Samstag, 13. Juli 2024
Zwischen den alten Familienfotos befinden sich jede Menge 6x9-Negative. Zu groß für meinen Durchlichtscanner, aber eine viel einfachere Möglichkeit ist es, sie ans Fenster zu kleben und abzufotografieren und mit einem Kurzbefehl im Bildbearbeitungsprogramm ins Positive zu konvertieren. Dabei kommt so etwas zum Vorschein:

Die Großeltern trinken Kaffee im Angesicht des Watzmanns

Die Eltern meines Vaters waren mit ihm bereits dort, in der zweiten Hälfte der 30er Jahre. Vielleicht ein Reiseziel von Anhängern einer gewissen Partei, der Opa A. ja unzweifelhaft angehörte. Alle Bilder wirken fröhlich in Szene gesetzt, sicherlich war es für meinen sechs- oder siebenjährigen Vater eine unbeschwerte Zeit vor dem Großen Vaterländischen Krieg 2. Weltkrieg, die er später wieder einzufangen suchte mit seinen eigenen Kindern.




Freitag, 12. Juli 2024
Ich musste das nachschlagen, das o, vielleicht hätte ich об benutzt. Jetzt, nach ungefähr zwei Jahren des Russischlernens kommen mir bereits ganze Sätze in den Sinn. Mama erzählte immer, dass ich mit drei Jahren noch nicht sprechen konnte, man hatte sich bereits Sorgen gemacht. Dann aber, endlich, sprach ich und zwar in vollständigen Sätzen. Was wir für ein seltsames Kind haben, sagten sie sich vielleicht am Abend.

Vor einer Weile fand der Bildhauer in einem alten Reisemagazin eine schöne Abbildung des Watzmanns im Herbst. Das ist dieser Berg, Sie wissen schon. Einmal war ich mit meinem Vater auf die Spitze geklettert, mit 12 oder so. Wir übernachteten im Watzmannhaus, damals ein einfaches Steinhaus, das mit Stahlbefestigungen dem Wetter trotzte. Es gab frische fettige Kuhmilch, von der wir beide uns übergeben mussten und am Morgen wuschen wir uns im eiskalten Bergwasser, das in einen Holztrog plätscherte.

Das Foto musste von einem Ort aufgenommen worden sein, den ich genau kenne, nämlich hinter einem kleinen Waldstück oberhalb des Lehens, in das wir uns während der Ferien eingemietet hatten. Ein herrliches Anwesen, das meine Kindheit auf beinahe mystische Weise geprägt hat. Der Anblick des äußerst detailreichen Bildes löste in mir den Wunsch aus, wieder einmal dort sein zu wollen, dort zu sitzen und den Blick zu genießen, den diese bestimmte Bank bietet.

Viele Jahre lang ist mein Vater weiterhin zu Ferienzeiten dort eingekehrt, ohne uns, hatte dort mehr Freundschaften als zu Hause und wenn er wieder zu Hause war, beschäftigte er sich mit Berichten und Zeitungen des Ortes, mit Bildbänden und Landkarten. Auch ich kenne immer noch die Namen der Erhebungen, Steige und Auen.

Auf einer Reisewebsite fand ich einen Eintrag des Lehens, wo es Fotos, Beschreibungen der Räumlichkeiten und Buchungsoptionen gibt. Endlich, nach einem Jahr des Zögerns klicke ich mich ein, buche gleich den ganzen Oktober und schreibe eine persönliche Nachricht an die Familie dazu. Nach einigen Minuten klingelt bei mir das Telefon, ah, eine Nummer mit 089, wer kann das sein. Eine tiefe, warme Stimme mit vertrautem Dialekt spricht mich mit meinem Namen an und mir hüpft das Herz aus reiner Freude, es ist der P., der Sohn des alten Herrn. Schnell sind wir im Gespräch über Vergangenes, kichernd, als wären wir immer noch 12 oder (er) 24, geben wir die aktuellen Alterszahlen an, unglaubliche 50 Jahre später, gleichen Erfahrungen ab, und ob es den alten Holztrog noch gibt, und wann unsere Eltern gestorben sind, und ja, damals hatte es noch Kühe und die Großmutter sorgte sich, dass das Gemuhe die Gäste stören könnte. Jetzt ist das Haus runderneuert und ich könne die Ferienwohnung haben, in der wir damals schon gewohnt haben.

Abgemacht.




