Freitag, 13. Mai 2022
Ein seltsames Unterfangen, irgendwie soetwas wie Kontrolle zu erlangen über das, was geschieht. Regler nach oben, links die Essigchips (angeblich original englische Art) und rechts ein kleines Glas Bier -- dabei ist erst Mittag. Diesmal werde ich meine Reise zu Dudi nicht absagen oder verschieben -- dabei ist einiges im Außen/im Argen. Das Verb haben wird im Russischen als bei mir ist umschrieben und das finde ich ganz wunderbar. Weder ich bin dieser Körper, auch nicht ich habe einen Körper, sondern Körper ist bei mir.

Also, in Kriegszeiten zu reisen, kommt mir falsch vor -- dabei ist stets irgendwo Krieg; hat nicht neulich die Türkei irgendwen angegriffen, im Norden, Süden, Osten oder Westen, und niemand hat es kommentiert oder gar bemerkt?

Jetzt oder nie, sagt die Schlagzeugerin, als wir an der Kirmes vorbeifahren und ich mich beklage, dass niemand mit mir Riesenrad fahren mag. Jetzt oder nie machen wir unsere Räder fest, betreten wir das Gelände und schauen wenig später zwischen Stahl-Tangenten und -radien auf unsere Stadt. In der gleichen Gondel sitzt ein Vater und sagt zu seinem Kind so etwas wie город, möglicherweise schau mal, wir können über die ganze Stadt blicken oder die Stadt von oben sehen. Was weiß ich, wie der Russe es umschreibt, wenn er sich hoch oben über der Stadt, город, befindet. Мы смотрим на город.

Сейчас или никогда. Es ist erstaunlich, was man mit einem Mikrowortschatz wie meinem schon alles heraushören oder -lesen kann.

Nun steht also die Reise ins Nachbarland an. Ich hatte mich vor Wochen schon um einen neuen Reisepass bemüht, habe aber erst Ende Juni einen Termin, zudem in einem anderen Stadtteil, weil in meinem Amt wohl nichts mehr geht. Fürs Nachbarland benötigt man natürlich keinen Reisepass, aber statt einer ID-Karte besaß ich stets (lieber) einen Reisepass. Nach meinem letzten Indienbesuch vor zehn Jahren ist dieser nun abgelaufen. Mein bereits erstelltes Foto zeigt eine Frau, also mich, mit einem geschlossenen Hemdkragen, hellerem Haar und einem sehr leisen Lächeln. Sie können ein klein wenig lächeln, sagt die Fotografin, und zeigt mir das erste Bild, auf dem ich erschreckt die Augen aufreiße, während ich sichtlich grimmig auf den Blitz warte.

Dudi und ich hatten uns das letzte Mal Ende Januar 2021 zur Beerdigung unseres Mütterleins gesehen, das ich eigentlich gar nicht mehr Mütterlein nennen möchte. Es klingt so viel Mitleid und Kleinheit mit -- dabei war sie eine erwachsene Frau, die ihr Schicksal angenommen und gelebt hat, so wie wir das alle tun (müssen). Niemand bemitleidet uns dafür. Ich möchte sie als liebevolle Mutter und, vielmehr noch, als lustige, kritische, eigensinnige, freigiebige Ahnin im Herzen wissen, die meinen größten Respekt verdient.

Das erste Mal nun werde ich unserer jüngsten Nachfahrin begegnen. Im Geheimen hatte ich stets darüber spekuliert, ob unsere Mutter in ihren Körper hinüberwechseln würde. Zeitlich (und reinkarnationstheoretisch) gesehen, wäre es nicht ganz unmöglich -- dabei ist die Mutter erst fünf Monate nach der Geburt der Großnichte ins Jenseits hinübergereist. Angeblich aber hat die frisch Inkarnierte ein Jahr Bedenkzeit, ob sie bleiben möchte, und tritt oftmals auch erst nach Monaten vollständig in den neuen Körper ein. Auf mir zugesendeten Bildern und Filmchen erkenne ich die Augenform und -farbe unseres Ur-Ur-Großvaters, mandelförmig, an den Außenseiten spitz nach unten zulaufend, die Iris grau, im Gegensatz zum Grün und Braun unserer Eltern. Und sicherlich sieht man auch die Anteile der holländischen Vorfahren.

