verzweifelt. Das Wort hängt mir lange nach.

Ich rufe dann im Heim an und gebe des Bildhauers Nummer durch, ein lustiger Dialog, weil ich für einen Moment seinen Nachnamen vergessen habe. Den nutze ich naturgemäß selten, wir siezen uns schon lange nicht mehr. Gerade kommt er rein und dreht die Tulpen zurecht, macht den Globus an und guckt, als ob er wüsste, dass ich über ihn schreibe.

Am Morgen träumte ich: In der Agentur, die mittlerweile von der Lieblingschefin komplett übernommen ward, entdeckte ich in einer Truhe einen Stapel Schneidematten, sie waren ein einziges Mal benutzt worden, um mit Kunden zu basteln, eine schmeichelhafte Werbeaktion. Ich empfinde das als große Verschwendung, eine Schneideunterlage ist für mich ein besonderer Schatz, der einiges kostet. Der Arbeitstisch ist mit Materialien überfrachtet, regelrecht zugemüllt. Ich rege mich total auf wegen all dem Kram. Ich brauche ja bloß ein Stück der hellblau karierten Reinzeichenpappe, die ich nicht finden kann.

Indes melden sich die Enkel des Kaisers auf meinem Handy, sie wollen Mama eine Weile nehmen, damit ich mal wieder ausschlafen kann. Ich weiß nicht genau, ob ich ihnen trauen kann, immerhin sind sie nur die Enkel und nicht der Kaiser selbst.

Ich schaue bei mir zuhause vorbei. Dort war ich anscheinend eine Weile nicht. Das Schlafzimmerfenster ist vorgekippt, und auf dem Fensterbrett steht ein größerer Blumentopf, aus dem etwas Grün sprießt, das Krautbüschel steht schief und ich will es geraderücken, da ist noch etwas anderes, vertrocknetes im Topf. Mit dem Finger pule ich dran herum, etwas braungraues, zerzaustes, strohig – zum Vorschein kommt der Kopf meiner Katze! Sie ist tot, unwiderruflich, ihre Augen nur noch vertrocknete schwarze Schlitze. Was für ein schrecklicher Anblick! Wie konnte ich meine geliebte Katze vergessen? Sie muss vor Wochen in dieser Wohnung verhungert sein, in der Blumenerde zum Sterben eingegraben. Wie ich das vor den anderen Menschen, die zu Besuch sind, verheimlichen kann, überlege ich wirr. Ich könnte den Topf (mit Katze) in den Biomüll werfen ... nur langsam wache ich auf und werde mir erleichtert klar, nur ein Traum.

Ihn zu deuten, ist einfach. Sorgepflicht vernachlässigt, vergesslich geworden gegenüber der Verpflichtung. Einer meiner größten (wenn auch eingebildeteten) Fehler gegen mein Liebstes.

Was denn mein Liebstes sei? Das weiß ich ja.

Am Mittag fahre ich mein Handy holen. Im Hof ergeht sich die schwarze Katze. Seit Monaten habe ich sie nicht gesehen, wir laufen aufeinander zu, Freunde, Freude, bücke mich zu ihr, winterdick, mein Gesicht dann voller nasser Nasenstüber, ich wühle und rieche in ihrem kurzen, festen Fell, das einige weiße Haare bekommen hat, sie maunzt, gurrt und schnurrt, versichert, wie lebendig sie ist – und ich erzähle ihr auch alles.




Dienstag, 14. November 2017
Sind selten geworden, die schlaflosen Nächte. Nach einer Stunde stehe ich um vier auf und mache mir einen Kaffee. Eigentlich mag ich es nicht, bei dem gleichen künstlichen Licht des Abends den frühen Morgen zu verbringen. Im Sommer wäre es jetzt schon hell. Vielleicht erinnert mich das an etwas, dazu die Kühle der Räume, die es noch nicht erlauben, ohne warme Kleidung tätig zu sein.