Freitag, 13. Mai 2022
Ein seltsames Unterfangen, irgendwie soetwas wie Kontrolle zu erlangen über das, was geschieht. Regler nach oben, links die Essigchips (angeblich original englische Art) und rechts ein kleines Glas Bier -- dabei ist erst Mittag. Diesmal werde ich meine Reise zu Dudi nicht absagen oder verschieben -- dabei ist einiges im Außen/im Argen. Das Verb haben wird im Russischen als bei mir ist umschrieben und das finde ich ganz wunderbar. Weder ich bin dieser Körper, auch nicht ich habe einen Körper, sondern Körper ist bei mir.

Also, in Kriegszeiten zu reisen, kommt mir falsch vor -- dabei ist stets irgendwo Krieg; hat nicht neulich die Türkei irgendwen angegriffen, im Norden, Süden, Osten oder Westen, und niemand hat es kommentiert oder gar bemerkt?

Jetzt oder nie, sagt die Schlagzeugerin, als wir an der Kirmes vorbeifahren und ich mich beklage, dass niemand mit mir Riesenrad fahren mag. Jetzt oder nie machen wir unsere Räder fest, betreten wir das Gelände und schauen wenig später zwischen Stahl-Tangenten und -radien auf unsere Stadt. In der gleichen Gondel sitzt ein Vater und sagt zu seinem Kind so etwas wie город, möglicherweise schau mal, wir können über die ganze Stadt blicken oder die Stadt von oben sehen. Was weiß ich, wie der Russe es umschreibt, wenn er sich hoch oben über der Stadt, город, befindet. Мы смотрим на город.

Сейчас или никогда. Es ist erstaunlich, was man mit einem Mikrowortschatz wie meinem schon alles heraushören oder -lesen kann.

Nun steht also die Reise ins Nachbarland an. Ich hatte mich vor Wochen schon um einen neuen Reisepass bemüht, habe aber erst Ende Juni einen Termin, zudem in einem anderen Stadtteil, weil in meinem Amt wohl nichts mehr geht. Fürs Nachbarland benötigt man natürlich keinen Reisepass, aber statt einer ID-Karte besaß ich stets (lieber) einen Reisepass. Nach meinem letzten Indienbesuch vor zehn Jahren ist dieser nun abgelaufen. Mein bereits erstelltes Foto zeigt eine Frau, also mich, mit einem geschlossenen Hemdkragen, hellerem Haar und einem sehr leisen Lächeln. Sie können ein klein wenig lächeln, sagt die Fotografin, und zeigt mir das erste Bild, auf dem ich erschreckt die Augen aufreiße, während ich sichtlich grimmig auf den Blitz warte.

Dudi und ich hatten uns das letzte Mal Ende Januar 2021 zur Beerdigung unseres Mütterleins gesehen, das ich eigentlich gar nicht mehr Mütterlein nennen möchte. Es klingt so viel Mitleid und Kleinheit mit -- dabei war sie eine erwachsene Frau, die ihr Schicksal angenommen und gelebt hat, so wie wir das alle tun (müssen). Niemand bemitleidet uns dafür. Ich möchte sie als liebevolle Mutter und, vielmehr noch, als lustige, kritische, eigensinnige, freigiebige Ahnin im Herzen wissen, die meinen größten Respekt verdient.

Das erste Mal nun werde ich unserer jüngsten Nachfahrin begegnen. Im Geheimen hatte ich stets darüber spekuliert, ob unsere Mutter in ihren Körper hinüberwechseln würde. Zeitlich (und reinkarnationstheoretisch) gesehen, wäre es nicht ganz unmöglich -- dabei ist die Mutter erst fünf Monate nach der Geburt der Großnichte ins Jenseits hinübergereist. Angeblich aber hat die frisch Inkarnierte ein Jahr Bedenkzeit, ob sie bleiben möchte, und tritt oftmals auch erst nach Monaten vollständig in den neuen Körper ein. Auf mir zugesendeten Bildern und Filmchen erkenne ich die Augenform und -farbe unseres Ur-Ur-Großvaters, mandelförmig, an den Außenseiten spitz nach unten zulaufend, die Iris grau, im Gegensatz zum Grün und Braun unserer Eltern. Und sicherlich sieht man auch die Anteile der holländischen Vorfahren.