Der Neffe und ich haben einen halbgeheimen Pakt über den Erwerb von Bitcoin, der gestern auf einem Tiefpunkt war. JETZT kaufen, weise ich den jungen Mann an, denn ich kann selbst nicht kaufen, weil ich mich selbst nicht registrieren kann, weil blabla mein Pass nicht mehr aktuell ist usw., aber das ehemalige Kind kann es. Dudi weiß darüber nicht alles -- dabei hat sie ihm neulich beim Kauf eines, wie ich finde, sehr hässlichen Krypto-Dings-JPG unterstützt. Angeblich ist es besonders wertvoll, weil es das zehntausendste ist. Achso.

Und so schleudern wir schön mit dem Geld rum, geben es für Benzin, Krypto-Kunst und Bio-Essen aus und sind guter Dinge. Wer weiß, wie's weitergeht, wenn alles egal ist bzw. wird bzw. war.




Samstag, 9. April 2022
Kürzlich hatte ich die Heimatstadt besucht. Die Gärtnerin, die auch von dort stammt, nahm mich mit dem Auto mit, Fahrrad hinten rein, Wetter schön. Das Lehrerehepaar wiederzusehen, war eine echte Freude. Allerdings ist die Gesundheit der beiden nicht sehr stabil, aber auch sie mochten dem Impfdiktat nicht Folge leisten. So redeten wir über aktuelles Geschehen im außen und spirituelle Entwicklung im innern, also über alles, gespickt mit Sorge, durchwachsen mit Spott. Dazu Gelächter, aber auch Ungläubigkeit an menschliche Doofheit. Auf Wunder hoffen tun sie jedoch nicht. Mittlerweile halte ich jede Verschwörungstheorie für möglich, sagt der Mann, den ich für einen der klarsten Denker halte, die ich kenne. Derweil die Frau in der rufnahen Küche herumklapperte und mit Kommentaren ebenfalls nicht sparte. Zum Mittag gab es sogar ein Glas Weißwein zum Lachs.

Bevor ich der Einladung der Elternhauskäuferin folgte, machte ich mich auf den Weg zum Friedhof. Es ist eine seltsam rottige Strecke, ein Stück hinaus aus der Stadt, über das ausladende Straßenkreuz, dessen Ampeln schon vor einem halben Jahr nicht funktionierten, dazu einige Abfahrten gesperrt, weil das Pflaster eingesunken war. Schon am Eingang des Friedhofes mit seinem großzügigen Hauptweg Richtung Kapelle lärmen mir Hunderte von Krähen entgegen. Die schaurige Klangkulisse beherrscht das gesamte Gelände und löst Unruhe in mir aus. Man möchte hier nicht weilen. Am Grab fege ich kleine Äste und etwas Laub beiseite, zupfe ein Sträußchen Scilla und lege es auf dem Stein zurecht. Hier ist niemand mehr. Nicht mal ein Gebet möchte ich sprechen, die beiden, denen es gelten sollte, haben sich verflüchtigt, hier ist Leere (von ihnen). Ich spüre, dass ich nicht mehr wiederkomme.

Im Elternhaus hat sich einiges getan. Die Käuferin begrüßt mich freundlich und zeigt mir in vollem Vertrauen das ganze Haus. Es sind Wände verschoben oder herausgenommen worden, derart, dass ich mich kaum mehr an den vorigen Zustand erinnern kann. Das Bad oben ist auf der anderen Seite, das große Wohnzimmer halbiert, jede Menge Dachschrägenfenster, dafür unten Wohn- und Kinderzimmer zusammengelegt, mittendrin ein schöner Holzofen. Gefährlich finde ich das Entfernen der mittleren Stützwand, da sehe ich schon Farbe abblättern vom Stützbalken, ui, aber den Raum, der dadurch entstanden ist, hatte ich mir immer so gewünscht. An meinem Gefallen ist der Käuferin anscheinend sehr gelegen, es ist ja aber nun ihr Haus. Schön finde ich die Thangkas, die an jeder Wand hängen und die Buddhastatuen, und sie erzählt ein bisschen von ihren Treckingreisen nach Nepal und Indien. Immerhin sei sie bis zum Basislager des Mount Everest gestiegen. Sie vermisse das Reisen, sie hoffe darauf, bald wieder loszukommen. Mein Beitrag zu dem sehr persönlichen Gespräch sind Kindheitserinnerungen rund ums Haus, ja, dieser und jener Nachbar, die Spielfreundinnen im Haus an der Ecke, ihr Mann wohnt nun dort, beide hatten sich getrennt, sind aber wieder zusammengekommen, vieles ist einfacher, wenn man nicht in einem Haus lebt.