Dudi war da und erst jetzt, nach unseren lebhaften Gesprächen, begreife ich das Ausmaß der Verwirrung ihres Sohnes. Er hat sich in ein Leben manövriert, das wir nicht gutheißen, dessen Ausweg sich schlichtweg dramatisch darstellen wird. Wahrscheinlich. Es sei denn, er führte die Wende selbst herbei, aber nach all den aufwendigen* Vorbereitungen auf dieses Leben scheint das (noch) nicht möglich. Er spricht Drohungen aus, wenn du Papa davon erzählst, bin ich weg. Was dieses weg bedeuten könnte, bleibt angedeutet. Dass wir Mitwisserinnen sind, macht die Sache auch nicht einfach eher noch komplizierter.

Bei der schlaflosen Grübelei (hin- und wieder umgedreht, und nochmal und nochmal) stehen mir die Lebenswege verschiedener geliebter Menschen klar vor Augen. Eine Art Unausweichlichkeit begleitet das Bild – einmal auf die Schiene gesetzt, scheint es keine Weiche zu geben. Natürlich gibt es die, ein Stellen erforderte wohl aber noch mehr von dem Mut, den es benötigt hatte, das Chaos erst anzurichten.

Ich ringe um eine Haltung. Die Frage, ob und was wir hätten anders machen können, führt uns nicht weit. Denn es geht gar nicht um uns (oder unsere Schuld), sondern allein um die jeweilige geliebte Person, die uns bekümmert. Genauso wie wir gern selbstbestimmt leben wollen, so möchten das auch jene; das Mütterlein, der Sohn/Neffe, ferner die Busenfreundin, die Buddhistin. Ist das so gedacht? Dieses selbstgewählte Leben erfahren wollen mit allen Konsequenzen? (Dudi behauptet dann meist, sie hätte ihres nicht selbstgewählt, es sei eine Entscheidung unserer Eltern gewesen. Darauf kann ich nicht eingehen, ohne mich aufzuregen. Auch dies wäre eine Einmischung.)

*Ich suche noch nach einem ähnlichen Wort für das obige aufwendig, denn das folgende Wende klingt mir zu gleich. Das Synonymwörterbuch schlägt mir erstklassig, exquisit, exzellent, feudal, fürstlich, komfortabel, prunkvoll, teuer, überreich, üppig, wertvoll, lukullisch, aufwendig, auserlesen, ausgesucht, luxuriös vor. Das erhellt mir den Morgen. Was, wenn es mir gelänge, das Leben meines Neffen als all dieses zu würdigen? Auserlesen? Auserlesen aus all den möglichen Leben.

Immer noch klarer wird mir, dass ich nicht Schuld bin, Schuld sein kann. (Ich mit meinen ewigen Schuldgefühlen.) Wenn ich endlich akzeptieren könnte, dass jeder sein Leben full on lebt, genauso wie ich es tue/versuche zu tun, bin ich frei von Schuld am Leben/Sterben/Glück/Unglück der anderen. Und wenn ich im letzten Schritt (oder bereits im Voraus) den Begriff Schuld in die weitaus selbstbestimmtere Verantwortung wandele –
es fällt Last von mir.




Mittwoch, 8. November 2017
Könnte man auch Vereinfachungen nennen. Die Wiederholungen. Durch einen festen Wochenplan sich arbeiten, um dann –
Zweimal die Woche Besuch bei dem Mütterlein, das auch durch wiederholtes Zu- und Einreden nichts mehr von der Mutterschaft weiß. Kusine U hat mir das Fotoalbum meiner Tante Ch, Mamas ältester Schwester, überlassen, jene schon seit dreißig tot, der Mann dazu, Onkel H, möglicherweise seit 20 Jahren oder so. Mein Lieblingsbild dieses Albums zeigt Mama mit ihrer Schwester vor einem Gebüsch stehend, lachend, Mama beinahe prustend, mit einem seltsamen Kleidungsstück, dessen Muster mir sehr vertraut ist, ähnlich dem der kleinen Küchengardine im Elternhaus, das den Jalusienkasten verdeckte. Vielleicht habe ich beim Versteckspielen im Kleiderschrank gehockt und es wartend studieren können. Mama wirkt sehr jung, vielleicht war ich noch gar nicht geboren, und sie hat das kasakartige Teil lange aufbewart. Obwohl sowieso nicht übermäßig groß, ragt sie einen halben Kopf über den von Ch.

