Mittwoch, 28. Januar 2015
M. ruft seinem Bruder zu: "J., du musst noch schucken!" Mach ich ja, beruhigt dieser den Älteren und ich lache. Wie lange hab ich dieses Wort nicht mehr gehört! Schucken heißt zahlen und gehört zum Vokabular der Arbeiter, Sinti und anderer Bürger meiner Heimatstadt, Papa kannte und nutzte viele Wörter, wie ich mich jetzt erinnere und am Tisch taucht ein vertrautes Gefühl auf. Warum wir hier sitzen und essen, was J. später schucken wird, ist eher traurig – meine Tante ist mit über 90 Jahren gestorben. Meine Mutter ist nun die letzte Verwandte dieser Generation, alle anderen Tanten und Onkel sind lange tot. Vielleicht gibt es noch ein paar fernere, die ich nicht mehr kenne.

Mama und ich sind schon eher an der Kapelle gewesen und sehen J. und M., der von J. im Rollstuhl geschoben wird, auf uns zukommen, bei ihnen eine Frau mit ergrautem Prinz-Eisenherz-Haar. Ob J. heimlich eine Freundin hat? Wir begrüßen uns, ich umarme J., und die Frau reicht mir dann ihre Hand. Kennst du mich noch? Nee, sag ich und sie, ich bin doch deine Cousine U.! U. habe ich das letzte Mal gesehen, als ich sechs oder sieben war und sie schon über 20. Ich hatte damals nicht verstanden, wer das sein könnte und erinnere jetzt Fotos, auf denen sie zu sehen ist, mit dem gleichen Haarschnitt. Ich bin überrascht und freue mich sehr. U. ist die uneheliche Tochter von H., die von unserem Großvater A. wegen der Schande aus der Familie verstoßen wart. 1946 war das, und obwohl H. den Kindsvater nicht heiratete und auch nicht mit ihm zusammenlebte, schenkte ihr die Beinahe-Schwiegermutter ihren Familiennamen. Deshalb hieß U. mit Nachnamen immer schon anders als die anderen Kinder der großväterlichen Linie.

Ich finde das abenteuerlich und lasse mir beim Leichenschmaus mehr von ihrem Leben erzählen. Mir scheint, dass meine Tanten wahre Rebellinnen waren und die Homosexualität meines lieben Onkels H. macht die Familie noch beeindruckender. Und U. sei früh, mit 18, aus der Heimatstadt fort, weil sie es nicht mehr ausgehalten habe. Eine bunte Mischung hat mein Großvater da zusammengezeugt, vielleicht ist der alte Nazi aus Gram darüber so früh gestorben. Uns Tischgenossen eigen ist eine gewisse Familienähnlichkeit, und U. entschuldigt sich, dass sie mich so anglotzen müsse, ich sähe meinem Vater ja so ähnlich, das schmale Gesicht und wie ich so schauen würde. Auch die Augen eines anderen Gastes, einer langjährigen Mieterin des Großvaterhauses, liegen deshalb stets auf mir und geben mir das Gefühl, als hätte ich irgendwas im Gesicht. Eine Weile bin ich mir selbst fremd, so als wäre ich eine Schauspielerin in der Rolle meines Vaters. Strange.

Wieder einmal wird klar, wie sehr die zweite Frau meines Großvaters, die Mutter meines Nachzügler-Vaters, die Familie auseinandergebracht hat. Ihr war niemand recht, auch ihre Stiefkinder nicht, das beruhte wohl auf Gegenseitigkeit, einzig der schwule H. hatte sie als Mutter annehmen können, er war noch ein Baby, als seine leibliche Mutter starb. Die Matriarchin löste nach dem Tod ihres Mannes offenbar alle Bindungen zu den Stiefkindern, zog mit ihrem Sohn, meinem Vater, und uns zusammen und verurteilte alle(s) in Grund und Boden. Deshalb wusste ich mein halbes Leben nicht, dass J. und M. meine Cousins sind, sowieso war ihr peinlich, dass M. behindert ist, und auch meine Eltern haben nichts dazu beigetragen, Licht in die Verwandschftsverhältnisse zu bringen. Konformität mit der Greisin war bestimmt konfliktfreier so.