Vergangenes hat einen Abschluss gefunden, das Haus, die Eltern, die Freundinnen, das Rollschuhfahren, das Versteckspielen unter der Hängebirke, die immer noch dort ist und auch ihr Lieblingsbaum geworden.




Mittwoch, 19. Januar 2022
Und wieder ist Januar. Am 17. jährte sich der Sterbetag des Mütterleins; der des Vaters am 15., elf Jahre zuvor. Beide Zahlen zeigen ihre gegenseitigen Geburtstage. Im letzten Jahr habe ich von (nicht unbedingt zeitlich nahen) Todesfällen von liebgewonnenen und oft bedachten Menschen erfahren. Meine allererste heimliche Affäre, die ich mit 20 unterhielt. Die Betreiberin des B&B in Cornwall, bei der ich einen wunderbaren Sommer im Todesjahr meines Vaters verbrachte. Und der Mann, mit dem ich die gesamten 90er Jahre treu und liebend verbunden war.

Eigentlich fühlte ich mich immer mit ihm verbunden, obwohl wir uns viele Jahr nicht gesehen und gehört haben. Es gibt ein kleines Video von ihm mit einem Reisesegen für mich für Indien 2012. Und irgendwann hatte er mit erzählt, dass er wieder mit einer frühen Freundin zusammengekommen ist. Und glücklich sei. Das fand ich schön. Ich stieß neulich beim Suchen auf seine Trauerseite im Netz. Er ist morgen zwei Jahre tot und ich bin viel zu spät. Ich hinterließ mein Namenskürzel, nachdem ich eine Weile aufgeregt darüber war, dass mich seine Kinder nicht informiert hatten. Ich hätte es einfach gern gewusst. So trifft mich die Trauer zu spät, das üppige Gefühl, alleingelassen worden zu sein und das Bedauern, ihm meinen Reisesegen verwehrt zu haben.

Sonst gibt es keine Toten und noch nicht einmal Kranke. Wir sind einfach alle gesund geblieben in diesen zwei Jahren, gewachsen an einer Krise, die mich nichts anzugehen scheint, mit der ich nicht viel anfangen kann. Gesundheit? Mach ich selber. Sport? Yoga auf dem großen Wollteppich. Lustbarkeiten? Freude kommt von innen bzw. passiert in Innenräumen mit Freunden. Es gibt nur zwei Ausstellungen, deren Zugangsverwehrung ich minimal bedauere -- die in der städtischen Galerie mit jungen, eventuell sogar aufregenden Künstlern und jene im Handwerksforum mit der Verleihung eines Designpreises.

Es ist viel gedacht, gesagt, belacht und beweint worden. In diesem Sinne eine erkenntnisreiche Zeit, die zwei C-Jahre, eine Art Krieg mit Attacken, Schuldzuweisungen, falschen Flaggen und freundlichem Feuer. Ich habe standgehalten.




Samstag, 30. Januar 2021
Aus Gewohnheit fühle ich hin zu den sonst wehen Bereichen der Seele – Sorge, Angst, Zwang – und jetzt ist da nichts. Eine leere Stelle, vielleicht noch eine Schale aus Papier, eine Einbuchtung, die welk im Nichts weht. Das tut mir nichts, es ist nur etwas befremdlich, tatsächlich eine Gewohnheit, die nun nicht mehr greift.