In diesen Zeitgefilden mag die Mutter stecken. Natürlich kann ich ihr dorthin nicht folgen, sie lebt ein Leben, in dem es mich nicht gibt. Sie versteht wohl nicht, dass ich so viel später geboren bin und ihr aus meiner Erinnerung nicht mehr antworten kann, nur aus ihren Erzählungen. Und so entfernt sie sich von mir. Längst bin ich nicht mehr so ängstlich, was ihr Wohlbefinden betrifft. Vor zwei Besuchen berichtet sie, wie sehr sie geweint hätte. Weil doch Weihnachten sei und niemand mehr käme. Ob ich nicht bemerkt hätte, wie verheult ihr Gesicht ausgesehen habe. Nein, ja, wir weinen alle, manchmal.

Die Fotos mit den falschen Erinnerungen bringen zurück, mit welcher Wut mein Neffe reagiert hatte: Und wo war ich da? Wir Schwestern selbst noch Kinder, im Garten spielend, oder vor Rosen posierend. Es gelingt mir nicht, sein Gefühl des Ausgeschlossenseins zu zerstreuen (ich glaube, ich schrieb davon schon einmal). Wo war ich vorher? Wo komme ich her?
Fragt das Kind wieder und wieder.

Solches versuche ich seit meinem Abschied von spirituellen Lehrern allein zu erforschen. Das gute Dutzend an Jahren, die ich mit dem Studium der Schriften und der Übung verbracht habe, soll mir dabei nicht wertlos sein. Ich kenne Begriffe des Körpers und des Geistes, Merkmale dieses oder jenes Zustandes. Ich weiß seit jeher, dass es sie gibt, früher namenlos. Zusammenfassend möchte ich gern behaupten, gern ausrufend es jemand an den Kopf werfen, dass man einen Berg auch besteigen kann, ohne seine Etappen, Vorsprünge und Aussichten namentlich zu kennen, man geht einfach diesen oder jeden Weg. Ihn gehen, dabei schlichtweg (von) Sachen wissen, das ist alles, was es braucht.




Sonntag, 1. Oktober 2017


Klaubt ein kleines rostiges Eisenteil vom Wegesrand und drängt es mir auf. Neben dem auseinandergebrochenen Wacholderstrauch mit dem Findling davor eines der letzten authentischen Objekte auf dem Hof, behauptet er. Dem Hof meiner Vorfahren in St.. Der Bildhauer begeleitet mich auf dem Weg in meine Familiengeschichte. Auf dem, wie ich nachlese, 110 ha (früher 250 ha) großen Gelände befindet sich nun ein Gestüt. Das Haupthaus wurde im Jahre 2002 komplett saniert, das alte offensichtlich abgerissen und genauso nachgebaut – ein langes Fachwerkhaus mit Querhaus am Ende. Sogar das Fundament aus Sandstein könnte neu sein, er ist hell und die Kanten der Quader kein bisschen gerundet. Über dem Haupttor der Balken mit der Inschrift, den Namen meiner Vorfahren, Jahreszahl und ein christlicher Spruch darunter. Auch der Balken ist neu, nur an den Enden erkennt man noch ein Stück angesetztes, verrottetes rauhes Eichenholz mit Eichenlaubschnitzerei. Der jetzige Inhaber muss ein Vermögen in den Neubau gesteckt haben! Niemand ist auf dem Gelände, irgendwann aber kommen nacheinander eine junge Frau und ein älterer, bäuerlich aussehender Mann mit ihren Autos zurück, ich stelle mich vor als eine späte Nachfahrin der Sch. und ob wir ein wenig herumspazieren dürften. Man lächelt und gibt uns Erlaubnis. Alle anderen seien auf Turnieren unterwegs, es wäre niemand zu Hause. Ich hatte schon scheu geklingelt.