Umso mehr freue ich mich über meine neu erworbene Cousine. Es macht Spaß, mit ihr zu plaudern, da ist nichts Fremdes, ich kümmere mich die ganze Zeit kaum um Mama, die klein und mit glatten Teint neben mir sitzt und an ihrem Schnitzel rumschneidet. Ich will endlich meine Familie kennenlernen!

Wir bleiben doch in Kontakt, wünschen wir uns beide zum Abschied, J. hat in der Zwischenzeit alles geschuckt, auch den Kaffee und die Riesenportion Nachtisch, bedauern noch eben, dass wir uns erst jetzt getroffen haben und hoffen auf mehr davon in Kürze.




Montag, 26. Januar 2015
Am meisten betrübt es mich, dass meine Mutter (wie viele andere Ältere) sich nur wenig spirituell entwickelt hat. Ich hätte erwartet, dass eine wie immer geartete, fruchtbare Auseinandersetzung mit dem Tod (und somit dem Leben) sie in ihren letzten Lebensjahren stärken würde. So höre ich neuerdings immer häufiger die Klage was ist das denn noch für ein Leben? Dass es keine Philosophie gibt, mit deren Hilfe sie das eigene Leben zu reflektieren vermag, macht mich traurig. Ich habe mir immer vorgestellt, dass man am Ende frohen Herzens nach Hause gehen kann, zufrieden mit dem Gelebten und Gehabten und geduldig wartend, wenn der Körper beginnt sich zu verabschieden.

Früh wurden wir Schwestern vom Katholizismus genervt, zum Kirchgang gezwungen und auch zur Beichte, aber Vorbildcharakter hatte das Ganze für mich nicht, sondern deutlich den des Missbrauchs, denn Nächstenliebe wurde zwar gepredigt, aber nicht praktiziert, oder nur so, dass die Eltern selbst Empfänger für Nächstenliebe waren. – Da bin ich vielleicht ungerecht, aber in der Rückschau kommt es mir vor, dass eher wir die Gebenden waren – unsere Gaben aber waren durchdrungen von Schuld, und nicht Mitgefühl.

Ich kann das Schuldgefühl schlecht loslassen und würde mir wünschen, dass jemand mich davon befreit. Es kommt in Wellen und lässt mich oft nicht schlafen. Von meiner Mutter erwarte ich nicht mehr, dass sie mich freispricht. Statt essen erwartet sie von mir Linderung und Zuspruch, sprengt damit jede halbwegs vernünftige Grenze und lässt mich überfordert zurück. Diese Grenze zu setzen fällt mir schwer, und wenn ich es tue, habe ich Schuldgefühle. So dreht sich der Kreis immer und immer weiter.

Meine eigene Geistesschulung, die ich mir in den letzten Jahren gegönnt habe, betont Freundlichkeit, Geduld und Mitgefühl. Nicht zuletzt geht es darum, zu sich selbst lieb zu sein, zu Körper und Geist, in Gedanken, Worten und Taten. Mein Entschluss, mein sankalpa shakti, bleibt und wird bis zu Mamas Tod reichen.

Danach werde ich mich eine Weile fernhalten von solch nahen und verpflichtenden Bindungen.




Donnerstag, 9. Oktober 2014
Mama war in der Badewanne ausgerutscht und böse aufs Steißbein gefallen. Erst nach einer Stunde hatte sie es geschafft, sich hochzustemmen und irgendwie aus der Wanne zu steigen. Meine Schwester Dudi hatte ihr daraufhin verboten allein zu baden. Alles geht fort, das sich bewegen können, die Esslust, der ganze Körper. Als ich sie letzte Woche besuche, biete ich an, sie zu baden.

Sie hat sich ausgezogen und ich helfe ihr in das warme Bad. Ihr klein gewordener Körper mit der hellen Haut sitzt jetzt im niedrigen Wasser, mehr Nass will sie nicht. Ich stütze mich mit hochgekrempelten Ärmeln auf den Rand und beuge mich über sie. Komm, ich schrubbe dir den Rücken, sag ich, seife den Waschlappen ein und reibe sie damit ab, nicht nur den Rücken lässt sie mich waschen, sondern auch Arme, Beine, Füße, Hände, Schultern, Brüste, Bauch und Po. Das ist das erste Mal, dass ich meine Mutter wasche, und mir kommt es vor, als wäre es noch nicht lange her, dass sie mich ebenso gewaschen hat.