Es tat gut, die Freundinnen am Grab zu wissen, es gab keine falschen Fahnen mit Schreibfehlern, sondern ein Sei wunderbar geborgen von der Kusinenfamilie, Dudi und ich hatten uns Tulpen in pink und weiß auf den weißen Sarg gewünscht und die Busenfreundin sang so nimm denn meine Hände aus der Ecke hinter uns, der Pastor lächelte mir überrascht zu, mein bester Moment dieser Veranstaltung, es darf ja nicht gesungen werden, wie zwei Verschworene lächelten wir, in dieser Kapelle, die mir schon fast ein vertrauter Ort ist, mit Kuppel und Spruchband rings herum.

So erledige ich die Dinge, die getan werden müssen, langsam, aber getrost und ohne Zaudern. Mit jeder Erledigung steigt das Gefühl der Erleichterung, des ledig seins vom Mütterlein, das ich auf seiner allerschönsten Reise weiß, wunderbar geborgen von guten Kräften.




Samstag, 23. Januar 2021


Dieses Bild meiner Eltern macht mich froh. Dudi bemerkte, dass wir da noch gar nicht geboren waren, wie seltsam das sei. Ich sehe zwei Menschen, die praktisch erst vorhin den Krieg überstanden haben, sich jetzt ihrer Liebe und Zuneigung gewiss waren. Dieser Spaziergang in der Stadt hat nichts mit uns Schwestern zu tun, und deshalb ist es so schön.




Als ich sie am Sonntagmittag besuche, liegt sie mit starrem Blick, bewegungslos. Sie reagiert nicht auf mich, nicht als ich sie berühre, nicht als ich mein Gesicht in ihr Blickfeld halte. Die Pflegerin ist lieb und warmherzig und lässt mir alle Freiheiten. Bedankt sich, dass ich da bin. Natürlich nehme ich die Maske sofort ab, nicht mal einen Kittel wie am Freitag soll ich tragen.

Ich komme an. Finde Ruhe. Ihr Atem klingt angestrengt, das Abhusten des Schleimes gelingt ihr nicht mehr. Vorgestern noch hat sie wenigstens meine Hand gedrückt, und als ich ihren Mund erfrischt habe und nachfragte ist das gut? nickte sie. Am Samstag waren ihre Reaktionen kaum noch spürbar und nun sind ihre Augen auf die weiße Wand gerichtet ohne einmal zu blinzeln. Ich habe Angst, aber ich fühle mich ihr gewachsen. Ich fange an zu singen, bete alle Gebete, die uns gemeinsam etwas bedeutet haben, immer im Kreis, singen, beten, noch ein Gebet, dann wieder Gesang. Ich falle nicht ins Weinen, wundere mich, dass meine Stimme ohne Zittern ist. Trotzdem ist dies eine tieftraurige Situation. Meine Stimme, die Verse können jetzt langsamer, ruhiger werden.

Plötzlich, ich habe erst Sorge, dass es ihr zu viel ist, holt sie mit einer flinken, fast eleganten Bewegung ihren Arm unter der Bettdecke hervor und klappt diese zur Seite. Diese wunderbare Geste werde ich nicht vergessen. Nun kann ich ihre Hand nehmen, die sie aber auch heute nicht mehr drückt. Ich rede ihr zu, wie schön sie aussieht, wie gut sie es macht, es ist fast, als versuchte ich sie zu überreden loszulassen, wiederhole die Gebete, Gesang und meine Ermutigungen, es sich leicht zu machen, und den Engeln zu folgen, die ich allesamt als anwesend empfinde/erhoffe, und extra herbeigebetet habe, um uns durch diesen Tag zu führen.

Es dauert alles, alles hat bis hierher so lange gedauert. Ich bin müde und ich spüre, wie mich mein Mut verlässt. Die Pflegerin hatte ich nach geistlichem Beistand gefragt, es wurde verneint, die Pastoren kämen zu diesem Zweck nicht mehr raus.

So öle ich wie gewohnt meinem Mütterlein Gesicht und Hände (zum letzten Mal), teile ihr meinen Entschluss zu gehen ohne Zögern mit, küsse sie zum Abschied und flüstere ihr Gute Reise, Mama ins Ohr, verlasse das Zimmer, gehe durch den langen Flur, verlasse das Haus, verlasse ihr Leben.