Es ist eine seltsame Reise. Zwei Tage zuvor waren wir bei Kusine H. am Dümmersee zu Gast. Wir kennen uns nicht. Und wir sind neugierig aufeinander. Sie ist knapp 70 und wir entdecken jede Menge Gemeinsamkeiten in unseren Lebensentwürfen. Sogar mein lieber Bildhauer kann mitreden, hat H. doch auch Kunst studiert, zumindest in Beuys’ Nähe. Den Fotokoffer habe ich dabei und sie erzählt mir, während wir Bilder betrachten, von unseren Urgroßeltern und den Tanten, die Geschwister ihrer Großmutter und meines Großvaters, also eigentlich unsere Großtanten, zu neunt waren sie. Noch immer kann ich die Tanten nicht richtig auseinanderhalten. Anna, H.s Großmutter, erkenne ich mittlerweile an der besonders breiten Nase, die nächste hat ein schmales Gesicht und dunkle Augenringe und vielleicht mir am ähnlichsten, eine andere meist mit freundlich-breitem Lächeln, und jene Zurückhaltende, Hübsche, Vornehme, die seltener auf den Bildern zu finden ist. Und immer im Zentrum Urgroßmutter Henriette, mit straffem Mittelscheitel und eines der Kinder nah bei sich. Die Männer sind leichter zu erkennen, mein Großvater August, sein dicker Bruder und ganz selten dabei der Onkel, der nach Südamerika ausgewandert ist. Der Grund seiner Auswanderung, ein mögliches Zerwürfnis mit meinem Opa (der in der Partei), wie ich es mir ausgemalt hatte, war ein anderer: Er wollte mit seiner jüdischen Frau fort in eine bessere Zukunft. 1938 war das.

Wie H. mir, beinahe hinter vorgehaltener Hand, berichten konnte, hatte mein Opa, der zweitälteste der neun Geschwister, allerdings Anteil daran, was ich H. als ein Gefühl des Abgeschnittenseins von den Aktivitäten der Tanten bzw. dem Rest der Familie, beschrieb: Er lieh sich von einer der Schwestern 30.000 RM und zahlte sie nie zurück! Grund genug, von der Sippe ausgeschlossen zu werden. Die Nachfahren meines Opas August waren sich in der Folge genausowenig grün. (Und hier komme ich ins Spiel: Ich beabsichtige, so viele der Familienangehörigen wie möglich aufzusuchen, wenigstens zu kontaktieren, und mir ihre Geschichten anzuhören.) Eine andere Sachlage ist das vermehrte Auftreten von Homosexualität in unserer Familie, so etwa drückt H. das vorsichtig aus. Eine Freude überkommt mich. Ich versuche zu erklären, dass (fast) mein halber Freundeskreis aus lesbischen Pärchen besteht, und daher eine gewisse Affinität ähm, bei mir. Wir beleuchten die These, dass mein Onkel H. mit dem berühmten Sänger Freddy Q. nicht nur befreundet war, sondern richtig ‚befreundet’. H. ruft sogar einen ihrer Cousins an, um den Wahrheitsgehalt zu überprüfen, und H. wäre auch forsch genug, Freddy selbst anzurufen, um nachzufragen. Immerhin lebt er noch, wie wir mit einem schnellen Blick ins Interweb feststellen. Ich fühl mich mittendrin. Als wären wir eine große Familie. Wir sind ja auch eine große Familie. Es ist fast so als seien die Tanten auch dabei und sitzen mit uns über Apfeltarte mit Schuss und Chai nach einem tibetischen Originalrezept. H. zeigt noch Fotos von einem tibetisch-indianischen Powow in Kanada, an dem sie teilgenommen hat. Haben sich doch beide Stämme der gemeinsamen Wurzeln erinnert und das Widersehen zelebriert. Wiedersehen überall.