In dem Film "Samsara" wird ein junger tibetischer Mönch zu einem Weisen geschickt, um Erkenntnis über körperliches Begehren zu erlangen, das sich seiner ermächtigt hat. Anhand von Zeichnungen bedeutet der Schweigende ihm die Vergänglichkeit des Körpers und seiner Lust. Sie zeigen Paare beim Geschlechtsakt mit ineinander verschränkten Körperteilen, und die Besonderheit der Illustrationen besteht darin, dass wenn man sie ins Gegenlicht hält, die rückseitigen Abbildungen durchscheinen, alte, faltige Körper mit grinsenden Todenschädeln, hängenden Brüsten, fast schon verwest. Der junge Mönch soll erkennen, welchen Weg er einschlagen wird, den der Entsagung oder des weltlichen Lebens.

Mama fragt, beinahe kokett, ob sie schlimm aussähe, und ich murmele, dass ich am See schon Schlimmeres gesehen hätte, ich kann ja nicht sagen, dass es nicht mehr drauf ankäme bei ihr, obwohl ich das denke. Ich sehe sie an, wie sie sich mir bietet, ich betrachte ihre großen Brüste, den runden Bauch und ihre Scham, sie schämt sich aber nicht, und so tu ich's auch nicht und denke an die Zeichnungen des Filmes – eben noch jung und das Fleisch fest, und später dann... es rührt mich, ich kann's nicht anders sagen. Es ist, als hätte ich nun die Lektion der Vergänglichkeit zu lernen.

Mittlerweile liegt sie, ich habe erst das eine dann das andere Bein aus dem Wasser gehoben und die Füße und Zehen massiert, es ist ihr wohlig zumute und mir ist nicht mehr so bang. Dann möchte sie noch ein paar Minuten liegen bleiben bis sie mich ruft.

Als sie aufstehen will, geht es nicht. Ich mache Vorschläge, vielleicht zuerst auf die Knie und dann hoch, aber das schmerzende Steißbein macht es ihr unmöglich sich zu drehen, sie versucht es so rum und andersrum, ich ziehe an den Händen, und sie schreit auf. Es geht wirklich nicht, es ist gut, dass sie nicht mehr allein badet. Ich ziehe kurzerhand Socken und Hose aus und steige zu ihr in die Wanne, greife von hinten unter ihre Achseln und stemme sie hoch, ich kenne ja all die Tricks nicht, die Pfleger so drauf haben, helfe ihr weiter hoch bis die Füße sie halten und sie aus der Wanne steigen kann.

Mit dem bereitgelegten Badetuch umwickele ich sie und rubbele sie trocken. Dann lasse ich sie stehen, hole die Flasche Olivenöl, nehme Hände voll und öle sie damit von Kopf bis Fuß ein, massiere Meridiane und Druckpunkte – sie muss sich festhalten, damit sie nicht fällt, ich bin etwas rauh. Anschließend schneide ich ihre Fußnägel und stecke sie nochmal ins Bett. Sie kann noch ein bisschen dösen, bis ich vom Markt zurück bin. Auf dem Weg habe ich wieder Sterbebilder. Was, wenn ich sie zum letzten Mal gewaschen habe und sie in der Zwischenzeit wohlig einschläft.

Huhu, rufe ich durch den Flur, als ich zurück bin, huhu ruft sie aus dem Zimmer und ich bin froh darüber. Ich decke den Tisch, es gibt Bratfisch mit Kartoffelsalat, den liebt sie so.




Mittwoch, 11. Juni 2014
Damit ist nicht allein das Wetter gemeint, denn zeitgleich mit der Hitze und den ungehemmten Gewittern rastete die Mutter mal wieder aus. Heute wird sie nicht Mama genannt, sondern Alte Verbitterte Frau, eine, die ungehemmt böse Emotionen auf ihre Kinder abläd, Eifersucht, Neid, Wut, und immer wieder die Angst, ihre große Angst. Wie sie das Gesicht verzieht und mein Geschwister beschimpft, wie sie wirr vor sich herredet im Versuch einer Rechtfertigung, unhaltbar sinnlos, darauf folgen unsere Rechtfertigungen, es nimmt kein Ende.

So schlimm war es schon lange eine Weile nicht mehr.