Am Abend klingelt das Telefon – ich bin schon lange bereit.




So nimm denn meine Hände
und führe mich
bis an mein selig Ende
und ewiglich

Ich kann allein nicht gehen
nicht einen Schritt
Wo du wirst gehen und stehen
da nimm mich mit

In dein Erbarmen hülle
mein schwaches Herz
und mach es gänzlich stille
in Freud und Schmerz

Lass ruhn zu deinen Füßen
dein armes Kind
es will die Augen schließen
und glauben blind

Wenn ich auch gar nichts fühle
von deiner Macht
du führst mich doch zum Ziele
auch durch die Nacht

So nimm denn meine Hände
und führe mich
bis an mein selig Ende
und ewiglich




Freitag, 24. April 2020
Zwischen Euphorie und ängstlichen Vorstellungen hin- und herpendelnd; allerdings hatten die Ängste überwogen. Nach der Osterpause wieder zum Gespräch. Mit dem Rad durch die Stadt und den Wald. Mir scheint, der Verkehr hat seit dem letzten Mal sehr zugenommen, ich sehe Jogger auf der Hauptstraße ihre Lungen überlasten. Mein Kalender zeigt eine zu frühe Uhrzeit, eine Stunde ist zu überbrücken. Im dortigen Bioladen werde ich von einem maskierten (ob ich nächste Woche auch so aussehe?), wie mir scheint boxkampferprobten (so sehe ich dann wohl doch nicht aus) Verkäufer angeraunzt, ich solle doch hinter die Linie treten (diesen Satz muss ich hoffentlich niemals zu irgendwem sagen). Um das Franzbrötchen zu bezahlen, muss ich doch über die Linie treten, ein Irrsinn. Wie mir scheint. Es scheint alles nur, es ist es nicht richtig.

Die Therapeutin lässt mich ausweinen, Angst und Mut- und Ziellosigkeit zugeben und eine große allgemeine Erschöpftheit. Überhaupt aber scheint das reine Aussprechen, liebevolle Ansprechen, Ansehen dieser lastenden Gefühle bereits das Heilmittel zu sein. Wir machen eine meditative Übung mit Licht, ich liege dabei auf einer hübschen, wertvoll wirkenden Decke, die sanftes Umfangensein fühlbar machen soll. Später am Tag gehe ich leicht und unbeschwert zum Einkaufen, scherze mit Verkäuferinnen und alles erscheint, tatsächlich, in einem anderen Licht.

Ich hatte zu viele Sachen geschaut, ich war neugierig und wollte (mal wieder) die Wahrheit herausfinden. Wie ist es denn nun um diesen Planeten bestellt? Alles zu Ende? Müssen wir jetzt alle sterben? Ich fand Geschichten und Meinungen, die mir gefielen und welche, die ich nicht teilen konnte. Ich fand Schönes, Zukunftsweisendes, Tröstendes. Und ich fand Schauderliches, Abgrundböses. Die Frage, ob das Böse wahr (bzw. eine eigene Realität hat als Opposition oder nur in das Wahre eingehängt) ist, wird kontrovers diskutiert, von Philosophen, Gläubigen und Atheisten, von Yogis, Buddhisten, von dir und mir. Die Therapeutin schlug vor, dass es die eine Wahrheit nicht gäbe, vielmehr säße jeder in seiner eigenen Blase. Als Arbeitshypothese für den Tag ok, aber letztlich scheint mir eine absolute Wahrheit wahrscheinlicher.

Der Bildhauer und ich waren an der Weser, vorbei an einem Ort, den Th. Zigarettenpause genannt hat. Die Erinnerungen mischen sich sich mit den jetzigen Eindrücken (der Bildhauer raucht allerdings nicht, hat aber Kaffee und Käsekuchen dabei), das ist irgendwie sehr schön. Meist waren Th. und ich gern bei ebensolchem Sonnenwetter mit dem Krad unterwegs; vis-à-vis AKW steht das Fährhaus, vor 20 oder mehr Jahren war es ein geducktes Fachwerkgebäude mit einem fast einsamen Biergarten unter alten Bäumen, dazu Wurst- oder Käsebrot mit Gürkchen und einem schönen Bier. Jetzt wird dort ein weiteres, bestimmt doppelt so großes Haus danebengestellt, der Parkplatz wirkt wie ein eigenes Ereignis und reicht für die Vielen, die da kommen sollen; früher stellte man das Auto irgendwo an die Straße. Der Bildhauer mag nicht bleiben und auch ich finde den Ort nicht mehr reizvoll. Zurück nochmal kurz in die Erinnerung an ein stürmisches, blitzreiches Gewitter vor Jahrzehnten, das ich mit Th. auf einer Bank unterm Dachvorsprung des kleinen Nebengebäudes verbracht hatte, ich zitternd, wir frierend vor Nässe, wenn jetzt das AKW hochgeht, sind wir alle geliefert.