Der Neffe und ich haben einen halbgeheimen Pakt über den Erwerb von Bitcoin, der gestern auf einem Tiefpunkt war. JETZT kaufen, weise ich den jungen Mann an, denn ich kann selbst nicht kaufen, weil ich mich selbst nicht registrieren kann, weil blabla mein Pass nicht mehr aktuell ist usw., aber das ehemalige Kind kann es. Dudi weiß darüber nicht alles -- dabei hat sie ihm neulich beim Kauf eines, wie ich finde, sehr hässlichen Krypto-Dings-JPG unterstützt. Angeblich ist es besonders wertvoll, weil es das zehntausendste ist. Achso.

Und so schleudern wir schön mit dem Geld rum, geben es für Benzin, Krypto-Kunst und Bio-Essen aus und sind guter Dinge. Wer weiß, wie's weitergeht, wenn alles egal ist bzw. wird bzw. war.




Samstag, 9. April 2022
Kürzlich hatte ich die Heimatstadt besucht. Die Gärtnerin, die auch von dort stammt, nahm mich mit dem Auto mit, Fahrrad hinten rein, Wetter schön. Das Lehrerehepaar wiederzusehen, war eine echte Freude. Allerdings ist die Gesundheit der beiden nicht sehr stabil, aber auch sie mochten dem Impfdiktat nicht Folge leisten. So redeten wir über aktuelles Geschehen im außen und spirituelle Entwicklung im innern, also über alles, gespickt mit Sorge, durchwachsen mit Spott. Dazu Gelächter, aber auch Ungläubigkeit an menschliche Doofheit. Auf Wunder hoffen tun sie jedoch nicht. Mittlerweile halte ich jede Verschwörungstheorie für möglich, sagt der Mann, den ich für einen der klarsten Denker halte, die ich kenne. Derweil die Frau in der rufnahen Küche herumklapperte und mit Kommentaren ebenfalls nicht sparte. Zum Mittag gab es sogar ein Glas Weißwein zum Lachs.

Bevor ich der Einladung der Elternhauskäuferin folgte, machte ich mich auf den Weg zum Friedhof. Es ist eine seltsam rottige Strecke, ein Stück hinaus aus der Stadt, über das ausladende Straßenkreuz, dessen Ampeln schon vor einem halben Jahr nicht funktionierten, dazu einige Abfahrten gesperrt, weil das Pflaster eingesunken war. Schon am Eingang des Friedhofes mit seinem großzügigen Hauptweg Richtung Kapelle lärmen mir Hunderte von Krähen entgegen. Die schaurige Klangkulisse beherrscht das gesamte Gelände und löst Unruhe in mir aus. Man möchte hier nicht weilen. Am Grab fege ich kleine Äste und etwas Laub beiseite, zupfe ein Sträußchen Scilla und lege es auf dem Stein zurecht. Hier ist niemand mehr. Nicht mal ein Gebet möchte ich sprechen, die beiden, denen es gelten sollte, haben sich verflüchtigt, hier ist Leere (von ihnen). Ich spüre, dass ich nicht mehr wiederkomme.

Im Elternhaus hat sich einiges getan. Die Käuferin begrüßt mich freundlich und zeigt mir in vollem Vertrauen das ganze Haus. Es sind Wände verschoben oder herausgenommen worden, derart, dass ich mich kaum mehr an den vorigen Zustand erinnern kann. Das Bad oben ist auf der anderen Seite, das große Wohnzimmer halbiert, jede Menge Dachschrägenfenster, dafür unten Wohn- und Kinderzimmer zusammengelegt, mittendrin ein schöner Holzofen. Gefährlich finde ich das Entfernen der mittleren Stützwand, da sehe ich schon Farbe abblättern vom Stützbalken, ui, aber den Raum, der dadurch entstanden ist, hatte ich mir immer so gewünscht. An meinem Gefallen ist der Käuferin anscheinend sehr gelegen, es ist ja aber nun ihr Haus. Schön finde ich die Thangkas, die an jeder Wand hängen und die Buddhastatuen, und sie erzählt ein bisschen von ihren Treckingreisen nach Nepal und Indien. Immerhin sei sie bis zum Basislager des Mount Everest gestiegen. Sie vermisse das Reisen, sie hoffe darauf, bald wieder loszukommen. Mein Beitrag zu dem sehr persönlichen Gespräch sind Kindheitserinnerungen rund ums Haus, ja, dieser und jener Nachbar, die Spielfreundinnen im Haus an der Ecke, ihr Mann wohnt nun dort, beide hatten sich getrennt, sind aber wieder zusammengekommen, vieles ist einfacher, wenn man nicht in einem Haus lebt.

