Dudi ist die beste Schwester, die ich mir vorstellen kann. Wir reden über dies und das, am Telefon, für lange Gespräche in die NL habe ich eine Flatrate. Uns plagt gerade der gleiche Selbstzweifel: Wieso sind wir eigentlich auf diesem Kackplaneten gelandet? Während ich mich schon halbwegs damit abgefunden habe, unter Irren zu leben, trifft sie noch die volle Wucht des Unsinns. Überall nur schlimme Nachrichten, bejammern wir den aktuellen Status unserer kleinen Blauen Kugel. Es ist ja nur unter den Menschen ein Drama, in der Natur ist alles großartig harmonisch, erkläre ich weise. Obwohl sie die ältere und größere von uns beiden ist, empfinde ich sie als viel zarter. Sie hat mich beschützt als wir Kinder waren und angeblich war sie in einem anderen Leben meine Mutter.

Ihre Mutter-Rolle betrachten wir wieder einmal neu. Sie als die sich stets Sorgende. Zum 800. Mal versuche ich zu erklären, dass Sorgen und schlaflose Nächte niemandem helfen, keinem ist gedient damit, sie neben sich in der Scheiße sitzen zu haben, mitjammernd. Da hätt' ich ja noch Schuldgefühle, sie eingeladen zu haben. Komm, setz dich doch zu mir, mit so'ner Geste, und dabei ist es bloß 'ne Wanne voll scheißiger Matsche. Es gibt darüber jede Menge schlauer Gleichnisse, wie Lotuspflanzen, die im Schlamm gedeihen und die schönsten Blüten- ... und so weiter. Mit Metaphern aber brauche ich Dudi nicht zu kommen. Sie ist eine Frau der Fakten.

Darauf hinzuweisen, dass sie die Fakten manchmal nicht richtig erkennt, ist meine Aufgabe. Und genauso manchmal umgekehrt. Also ihre, und ich die Nullcheckerin. Das ist überhaupt nicht schlimm. Allerdings bin ich nah dran, einen Vorwurf mitschwingen zu lassen, als wir über ihr Kind sprechen (das in einem anderen Leben angeblich mein Kind war). Dass das Kind mittlerweile kein Kind mehr ist, sondern sein Leben selbstbestimmt leben möchte, dass es sich durch aktuelle Umstände unangenehm an seine katastrophale Mutter erinnert fühlt und mit zwölf schon die Aufgabe übernommen hatte, sie zu retten, z. B. blöde Männer aus der Wohnung zu werfen, die sie betrunken ausgenutzt hatten und andere Dramen. Als das Kind mir kürzlich davon erzählte, war mir nach Weinen. Wie kommt ein Kind dazu, die Verantwortung für seine Eltern zu übernehmen, fragt sie mich. Aus dem gleichen Grund, warum wir (als Kinder) die Verantwortung für unsere Eltern übernommen haben: Weil wir glaubten, sie seien nicht überlebensfähig.

Eine Stille. Verdrehte Welt. Ich möchte platzen. Sie reagiert ruhig auf meinen Vorwurf, als hätte sie nichts gehört und ich bin froh darüber. Wie oft habe ich auf der Seite des Kindes gestanden und ihre leidvollen Eskapaden mit größter Ablehnung beobachtet. Ihre bescheuerten Männergeschichten, die anstrengende Trennung vom Kindsvater, die viel Gemeinsames mit der unserer Eltern hatte. Die Szenerie tat mir allein beim Zuschauen furchtbar weh. Dabei rief sie mir in meinen eigenen Trennungsphasen immer wieder zu – ich möchte nicht, dass du so leidest!

Wir leiden allein. Natürlich tut eine Umarmung gut, ein liebes Wort, ein offenes Ohr, aber der Schmerz ist hier und nicht teilbar. Die Erfahrung von Leid ist die ... äh, Grundbedingung, wollte ich schreiben, aber ich weiß nicht, was das bedeuten soll. Wie Buddha (angeblich) gesagt hat, ist Leben Leiden. Als wäre das so. Und wahrscheinlich isses auch so. Er fügte aber noch hinzu, dass es eine Möglichkeit gäbe, Leiden zu beenden. Dudi möchte es gern beenden, für alle, und deshalb ist sie süß wie Mandelkuchen.

Als ich ihr berichte, dass ich meine spirituellen Übungen aufgegeben habe, meinen Weg allein weitergehen will und fortan die Wahrheit in mir selbst zu finden beabsichtige, horcht sie auf. Das wäre ja 'ne ganz große Sache für mich! Sie ist fast etwas aus dem Häuschen, und obwohl sie das ganze Guru-Dings nie so richtig verstanden hatte, begreift sie die Dimension, die diese Abkehr für mich bedeutet. Ja, sage ich, du weißt schon, nicht mehr den Autoritäten folgen, die stehen dann bloß im Wege rum, wenn man an ihnen vorbei eilt, eilen muss, weil neti, neti, nicht dies, nicht dies.





Leben ist Leiden, das geht mir zu weit. Vielleicht könnte man eher sagen, es gibt kein Leben ohne Leiden. Aber das ist dann wieder banal. Ich wünsche Ihnen (und Ihrer Schwester nebst Familie) alles Gute.

Liebe Frau Trippmadam, danke für Ihre Wünsche. Ich denke, das Schlimmste ist vorbei.

Mit dem Leiden ist gemeint, weil auch die Freude und das Schöne vergänglich seien, beide wieder im Leiden enden. Zum Glück, wie ich finde, ist das Leiden auch endlich.

In Andalusien ist die Vorstellung, das Leben gleiche einem Rad, unter der "einfachen" Bevölkerung sehr verbreitet. Man sagt: todo lo que sube, baja. Also, alles was hoch steigt, kommt auch wieder herunter. Demnach müsste ja alles, was nach unten gezogen wird, irgendwann auch wieder hochkommen, und somit nicht nur Freude, sondern eben auch Leiden endlich sein. Auch das klingt wieder banal, aber mir gefällt das Bild vom Rad.

Es freut mich, dass das Schlimmste vorbei zu sein scheint.

Manchmal kommen mir diese ganzen Glücksanweisungen wie bloße Schmerzvermeidungsprogramme vor. Ich nehme an, ein weiser Blick auf die Dinge erkennt die Strömungen des Lebens. Sie gut oder böse zu nennen, ist eine andere Sache.