Wenn ich es nur benennen könnte. Mitfühlen kann ich es, es ist kaum zum Aushalten. So muss Krieg sein, er findet immer noch in den Menschen statt – und hier in der Mutter. Angst, nicht genug zu bekommen, nicht geliebt zu sein, dass alles umsonst ist. Angst, so zu sterben.

Ich schaffe es nicht, Beobachterin zu bleiben, das Geschehen zieht mich mit solcher Macht hinein, mit seiner Sucht nach Aufregung.

Und wieder: sich selbst treu und gut zu sein, ist verboten.




Montag, 28. April 2014
Ich rufe Mamas Nachbarn an, ob er mal nach ihr schauen möge, sie geht nicht ans Telefon, wo statt ihrer eine fremde Stimme erklärt, dass der Anschluss zur Zeit nicht erreichbar sei. Aber ich bin sehr erreichbar während der Viertelstunde, in der ich auf den Rückruf des Nachbarn warte: für allerhand Szenarien, die Mutter liegt tot oder bewusstlos neben dem Telefon, das ihr aus der Hand gefallen und zerbrochen ist. Oder ein Blitz hat eingeschlagen, das Telefon zerstört und, ach, ich weiß auch nicht, die Bilder drehen sich um das Auffinden von toten Menschen, friedlich im Sessel oder verkrümmt und blutig am unteren Ende von steinernen Kellertreppen. Um Gespräche mit Bestattern, die Blumenauswahl und den letzten Blick ins Grab. Wo ist die gita, ich weiß immer noch nicht, was sie für einen Spruch möchte. Wäre ich dem jetzt gewachsen? Ich mach mich bereit, sofort in die Heimatstadt zu fahren und fühle nach, ob ich fühlen kann, ob sie lebt oder schon gen Himmel schwebt. Wieso kann man das nicht spüren, und wieso geht sie nicht in der Nachbarschaft telefonieren. Diese blöde Hilflosigkeit. Dazu noch ihre nur mühsam versteckte Feindseligkeit, ja, sie ist überzeugt davon, dass die Welt ihr Feind ist.

Exakt 15 Minuten später entwarnt mich Herr W., bloß das Telefon sei tot, die Mutter hingegen wohlauf, sie reagierte recht schnell auf sein Klingeln und Rappeln an der Briefkastenklappe und kam im Morgenmantel an die Tür. Ich bin sowas von erleichtert! Er bietet sogar an, die Störungsstelle anzurufen, nein, das mache ich, der arme Mann muss ja jetzt nicht noch stundenlang in Warteschleifen hängen.

Dudi und ich versuchen schon seit Papas Tod sie mit Herrn W. anzufreunden, allerdings belegt er eine höhere Richter-Kaste und sie sei bloß Handwerkerin und Lehrersgattin, sowas ginge ja nicht. Und überhaupt, alle Männer seien doof. Herr W. verspricht, am Nachmittag nochmal bei ihr vorbeizusehen und ich, ihn gegen Abend anzurufen.

Es folgt das übliche Telekom-Gedöns mit SMSen und muffeligen Technikern. Sie kommen übermorgen. Ha, bis dahin könnte sich der Nachbar etwas um Mama kümmern, vielleicht wird das ja noch was mit den beiden.




Samstag, 22. Februar 2014
Dudi ist die beste Schwester, die ich mir vorstellen kann. Wir reden über dies und das, am Telefon, für lange Gespräche in die NL habe ich eine Flatrate. Uns plagt gerade der gleiche Selbstzweifel: Wieso sind wir eigentlich auf diesem Kackplaneten gelandet? Während ich mich schon halbwegs damit abgefunden habe, unter Irren zu leben, trifft sie noch die volle Wucht des Unsinns. Überall nur schlimme Nachrichten, bejammern wir den aktuellen Status unserer kleinen Blauen Kugel. Es ist ja nur unter den Menschen ein Drama, in der Natur ist alles großartig harmonisch, erkläre ich weise. Obwohl sie die ältere und größere von uns beiden ist, empfinde ich sie als viel zarter. Sie hat mich beschützt als wir Kinder waren und angeblich war sie in einem anderen Leben meine Mutter.