Irgendwann müssen wir aber los. Mein armer Bildhauer, der natürlich schon längst den Überblick über meine Verwandtschaft verloren hat, wird müde, und ich auch. Wir machen uns auf den Weg nach OS zu seiner Schwester. Ein wundervoller Sonnenuntergang begleitet unseren Weg durch gemeinsames Heimatland.

Auf der Rückfahrt Richtung St. (und dem alten Gut) kommen wir über D., wo die Tanten aufgewachsen sind und lange gewohnt haben. Die Tochter des dicken Onkels wohnt immer noch dort, ich habe ihre Telefonnummer dabei, aber ich rufe sie nicht an. Eine Ortskundige, die wir ansprechen, weiß noch über den dicken Onkel zu berichten, der besaß eine Kneipe und wenn der die Teufelsgeige herauskramte, gab es kein Halten mehr. Das Haus steht auch noch, aber es ist aufs Schlimmste renoviert, die Fensterbögen sind zugemauert, das große Wagentor zwei Fenstern gewichen, die früher ausladende Treppe nur noch ein blödes Stufendings, und überall weiße Kacheln! Die Ortskundige ermuntert mich, nebenan im Architekturbüro zu klingeln, dort arbeitet eine der Archivarinnen des Ortes. Als ich klingele und meinen Namen ausspreche, geht sofort der Summer und wir werden freundlichst empfangen. Dass mein Name in einer mir völlig fremden Stadt noch Türen öffnet, ist mir ein großer Schatz!

Daheim wühle ich wieder durch die Fotos und versuche sie zu ordnen. Mit einigen davon möchte ich ein halbwegs aussagekräftiges Album zusammenstellen. Vielleicht nehme ich auch H.s Bilder von der CD dazu und mache eine digitale Version. Die kleine (meine) Mutter indes erinnert sich nicht mehr an Ehe oder Kinderaufzucht. Das gehörte ja sowieso nie richtig zu ihr, sagt sie. Das Angeheiratetsein meint sie bestimmt. Sei’s drum. Ich träume, dass ich meinen Cousin J. in der Firma besuche, die Pförtnerin findet ihn nicht an seinem Platz und der Bildhauer und ich laufen durch ein lichtvolles Firmengebäude im Bauhaus-Stil mit kunstvollen dreifachen Baumsilhouetten-Spiegelungen, um ihn zu suchen.




Montag, 28. August 2017
Ich vertreibe mir die Zeit mit der Herstellung diverser Sirup-Sorten, heute gibt es welchen von der Holunderbeere. Außerdem vertreibe ich mir die Zeit mit Ahnenrecherche. Eine Frau mit meinem Nachnamen hatte ich schon 2010 über fb angeschrieben und jetzt meldet sie sich, ob es for real wäre. Wir beide sind gleich erfreut, als wir Dank alter Unterlagen (u. a. in den Papieren meines Vaters) herausfinden, dass wir die gleichen Urgroßeltern haben. Ihr Opa ist 1938 nach Venezuela ausgewandert und seine Nachfahren bestehen aus vier Kindern mit ein paar wenigen Enkeln. Jene Kusine wohnt heute in Equador. Mein Vater hatte es uns vor Jahren schon erzählen wollen – seine Vorfahren besaßen einen Hof in Westfalen, der bereits im Jahr 1147 beschrieben wurde und über 800 Jahre im Besitz der Familie Sch. gewesen war, bis er in den Kriegsjahren mangels rechter Bewirtschaftung verkauft werden musste. In späteren Jahrzehnten wurde dort Geflügelwurst hergestellt und nun befindet sich am selben Ort ein Gestüt.

