Mittwoch, 29. Mai 2019




Dienstag, 22. Januar 2019
Als wir, die G. und ich, Bursfelde mit dem Bus erreichen, laufe ich mit einer gewissen Dringlichkeit den Weg über den Kirchhof, um möglichst schnell endlich anzukommen. Die Anreise ist etwas kompliziert und der Rucksack schwer und nervig, aber als Selbstversorgerinnen der Oase wollen wir mit angenehmen Nahrungsmitteln ausgestattet sein. Sogar die kleine Espressokanne habe ich mit.

Wie ich diesen Ort liebe. G. und ich träumen innerhalb weniger Tage von einem Schwan. Ich tauche mein Gesicht in sein herrliches weiches Gefieder, das wunderbar warm riecht, nach Schlaf. Ich kann nicht aufhören damit, bis der Schwan seinen Hals zu mir verdreht und vorsichtig aber bestimmt mit dem harten Schnabel, der mir Respekt einflößt, nach mir schnappt; er findet mich etwas aufdringlich, schließlich ist er ein wildes Tier. An einem Tag nach einer Wanderung, als wir über unsere Träume sprachen und die Kirche wieder ins Blickfeld kommt, denke ich, die Kirche ist der Schwan! Nichts erscheint mir wahrer.


Das zweiteilige Gebäude kommt mir liebreizend vor, und als würde ich es schon lange kennen. Aber es ist trutzig und recht einfach gestaltet, die steinernen Zierelemente sind Kleinode, die nicht einschüchtern, so ein Kapitell schafft man bestimmt in einigen Tagen, und wenn alle mithelfen, ist die Kirche in zehn Jahren fertig. Und nicht in 150.


Dudi hat gefragt, was ich denn da den ganzen Tag so mache. Ich versuche es mit mir auszuhalten. Ist mir in den letzten Wochen schwer gefallen, das mit mir sein. Ich mag nicht mehr den immer gleichen Angstphantasien (um das Mütterlein) nachhängen, kann diese aber nur schwer abstellen und lenke mich dauernd ab. Im Kloster will ich das nicht tun. G. und ich haben aufschlussreiche Gespräche, wir finden schnell einen gemeinsamen Rhythmus – unseren eigenen, denn wir nehmen nicht an den Seminaren teil, die das Kloster ganzjährig anbietet – aus Mahlzeit, Spaziergang, Meditation und Tages- bzw. Nachtruhe.

In der Nacht zum Donnerstag schneit es, erst plätschert Wasser in der Dachrinne, wonach ich lausche und als ich das Fenster öffne, geht ein Schneesturm über den Innenhof, jede Flocke beleuchtet von Licht, das regelmäßig an und wieder ausgeht. Morgens wollen wir schnell in die Natur, das Wesertal ist wundersam verschneit, als wären wir in einem fernen Land.




Donnerstag, 19. Juli 2018


Wir waren auf Wangerooge, der Bildhauer und ich. Seine Schwester S. arbeitet dort für zwei Wochen in der Gemeinde, um sie wieder auf Vordermann zu bringen, physisch mit Fensterputzen und so, und auch spirituell, durch ein paar gute Ideen, wie man die Menschen erreichen kann. Die Diakonin schickt ihr ab und zu unverständliche SMSse, weil sie sich mit dem Pfarrer gezankt hat, und es gibt ein großes Bullauge im Gemeindehaus, das auf keinen Fall im Sonnenschein geputzt werden darf wegen der Schlieren.

Sonst denken wir nicht viel. Das Meer ist schön und die Luft auch. Es gibt viel Sand. Wir erfahren vom Betreiber des Radverleihes, dass alle Nordseeinseln eigentlich wegwehen würden, wenn man sie nicht befestigte. Fortan betrachte ich jede Welle argwöhnisch, damit sie uns nicht zu viel des Sandes fortschwemme. Wenn ich allerdings Gott wäre, würde ich das so lassen. Der Radverleiher hat anscheinend einen Vortrag, den er ungefragt jedem Gast abspult, Sturmflut von 1961 und so, dazu tippt er auf eine kleine Landkarte. An der Stelle im Westen ist das Papier schon durchgerauht und schmutzig. Davon hätte ich gern ein Foto, aber die neue Kamera steckt in ihrer Tasche.

Eine Olympus habe ich erworben, die so retro aussieht, dass man ihr die Funktionen nicht glaubt, von denen ich mir noch keine Anwendung vorstellen kann. Die Busenfreundin, die ihre Riesen-Profi-Canon kaum hochheben kann, kommentierte das Gebilde: mit so einer Kamera brauchst du beim Fotoshooting gar nicht erst aufzutauchen. Ich gehe ja auch nicht zum Fotoshooting, sondern will Fotos machen. Dass ich mich für ein Foto-Stipendium beworben habe, verschweige ich ihr.

In Wangerooge tackeln die Rollkoffer auf dem schiefen Backsteinpflaster. Heutzutage reist wohl niemand mehr mit Rucksack wohin. Unser Domizil ist nett, ein bisschen wie zuhause mit Kissen und so, aber von der Inhaberin bekommen wir mehrere Rüffel, weil wir z. B. die Fahrräder falsch abstellen oder uns an den Vierertisch setzen wollen, obwohl wir bloß zu zweit sind. Am dritten Morgen, dem letzten, wache ich um fünf auf, weil ich Angst vor dem Frühstück habe, es ist wohl ausschließlich von Lidl, das ertrage ich nicht ein weiteres Mal. Ich wecke den Bildhauer, und kurz danach sind wir schon am Strand. Der beste Teil unseres Ausfluges. Ich mache ein paar Aufnahmen mit der Kamera, die ich vielleicht deshalb gekauft habe, weil sie Mark II als Namenszusatz hat – Mark Twain.