Ihre Mutter-Rolle betrachten wir wieder einmal neu. Sie als die sich stets Sorgende. Zum 800. Mal versuche ich zu erklären, dass Sorgen und schlaflose Nächte niemandem helfen, keinem ist gedient damit, sie neben sich in der Scheiße sitzen zu haben, mitjammernd. Da hätt' ich ja noch Schuldgefühle, sie eingeladen zu haben. Komm, setz dich doch zu mir, mit so'ner Geste, und dabei ist es bloß 'ne Wanne voll scheißiger Matsche. Es gibt darüber jede Menge schlauer Gleichnisse, wie Lotuspflanzen, die im Schlamm gedeihen und die schönsten Blüten- ... und so weiter. Mit Metaphern aber brauche ich Dudi nicht zu kommen. Sie ist eine Frau der Fakten.

Darauf hinzuweisen, dass sie die Fakten manchmal nicht richtig erkennt, ist meine Aufgabe. Und genauso manchmal umgekehrt. Also ihre, und ich die Nullcheckerin. Das ist überhaupt nicht schlimm. Allerdings bin ich nah dran, einen Vorwurf mitschwingen zu lassen, als wir über ihr Kind sprechen (das in einem anderen Leben angeblich mein Kind war). Dass das Kind mittlerweile kein Kind mehr ist, sondern sein Leben selbstbestimmt leben möchte, dass es sich durch aktuelle Umstände unangenehm an seine katastrophale Mutter erinnert fühlt und mit zwölf schon die Aufgabe übernommen hatte, sie zu retten, z. B. blöde Männer aus der Wohnung zu werfen, die sie betrunken ausgenutzt hatten und andere Dramen. Als das Kind mir kürzlich davon erzählte, war mir nach Weinen. Wie kommt ein Kind dazu, die Verantwortung für seine Eltern zu übernehmen, fragt sie mich. Aus dem gleichen Grund, warum wir (als Kinder) die Verantwortung für unsere Eltern übernommen haben: Weil wir glaubten, sie seien nicht überlebensfähig.

Eine Stille. Verdrehte Welt. Ich möchte platzen. Sie reagiert ruhig auf meinen Vorwurf, als hätte sie nichts gehört und ich bin froh darüber. Wie oft habe ich auf der Seite des Kindes gestanden und ihre leidvollen Eskapaden mit größter Ablehnung beobachtet. Ihre bescheuerten Männergeschichten, die anstrengende Trennung vom Kindsvater, die viel Gemeinsames mit der unserer Eltern hatte. Die Szenerie tat mir allein beim Zuschauen furchtbar weh. Dabei rief sie mir in meinen eigenen Trennungsphasen immer wieder zu – ich möchte nicht, dass du so leidest!

Wir leiden allein. Natürlich tut eine Umarmung gut, ein liebes Wort, ein offenes Ohr, aber der Schmerz ist hier und nicht teilbar. Die Erfahrung von Leid ist die ... äh, Grundbedingung, wollte ich schreiben, aber ich weiß nicht, was das bedeuten soll. Wie Buddha (angeblich) gesagt hat, ist Leben Leiden. Als wäre das so. Und wahrscheinlich isses auch so. Er fügte aber noch hinzu, dass es eine Möglichkeit gäbe, Leiden zu beenden. Dudi möchte es gern beenden, für alle, und deshalb ist sie süß wie Mandelkuchen.

Als ich ihr berichte, dass ich meine spirituellen Übungen aufgegeben habe, meinen Weg allein weitergehen will und fortan die Wahrheit in mir selbst zu finden beabsichtige, horcht sie auf. Das wäre ja 'ne ganz große Sache für mich! Sie ist fast etwas aus dem Häuschen, und obwohl sie das ganze Guru-Dings nie so richtig verstanden hatte, begreift sie die Dimension, die diese Abkehr für mich bedeutet. Ja, sage ich, du weißt schon, nicht mehr den Autoritäten folgen, die stehen dann bloß im Wege rum, wenn man an ihnen vorbei eilt, eilen muss, weil neti, neti, nicht dies, nicht dies.




Freitag, 27. Dezember 2013
Turbulenzen in zehn Kilometer Höhe, gefolgt von freiem Fall und hartem Aufprall. So kann Weihnachten sein. Allerdings war es bis auf wenige Ausnahmen nie anders, zweimal mit dem Geräuschemann an diversen südeuropäischen Stränden, einmal mit dem Bassisten und seiner Familie. Und einmal mit der Prinzessin und ihren Freundinnen in HK bei grüner Limonade und chinesischer Pizza. Unvergessen auf ewig.