Vergangenes hat einen Abschluss gefunden, das Haus, die Eltern, die Freundinnen, das Rollschuhfahren, das Versteckspielen unter der Hängebirke, die immer noch dort ist und auch ihr Lieblingsbaum geworden.




Mittwoch, 19. Januar 2022
Und wieder ist Januar. Am 17. jährte sich der Sterbetag des Mütterleins; der des Vaters am 15., elf Jahre zuvor. Beide Zahlen zeigen ihre gegenseitigen Geburtstage. Im letzten Jahr habe ich von (nicht unbedingt zeitlich nahen) Todesfällen von liebgewonnenen und oft bedachten Menschen erfahren. Meine allererste heimliche Affäre, die ich mit 20 unterhielt. Die Betreiberin des B&B in Cornwall, bei der ich einen wunderbaren Sommer im Todesjahr meines Vaters verbrachte. Und der Mann, mit dem ich die gesamten 90er Jahre treu und liebend verbunden war.

Eigentlich fühlte ich mich immer mit ihm verbunden, obwohl wir uns viele Jahr nicht gesehen und gehört haben. Es gibt ein kleines Video von ihm mit einem Reisesegen für mich für Indien 2012. Und irgendwann hatte er mit erzählt, dass er wieder mit einer frühen Freundin zusammengekommen ist. Und glücklich sei. Das fand ich schön. Ich stieß neulich beim Suchen auf seine Trauerseite im Netz. Er ist morgen zwei Jahre tot und ich bin viel zu spät. Ich hinterließ mein Namenskürzel, nachdem ich eine Weile aufgeregt darüber war, dass mich seine Kinder nicht informiert hatten. Ich hätte es einfach gern gewusst. So trifft mich die Trauer zu spät, das üppige Gefühl, alleingelassen worden zu sein und das Bedauern, ihm meinen Reisesegen verwehrt zu haben.

Sonst gibt es keine Toten und noch nicht einmal Kranke. Wir sind einfach alle gesund geblieben in diesen zwei Jahren, gewachsen an einer Krise, die mich nichts anzugehen scheint, mit der ich nicht viel anfangen kann. Gesundheit? Mach ich selber. Sport? Yoga auf dem großen Wollteppich. Lustbarkeiten? Freude kommt von innen bzw. passiert in Innenräumen mit Freunden. Es gibt nur zwei Ausstellungen, deren Zugangsverwehrung ich minimal bedauere -- die in der städtischen Galerie mit jungen, eventuell sogar aufregenden Künstlern und jene im Handwerksforum mit der Verleihung eines Designpreises.

Es ist viel gedacht, gesagt, belacht und beweint worden. In diesem Sinne eine erkenntnisreiche Zeit, die zwei C-Jahre, eine Art Krieg mit Attacken, Schuldzuweisungen, falschen Flaggen und freundlichem Feuer. Ich habe standgehalten.




Samstag, 30. Januar 2021
Aus Gewohnheit fühle ich hin zu den sonst wehen Bereichen der Seele – Sorge, Angst, Zwang – und jetzt ist da nichts. Eine leere Stelle, vielleicht noch eine Schale aus Papier, eine Einbuchtung, die welk im Nichts weht. Das tut mir nichts, es ist nur etwas befremdlich, tatsächlich eine Gewohnheit, die nun nicht mehr greift.

Es tat gut, die Freundinnen am Grab zu wissen, es gab keine falschen Fahnen mit Schreibfehlern, sondern ein Sei wunderbar geborgen von der Kusinenfamilie, Dudi und ich hatten uns Tulpen in pink und weiß auf den weißen Sarg gewünscht und die Busenfreundin sang so nimm denn meine Hände aus der Ecke hinter uns, der Pastor lächelte mir überrascht zu, mein bester Moment dieser Veranstaltung, es darf ja nicht gesungen werden, wie zwei Verschworene lächelten wir, in dieser Kapelle, die mir schon fast ein vertrauter Ort ist, mit Kuppel und Spruchband rings herum.

So erledige ich die Dinge, die getan werden müssen, langsam, aber getrost und ohne Zaudern. Mit jeder Erledigung steigt das Gefühl der Erleichterung, des ledig seins vom Mütterlein, das ich auf seiner allerschönsten Reise weiß, wunderbar geborgen von guten Kräften.