Die Stengel der Holunderbeeren sehen aus wie rote Adern, die jemand aus Körpern herausgezogen und zum Trocknen aufgehängt hat. Oder wie Zweige von Stammbäumen. Der Chronist der Sch.’schen Ahnen hatte mit bestem Wissen und Gewissen noch 1940 von Blut und Boden geschrieben, dem er sich eher zugehörig fühlt als seine Vettern, die als Stadtmenschen kaum mehr an der Scholle hingen. Ein anderer entfernter Vetter, heute 70-jährig, hat den Stammbaum in den letzten zehn Jahren weitergeführt, digital erfasst und auf seiner Website zugänglich gemacht. 22.858 Personen in 8.625 Familien. Natürlich ist mein Familienname dabei und ich bitte Herrn Sch. per Mail, noch ein paar Daten meiner Familie hinzuzufügen. Auch von meiner Mutter finde ich Abschriften von Heiratsurkunden ihrer Vorfahren, die als Abstammungsnachweis in den 40ern angefertigt wurden, und nun kenne ich auch die Namen der Ur- und Urgroßeltern der mütterlichen Linie.

Ahnenverehrung gibt es auf der Welt anscheinend bei allen Völkern, nur nicht bei uns. Wen sollte man auch verehren können, über den nicht geredet wurde oder der selbst nichts mehr erzählt hat, weil er unter schauerlichen Kriegserlebnissen verstummt war oder anderes zu verbergen hatte, vielleicht als Täter oder Mitwisser. Dass mein Opa in der Partei war, sieht man auf Fotos am stolz präsentierten Abzeichen am Revers. Und Mama konnte sich an Onkel H. (den Venezulaner, es war der Onkel meines Vaters, sie ist ihm nie begegnet) nur in sofern erinnern, dass nicht über ihn gesprochen wurde. Was es bedeutet, wenn sich 1938 jemand vom Acker macht, könnte man sich denken. Ich hoffe, dass meine Kusine mir mehr dazu erzählen wird. Die Großelterngeneration bestand aus neun Geschwistern, drei Männer und sechs Frauen, einige ledig, andere verheiratet und deshalb fremden Namens. Auch ihre Gesichter erkenne ich nun auf den vergilbten Fotos wieder.

Jede/r meiner Ahnen hatte ein Leben, sei es glücklich gelebt oder vertan. Mein eigenes verliert durch meine Nachforschungen und Erkenntnisse an Wichtigkeit, trotzdem aber stellt es mich vor alle anderen 22.858, weil ich derzeit am Leben bin. Ich werde das Beste draus machen.

Nachtrag: Seltsamerweise existieren von meiner Großmutter väterlicherseits kaum Familiendaten. Ich habe sie natürlich noch kennengelernt, immerhin wohnten wir über 20 Jahre mit ihr nicht besonders glücklich zusammen im Eineinhalbfamilienhaus. Ich mochte sie nicht besonders, und ich habe sie kaum je etwas Persönliches gefragt. Sie war die zweite Frau meines Großvaters, und zuerst als Kinderfrau für seine vier halbwaisen Kinder eingestellt. Praktischerweise heirateten sie später und zeugten meinen Vater. Gestern fiel mir ein kleines Gebetbuch in die Hand, ein Andenken an Omas erste hl. Kommunion, ihr Name ist eingedruckt. Im Büchlein liegen zwei Sterbekarten. Solche Karten wurden wohl anlässlich der Beerdigung unter den Trauernden verteilt. Es gibt vorn ein Heiligenbild und auf der Rückseite einen Sinnspruch, gefolgt vom Namen der/s Verstorbenen und die Geburts- und Sterbedaten. Auf jeden Fall hatten beide Personen einen christlich-frommen Lebenswandel geführt und waren durch die hl. Sterbesakramente wohl gestärkt. Es handelt sich bei den Toten um ihren Vater und ihre Großmutter, nach deren Namen ich vergeblich gesucht hatte. Ich weiß, dass meine Oma bei ihren Großeltern aufwuchs, die näheren Gründe kenne ich auch hier nicht. Vielleicht war die Mutter früh gestorben und der Vater hatte sie zu den Großeltern gegeben. Mir scheint, die Familie ist durchzogen von früh gestorbenen Erstfrauen mit gemeinsamen Kindern, von Zweitehen mit weiteren Kindern. Auch der venezuelanische Onkel H. wies diese Konstellation auf.