Ich dachte, dann hat man jemanden, antwortet sie auf meine Frage, wieso sie Kinder, also uns, bekommen hat. Das funktioniert ja nicht, das Jemand Haben, zische ich zurück, wofür, und ernte einen gehässigen Blick. Warum so feindselig? Niemand ist ihr recht, nicht mal wir Schwestern, die eine wird gegen die andere ausgespielt, natürlich wissen wir beide davon. Es sind harte, aber hauptsächlich wahre Gesprächsteile, die dieser kleinen Weihnachtsgesellschaft zu Ohren kommen. Satya, die Wahrheit wird befolgt, aber Ahimsa, Harmlosigkeit, nicht. Metta, Liebende Güte, ebenfalls null Punkte.

Am zweiten Weihnachtstag drehe ich dann endgültig durch. Ich sage ihr alles. Dass sie nicht uns liebt, sondern die Funktion, die sie für uns vorgesehen haben, Wohlwollen bei Erfüllung der Aufgaben, oder Ablehnung, wenn nicht. Dass ich mit ihr, seit ich einigermaßen klar denken kann, zwölf, 13 oder 14 Jahre alt, diese Gespräche geführt habe, sie klagt ihr Leid, und ich versuche, ihr zu helfen. Sie glücklich zu machen. Verschwendete Energie. Natürlich nimmt sie nichts an, das liegt in der Natur dieser Gespräche von Kind zu Mutter, das Gefälle, die Richtung, stimmt nicht, sie müsste eigentlich mich umsorgen. Immer nur ist sie die Leidende. Das alles kotze ich ihr vor die Füße und bin außer mir. Sie schaut mich unberührt an und rechtfertigt sich mit Gründen, die ein verletztes Kind nicht trösten können. Die Ehe, in die beide gezwungen wurden, der Mann, die Schwiegermutter, das Haus, bla-bla, die ganzen Geschichten nochmal. Ich erkenne, dass sie nur sich sieht, immer nur sich gesehen hat, und was ich ihr antue, indem ich so mit ihr rede. Ich weine bitterlich, Dudi kommt dazu und nimmt mich in den Arm.

Wieso tröstest du sie denn jetzt? ruft sie ihr harsch entgegen, ihr Blick wie eisiges Feuer. Und ich wundere mich nicht mal darüber, erwarte gar nichts anderes. Dass nichts Liebes von ihr ausgehen kann in diesem Moment, dass sie nicht mitfühlen kann, wie ich mich fühle. Dass sie es gar nicht kann.

Hinterher sag ich zu Dudi, dass es mir fast schon wieder leid tut. Ja, bestätigt sie, wie seltsam das ist, wir entschuldigen uns dauernd, dabei hätten wir mal ein es tut mir leid oder eine Entschuldigung für die verkorksten Jahre verdient.

How von John Lennon fällt mir ein. Lauter wie-Fragen, die auch ich heute nicht beantworten kann. Was ist das für eine Liebe, die erwartet wurde, von der gesprochen wurde, die aber nicht fühlbar war. Weihnachten, ein Fest der Liebe, die fehlt.




Dienstag, 19. November 2013
Auf Mamas Schreibtisch, an dem mein Vater früher Arbeiten korrigierte und Klassenbücher führte, d. h. nicht führte, weil er seinen Unterricht, der wenig mit den amtlich vorgegebenen Inhalten gemein hatte, aus dem Steggreif zu geben pflegte – jedenfalls liegt dort ein bereits von Mama geöffneter Trauerbriefumschlag, dessen Inhalt ich entnehme – G., der Mann einer Kusine meines Vater ist kürzlich gestorben. Ach, rufe ich durch den Haushalt, G. ist ja gestorben und Mama kommt herbei und berichtet, dass sie schon mit der Witwe telefoniert, die sich sehr gefreut hat, waren doch beide Paare früher ausgiebig befreundet und nicht nur lose verwandt, bis mein Vater dem G. den Stinkefinger gezeigt hatte, dazu macht Mama eine etwas verunglückte Handbewegung und hält einen Zeigefinger hoch. Ich komme nicht dazu, ihr zu erklären, dass es der Mittelfinger sein müsste, sondern frage halb entrüstet, halb belustigt nach dem Grund für Papas Grobheit.