Samstag, 23. Januar 2021


Dieses Bild meiner Eltern macht mich froh. Dudi bemerkte, dass wir da noch gar nicht geboren waren, wie seltsam das sei. Ich sehe zwei Menschen, die praktisch erst vorhin den Krieg überstanden haben, sich jetzt ihrer Liebe und Zuneigung gewiss waren. Dieser Spaziergang in der Stadt hat nichts mit uns Schwestern zu tun, und deshalb ist es so schön.




Als ich sie am Sonntagmittag besuche, liegt sie mit starrem Blick, bewegungslos. Sie reagiert nicht auf mich, nicht als ich sie berühre, nicht als ich mein Gesicht in ihr Blickfeld halte. Die Pflegerin ist lieb und warmherzig und lässt mir alle Freiheiten. Bedankt sich, dass ich da bin. Natürlich nehme ich die Maske sofort ab, nicht mal einen Kittel wie am Freitag soll ich tragen.

Ich komme an. Finde Ruhe. Ihr Atem klingt angestrengt, das Abhusten des Schleimes gelingt ihr nicht mehr. Vorgestern noch hat sie wenigstens meine Hand gedrückt, und als ich ihren Mund erfrischt habe und nachfragte ist das gut? nickte sie. Am Samstag waren ihre Reaktionen kaum noch spürbar und nun sind ihre Augen auf die weiße Wand gerichtet ohne einmal zu blinzeln. Ich habe Angst, aber ich fühle mich ihr gewachsen. Ich fange an zu singen, bete alle Gebete, die uns gemeinsam etwas bedeutet haben, immer im Kreis, singen, beten, noch ein Gebet, dann wieder Gesang. Ich falle nicht ins Weinen, wundere mich, dass meine Stimme ohne Zittern ist. Trotzdem ist dies eine tieftraurige Situation. Meine Stimme, die Verse können jetzt langsamer, ruhiger werden.

Plötzlich, ich habe erst Sorge, dass es ihr zu viel ist, holt sie mit einer flinken, fast eleganten Bewegung ihren Arm unter der Bettdecke hervor und klappt diese zur Seite. Diese wunderbare Geste werde ich nicht vergessen. Nun kann ich ihre Hand nehmen, die sie aber auch heute nicht mehr drückt. Ich rede ihr zu, wie schön sie aussieht, wie gut sie es macht, es ist fast, als versuchte ich sie zu überreden loszulassen, wiederhole die Gebete, Gesang und meine Ermutigungen, es sich leicht zu machen, und den Engeln zu folgen, die ich allesamt als anwesend empfinde/erhoffe, und extra herbeigebetet habe, um uns durch diesen Tag zu führen.

Es dauert alles, alles hat bis hierher so lange gedauert. Ich bin müde und ich spüre, wie mich mein Mut verlässt. Die Pflegerin hatte ich nach geistlichem Beistand gefragt, es wurde verneint, die Pastoren kämen zu diesem Zweck nicht mehr raus.

So öle ich wie gewohnt meinem Mütterlein Gesicht und Hände (zum letzten Mal), teile ihr meinen Entschluss zu gehen ohne Zögern mit, küsse sie zum Abschied und flüstere ihr Gute Reise, Mama ins Ohr, verlasse das Zimmer, gehe durch den langen Flur, verlasse das Haus, verlasse ihr Leben.

Am Abend klingelt das Telefon – ich bin schon lange bereit.




So nimm denn meine Hände
und führe mich
bis an mein selig Ende
und ewiglich

Ich kann allein nicht gehen
nicht einen Schritt
Wo du wirst gehen und stehen
da nimm mich mit

In dein Erbarmen hülle
mein schwaches Herz
und mach es gänzlich stille
in Freud und Schmerz

Lass ruhn zu deinen Füßen
dein armes Kind
es will die Augen schließen
und glauben blind

Wenn ich auch gar nichts fühle
von deiner Macht
du führst mich doch zum Ziele
auch durch die Nacht