Ich kenne das Bergland hier auswendig, aber anscheinend gibt es neu gebaute Straßen und unsere Karte ist gerade knapp oberhalb zu Ende; als ich verunsichtert das uralte Navi anschalte, führt es uns an einen Feldrand. Wir suchen den richtigen (den wahren) Weg, derweil das Navi durchdreht, weil wir seiner Meinung nach mitten übers Gelände fahren. An der Pass-Straße, die ich nicht wiederfinde, liegt eine Wiese, an der man hochsteigen muss, von dort hat man einen weiten Blick in alle Richtungen. Das nächste Mal, tröste ich uns.




Mittwoch, 29. Mai 2019




Dienstag, 22. Januar 2019
Als wir, die G. und ich, Bursfelde mit dem Bus erreichen, laufe ich mit einer gewissen Dringlichkeit den Weg über den Kirchhof, um möglichst schnell endlich anzukommen. Die Anreise ist etwas kompliziert und der Rucksack schwer und nervig, aber als Selbstversorgerinnen der Oase wollen wir mit angenehmen Nahrungsmitteln ausgestattet sein. Sogar die kleine Espressokanne habe ich mit.

Wie ich diesen Ort liebe. G. und ich träumen innerhalb weniger Tage von einem Schwan. Ich tauche mein Gesicht in sein herrliches weiches Gefieder, das wunderbar warm riecht, nach Schlaf. Ich kann nicht aufhören damit, bis der Schwan seinen Hals zu mir verdreht und vorsichtig aber bestimmt mit dem harten Schnabel, der mir Respekt einflößt, nach mir schnappt; er findet mich etwas aufdringlich, schließlich ist er ein wildes Tier. An einem Tag nach einer Wanderung, als wir über unsere Träume sprachen und die Kirche wieder ins Blickfeld kommt, denke ich, die Kirche ist der Schwan! Nichts erscheint mir wahrer.


Das zweiteilige Gebäude kommt mir liebreizend vor, und als würde ich es schon lange kennen. Aber es ist trutzig und recht einfach gestaltet, die steinernen Zierelemente sind Kleinode, die nicht einschüchtern, so ein Kapitell schafft man bestimmt in einigen Tagen, und wenn alle mithelfen, ist die Kirche in zehn Jahren fertig. Und nicht in 150.


Dudi hat gefragt, was ich denn da den ganzen Tag so mache. Ich versuche es mit mir auszuhalten. Ist mir in den letzten Wochen schwer gefallen, das mit mir sein. Ich mag nicht mehr den immer gleichen Angstphantasien (um das Mütterlein) nachhängen, kann diese aber nur schwer abstellen und lenke mich dauernd ab. Im Kloster will ich das nicht tun. G. und ich haben aufschlussreiche Gespräche, wir finden schnell einen gemeinsamen Rhythmus – unseren eigenen, denn wir nehmen nicht an den Seminaren teil, die das Kloster ganzjährig anbietet – aus Mahlzeit, Spaziergang, Meditation und Tages- bzw. Nachtruhe.

In der Nacht zum Donnerstag schneit es, erst plätschert Wasser in der Dachrinne, wonach ich lausche und als ich das Fenster öffne, geht ein Schneesturm über den Innenhof, jede Flocke beleuchtet von Licht, das regelmäßig an und wieder ausgeht. Morgens wollen wir schnell in die Natur, das Wesertal ist wundersam verschneit, als wären wir in einem fernen Land.