Das war damals, als Papa die Andere Frau hatte, und Papa und G. sich über irgendeine Sache heftig gezankt, an die sich Mama aber nicht erinnern könne. Jedenfalls behauptete G. während einer väterlichen Klo-Abwesenheit, der Grund für Papas brüske Verstimmtheit sei wohl eine heimliche Freundin. Das hatte Papa aber durch die hellhörigen Wände des Hauses vernehmen können (die verdammte Hellhörigkeit meines Elternhauses verdiente mal einen eigenen Beitrag), woraufhin der Besuch der Verwandten frühzeitig endete, was von Papa mit eben jener obzönen Geste begleitet wurde. Danach trafen sie sich nie wieder, weil G. sich weigerte, obwohl seine Frau gern den Kontakt bewahrt hätte.

Ich bin ja immer begeistert über Katastrophen, dies schien eine solche zu sein und ich grinse in Mamas Richtung. Im weiteren Verlauf erzählt mir Mama noch andere Geschichten, die mir teils neu, teils entfallen sind. Alle haben im weitesten Sinn damit zu tun, dass meine Großmutter väterlicherseits der Ansicht war, über verschiedene Dinge dürfe nicht gesprochen werden. Meistens hatten diese Dinge mit den schwarzen Schafen der Familie zu tun, oder mit den Behinderten, die dieser Familie (ganz besonders ihr) derart zu schaffen machte, dass sie verheimlicht wurden. Die Großmutter war dabei strikt. Und so wurde mir erst als sie Ende der 80er starb und plötzlich alle ihre Geheimnisse ans Licht kamen klar, dass der stadtbekannte leutselige Behinderte M., den wir auf der Straße immer mieden, mein richtig echter Cousin war, und sein jüngerer Bruder, den ich nur vom Namen kannte, dann ja wohl auch.

Es war berührend zu erleben, wie liebevoll Mama mit ihm umging, als wir nach dem Tod des so rigoros schweigenden weiblichen Familienoberhauptes ihm endlich frei begegnen konnten, er hatte etwas sehr Charmantes und äußerst Warmherziges und natürlich sah man die Familienähnlichkeit, spätestens in seinen Augen konnte ich sie erkennen und mein eigenes Herz sprang vor Freude wie in einem Kitschfilm, wenn der verstoßene Sohn endlich sein rechtmäßiges Erbe antreten kann oder die nichtsahnende junge Deutsche entdeckt, dass sie eigentlich die Maharani von Sowiesostan ist. (Ein wie ich finde brillianter Kitschfilm übrigens, der von einer wichtigen Programmzeitschrift nur mit einem Zeigefinger, quatsch, mit einem rosa waagerechten Daumen beurteilt wurde.)

Die andere Kusine und der Cousin (meines Vaters) wurden ebenfalls durchgehechelt. F-G, evangelischer Pastor, dessen Frau vorher schon mal verheiratet war, fand ebenfalls vor den Augen der, äh, meine Großmutter war dann ja wohl auch deren, naja, jedenfalls war R., die Frau des Pastors, die ich immer irgendwie mochte, für die Matriarchin indiskutabel, während Mama berichten konnte, dass F-G, der Pastor, so offensichtlich kleine Mädchen mochte, dass sie es vorzog, ihrerseits den Kontakt zu meiden. Wie hast du das denn gemerkt, frage ich? Der mochte uns (Schwestern)? Irgendwie guckt sie schelmisch, ja, sagt sie, der mochte alle Mädchen, auch mich. Es freut mich, dass sie sich immer noch für ein Mädchen hält, so wie sie das sagt. So, und die dritte Kusine hatte schon mal gar keinen Mann, die war Lehrerin und so spitznasig, wie's nur geht.

Wir reden über das Gefühl, wenn die Inhalte halbgeahnter Heimlichkeiten aufgedeckt werden. Wie erschütternd und gleichzeitig aufregend und befreiend das ist, weil man dreißig Jahre lang ein Wissen verspürte, das als falsch dargestellt wurde oder nicht von Belang. Natürlich ist es von Belang, dass die echte Maharani von ihrer wahren Bestimmung abgehalten wurde. Genauso ist es von Belang, dass plötzlich Cousins verschwinden, die man in der frühen Kindheit gekannt und geliebt haben muss und die uns auf Fotos wohl wie Geister erschienen.