Dienstag, 1. September 2015
Heute hätte ich Mama zu Hause angerufen, sie wäre von ihrem Sessel hoch, hätte das Telefon genommen und ich hätte ihr aufgeregt erzählt, wie mein erster Arbeitstag als Ausbilderin war. Sie hätte mich ermutigt, hätte mir zugestimmt, mit mir gelacht und mich beschwichtigt, wenn nötig. Ich hatte so ein großes Bedürfnis in ihre Arme zu sinken und mich tragen zu lassen. So sollte eine Mutter sein. Dieser Impuls, dieser Wunsch, sie anzurufen und dass alles so wie früher sei, Perserteppiche unter ihren Füßen, Gardinen vor dem Fenstern und nebenan die Küche, brachte mich beinahe zum Weinen.

Statt dessen sehe ich mich mit ihr auf der Bank sitzen, gestern abend, sie lehnt ihren Kopf an meine Schulter, wir haben zwei Kissen unter, die Bank steht ein wenig abwärts und mein Ischias tut weh. Die Bank steht schräg im Garten des Stifts, in dem sie nun wohnt, vielleicht nicht für immer, wer weiß, wir sind still und beobachten die Kaninchen, die sich gegenseitig jagen. Ich streichele ihren Arm und ihren Kopf, als wäre sie mein kleines Mädchen.

Eine Gutachterin vom medizinischen Dienst war wieder bei ihr, diesmal gibt es neue Phrasen, Alltagskompetenz stark beschränkt, nimmt ihre körperlichen und seelischen Bedürfnisse nicht wahr, ich finde mich in meiner Rolle als die Stärkere noch nicht zurecht. Dazu habe ich jetzt zwei Auszubildende, denen ich Vorbild sein soll, und so manches Mal an diesem Tag weiß ich nicht, wie das gehen soll.

Die Katastrophe war nicht ganz so groß, Mama war im Keller gestürzt und lag, als meine Schwester ankam, mit Blutergüssen übersät, im Bett, sie hat keine Erinnerung, wie sie aus dem Keller hochkam, auch nicht an die Woche im Krankenhaus und nicht, dass Dudi und ich sie in der Woche danach gepflegt hatten. Es macht mich fertig, dass ich mich nicht erinnern kann, ruft sie, und wir berichten ihr mehrmals. Dudi und ich beschließen, dass sie nicht mehr allein leben kann, und ich finde noch vor dem Wochenende ein Heim in meiner Nähe, 15 Minuten mit dem Rad, wir ziehen mit ihr um, packen heimlich Sachen zusammen aus Angst, dass es ein Drama gibt und weil wir nicht wissen, was sie überhaupt mitbekommt. Während der Fahrt weint sie eine Weile bitterlich und es will mir das Herz zerspringen, dann wieder wendet sich die Stimmung, der Bildhauer macht einen lieben Witz und wir lachen.

Ihr Zimmer ist zweckmäßig und doch gemütlich mit Erker, in den am Mittag die Sonne scheint, Dudi breitet sich schon in Mamas zukünftigem Bett aus und will am liebsten bleiben. Die mitgebrachten Lampen versprechen Heimeligkeit, draußen fährt die Straßenbahn vorbei, die zu betrachten bald zu Mamas Lieblingsbeschäftigung wird. Vergessen sind die bösen Vorwürfe, ihre weltfernen Vorschläge, wir könnten doch alle zusammen im Elterhaus wohnen und von ihrer Rente leben. Vergessen auch die Unmengen von Lebensmittel, die ich wöchentlich besorgt und in der nächsten Woche wieder weggeworfen habe, sie hat eigentlich kaum mehr was gegessen. Jetzt beginnt der dritte Monat ihres Wohnens im Heim. Und jetzt erst kann man sagen, dass wir alle langsam zur Ruhe kommen. Wie gut das Abgeben tut.




Dienstag, 24. März 2015


Viel Freude macht trotz allem die Beobachtung der Bienen, die jetzt, wo's wärmer wird, endlich schlüpfen.