So nimm denn meine Hände
und führe mich
bis an mein selig Ende
und ewiglich




Freitag, 24. April 2020
Zwischen Euphorie und ängstlichen Vorstellungen hin- und herpendelnd; allerdings hatten die Ängste überwogen. Nach der Osterpause wieder zum Gespräch. Mit dem Rad durch die Stadt und den Wald. Mir scheint, der Verkehr hat seit dem letzten Mal sehr zugenommen, ich sehe Jogger auf der Hauptstraße ihre Lungen überlasten. Mein Kalender zeigt eine zu frühe Uhrzeit, eine Stunde ist zu überbrücken. Im dortigen Bioladen werde ich von einem maskierten (ob ich nächste Woche auch so aussehe?), wie mir scheint boxkampferprobten (so sehe ich dann wohl doch nicht aus) Verkäufer angeraunzt, ich solle doch hinter die Linie treten (diesen Satz muss ich hoffentlich niemals zu irgendwem sagen). Um das Franzbrötchen zu bezahlen, muss ich doch über die Linie treten, ein Irrsinn. Wie mir scheint. Es scheint alles nur, es ist es nicht richtig.

Die Therapeutin lässt mich ausweinen, Angst und Mut- und Ziellosigkeit zugeben und eine große allgemeine Erschöpftheit. Überhaupt aber scheint das reine Aussprechen, liebevolle Ansprechen, Ansehen dieser lastenden Gefühle bereits das Heilmittel zu sein. Wir machen eine meditative Übung mit Licht, ich liege dabei auf einer hübschen, wertvoll wirkenden Decke, die sanftes Umfangensein fühlbar machen soll. Später am Tag gehe ich leicht und unbeschwert zum Einkaufen, scherze mit Verkäuferinnen und alles erscheint, tatsächlich, in einem anderen Licht.

Ich hatte zu viele Sachen geschaut, ich war neugierig und wollte (mal wieder) die Wahrheit herausfinden. Wie ist es denn nun um diesen Planeten bestellt? Alles zu Ende? Müssen wir jetzt alle sterben? Ich fand Geschichten und Meinungen, die mir gefielen und welche, die ich nicht teilen konnte. Ich fand Schönes, Zukunftsweisendes, Tröstendes. Und ich fand Schauderliches, Abgrundböses. Die Frage, ob das Böse wahr (bzw. eine eigene Realität hat als Opposition oder nur in das Wahre eingehängt) ist, wird kontrovers diskutiert, von Philosophen, Gläubigen und Atheisten, von Yogis, Buddhisten, von dir und mir. Die Therapeutin schlug vor, dass es die eine Wahrheit nicht gäbe, vielmehr säße jeder in seiner eigenen Blase. Als Arbeitshypothese für den Tag ok, aber letztlich scheint mir eine absolute Wahrheit wahrscheinlicher.

Der Bildhauer und ich waren an der Weser, vorbei an einem Ort, den Th. Zigarettenpause genannt hat. Die Erinnerungen mischen sich sich mit den jetzigen Eindrücken (der Bildhauer raucht allerdings nicht, hat aber Kaffee und Käsekuchen dabei), das ist irgendwie sehr schön. Meist waren Th. und ich gern bei ebensolchem Sonnenwetter mit dem Krad unterwegs; vis-à-vis AKW steht das Fährhaus, vor 20 oder mehr Jahren war es ein geducktes Fachwerkgebäude mit einem fast einsamen Biergarten unter alten Bäumen, dazu Wurst- oder Käsebrot mit Gürkchen und einem schönen Bier. Jetzt wird dort ein weiteres, bestimmt doppelt so großes Haus danebengestellt, der Parkplatz wirkt wie ein eigenes Ereignis und reicht für die Vielen, die da kommen sollen; früher stellte man das Auto irgendwo an die Straße. Der Bildhauer mag nicht bleiben und auch ich finde den Ort nicht mehr reizvoll. Zurück nochmal kurz in die Erinnerung an ein stürmisches, blitzreiches Gewitter vor Jahrzehnten, das ich mit Th. auf einer Bank unterm Dachvorsprung des kleinen Nebengebäudes verbracht hatte, ich zitternd, wir frierend vor Nässe, wenn jetzt das AKW hochgeht, sind wir alle geliefert.

Ich kenne das Bergland hier auswendig, aber anscheinend gibt es neu gebaute Straßen und unsere Karte ist gerade knapp oberhalb zu Ende; als ich verunsichtert das uralte Navi anschalte, führt es uns an einen Feldrand. Wir suchen den richtigen (den wahren) Weg, derweil das Navi durchdreht, weil wir seiner Meinung nach mitten übers Gelände fahren. An der Pass-Straße, die ich nicht wiederfinde, liegt eine Wiese, an der man hochsteigen muss, von dort hat man einen weiten Blick in alle Richtungen. Das nächste Mal, tröste ich uns.