In der Nacht träumt mir, dass ich von einer älteren Frau verfolgt werde. Ich weiß, sie möchte mich gern töten. Oder sie muss. Und so fliehe ich natürlich vor ihr, was sonst. Es gelingt mir, sie in den Häusern meiner Kindheit abzuhängen, es sind auch die Häuser der Groß-Kusinen dabei, mit Birken bestandene Sträßchen, durch Gärten und Schulen und Mädchenklos, der ganze alte Mist wie's aussieht – es gelingt mir lange, sie abzuschütteln. Als ich aber nach Hause komme und die Tür aufschließe, schaue ich beiläufig auf meine Türklingel. Es ist mir bekannt, dass diese Frau die gleichen Initialen hat und nun stehen unsere jeweiligen drei Großbuchstaben im Blocksatz übereinander gedoppelt auf meinem Klingelschild. Mit Entsetzen erkenne ich, dass sie nicht nur bei mir wohnt, anscheinend schon immer, sie ist sogar ich.
Wir sind ein und dieselbe! Wie furchtbar. Dann wache ich auf.




Donnerstag, 4. Juli 2013

Beim Aufräumen der oberen Wohnung meines Elternhauses haben meine Schwester Dudi und ich noch einige schöne Gegenstände gefunden, die nun meinen bescheidenen Haushalt bereichern:
  1. eine sehr kleine und zarte Teetasse mit Untertasse, beide mit magentafarbenem Band und Goldrand
  2. ein ca. A4 großes Ölbild auf Sperrholz mit Birken, Landschaft und sfumato in einem breiten schlichten Holzrahmen
  3. ein winziger Schemel aus den 60ern, die Fläche mit rotem Linoleum belegt
  4. ein Bündel nie benutzter Handtücher aus grobem blauem Drillich, sicher eigens für die Backstube genäht
  5. noch mit Preisschild versehene Putzlappen, die seit fast 50 Jahren oben in den Dachschrägen gelegen haben
  6. zwei richtig schöne Perserbrücken, die mein Vater sich regelmäßig von seinen Zigeunerkumpels hat andrehen lassen
Früher hat in der Wohnung meine Omi gewohnt, die Mutter meines Vaters, später zog mein Vater ein, nachdem er nach zehn Jahren wieder zu meiner Mutter zurückkehrte. Interessanterweise gab es nicht viel hübsches oder gut gestaltetes Interieur – obwohl einige Stücke sicherlich wertvoll sind. Die protzige Glasvitrine zum Beispiel, oder der bollerige Schreibtisch mit geschnitzen Borten und Rändern. Dann gab es aber eher billig nachgemachte Perser, an die noch nicht mal die Motten gehen, die es sich in den anderen dünnen Wollteppichen mittlerweile kommod gemacht hatten. Oder die Portraitgemälde von Opi, den ich nicht mehr kennengelernt habe, und Omi. Er mit diesem blöden Bärtchen und sie mit liebem Lächeln, das ich nie in echt gesehen habe. Viele Bilderrahmen umfassten Bildausschnitte aus Illustrierten, zum Beipiel hing die junge Königin Elisabeth jahrzehntelang überm Sofa von Omi. Und wo ist das Bild vom Reichstag geblieben?

Wir haben auch viel Kram – weggeworfen. Einige Mülltüten voll. Ebenso das alte Plastikbett, hässliche Lampen, doofe Tischchen usw. Das Silber liegt jetzt noch in den Schubladen, das Regal mit Papas Büchern haben wir gelassen, auch einen großen runden Tisch mit einigermaßen ansehnlichen Stühlen und o. g. Glasvitrine mit Gläsern und Geschirr, für die niemand von uns Platz hat.




Freitag, 7. Juni 2013


Sogar in meiner kleinen Heimatstadt am Geländer der Lieblingsbrücke hängen jetzt die Schlösser der Liebe. Und mittlerweile heißt dieses Weblog nicht mehr Geländer, sondern wieder Gelände, ist cooler. Und weil Mama gelacht hat, als meine Schwester Dudi sagte, Männertreu sei ihre Lieblingsblume, zeigte sich diese etwas beleidigt.