Man baut auch wieder Strandburgen, oder immer noch. Manche wirken wie Festungen aus Beton, auch die Fahnen fehlen nicht, und der Bildhauer schreibt FICKEN in die glattgeklopfte Wand der einen. Er muss immer ein bisschen revoltieren und läuft dazu in schwarzen Klamotten rum, aber er ist viel zu lieb und dann lache ich. Der Bäcker macht um sechs auf und dort sitzen wir lange und genießen richtigen Cappu und dreieckige Laugenbrötchen, deren Belag wir uns ausdenken konnten, u. a. mit Mayo. Sanddorn-Yoghurt-Schnitte danach. Noch so einen Kaffee.

An der Westseite gibt es einen Turm, dessen Dach ich zu spitz finde. Dort ist eine Jugendherberge untergebracht, und ich bin beeindruckt von den abgelatschten Stufen, die wir aufsteigen nach oben in das kleine Fensterzimmerchen. Blick auf Watt, Sand und Bewuchs. In der Ferne das Festland und die anderen Inseln. Spiekeroog. Wir tun die ganze Zeit so, als wären wir auf Baltrum, das finden wir ziemlich lustig.




Dienstag, 7. März 2017
Indien? Swami ruft an und fragt, ob ich im Herbst mitkomme. Nach Indien. Mein übliches ich kann hier nicht weg und wenn was passiert, kann ich nicht so schnell aus Indien weg wird mit einem na und, dann kannst du eben nicht weg zum schnellen Einsturz gebracht. Und wenn Mama stirbt und ich nicht zur Beerdigung kommen kann? Wird ebenso weggewischt wie eine schon halb vertrocknete Träne.

Tatsächlich wirkt die Idee, einfach wegzufahren wie eine plötzliche Erfrischung nach langem Durst und bringt mich aufgeregt und voller neuer Hoffnung durch den Sonntag. Um dann am Montag unter einer Last von ohgott, was für ein Frevel, eine mögliche Beisetzung zu verpassen zusammenfällt und sowieso, einfach abhauen aus der Verantwortung? Ich kann nicht.

Jenes ich kann nicht – ganz langsam dämmert es auch mir, ist eine selbst angelegte Fessel. In der Meditation versuche ich, das eherne Band zurückzuverfolgen, wo es sich als Irrtum herausstellt und letztlich aus keiner besonderen Substanz bestehend. Da ist nichts.

Nichts. Im Treppenhaus treffe ich G., eine der Betreuerinnen von Mama. Auch sie ist sofort dabei: Indien, mach das! Du musst dein eigenes Leben leben. Beerdigung? Na und? Und Dudi, die eine Beerdigung allein ausrichten müsste, was wird die sagen? Auch na, und?

Im Frühjahr 2012 war ich das letzte Mal in Indien und damit auch das letzte Mal auf großer Reise. Ich konnte ja nicht weg. Unsere kleine Gruppe bestand aus reiner Unbeschwertheit. Versaute Witzen beim Spaziergang am Ganges, leckeres Essen, abendliches Zusammensein bei indischem Tee. Vorträge, Konzerte, Meditationen. Feuer und Sonne. Das Holi-Fest. Die Vorberge des Himalaya, der Oberlauf des Ganges.
Der gebliebte Lehrer.

Nach Hause kommen, zu Hause sein.




Freitag, 6. Februar 2015
In der Dämmerung erwachen und noch nicht wissen, welches Grau das ist, Dämmerungsgrau noch ohne Farbe, oder Schlechtwettergrau. Langsam nur macht es sich breiter und ich liege regungslos eingewickelt in Decken bei offenem Fenster und schaue, wartend. Erinnerungen an Lichtfarben in fernen Ländern. Hong Kong, viel früher als ich sonst aufzustehen pflegte, gehe ich raus auf die Straßen zum nächsten Geldautomaten. Dort dieses Licht, das auf ein paar Menschen fällt, die warten. Reflektiert noch von Mauern und Straßenbelägen. In Rishikesh, in der Stille sitzen am Lieblingsplatz und auf die Sonne warten, die über den Vorbergen des Himalaya aufgehen wird. Wieder dieses Licht, erst grau, unmöglich zu erkennen, ob es Wolken gibt, und dann der Moment, wenn das Grau bläulich scheint, erst nur eine Ahnung, dann, gefiltert von feinsten Partikeln, hellblau! diffus, aber schon mit der Gewissheit von weiteren minimalen Verschiebungen der Stimmungen, hin zu Glück.




Samstag, 14. Juni 2014


Am Abend empfängt der Bremer Bahnhof die Leserin und mich mit einem Licht, das uns glauben macht, wir befänden uns auf einer ganz anderen Reise; mit dem Nachtzug nach Dharamsala oder so, die tiefe Abendsonne
an der Seite. Dharamsala liegt weit weg, es hört sich kostbar an. Wir haben uns in Picassos Welt der Frauen mit Pferdeschwanz-Malerei einweben lassen und so vieles schön gefunden: Die wunderbaren Keramiken, Teller mit Gesicht oder Fischen. Haben Buchläden besucht, die die Leserin vom Hörensagen kennt, in einem sitzt die innehabende Verlegerin noch persönlich am Tresen, die Leserin spricht sie aber nicht an. Ich kaufe etwas Science Fiction, ein irres Buch, das ich
nachts daheim noch anfange, in meinem friedlichen Bett, ohne Zeit, wie früher.

Wir essen Tapas mit Blick auf die Weser, direkt über unseren Schälchen hoch in der Platane ruht ein Taubennest, von dem ab und zu kleine Zweige herunterfallen. Wir bewundern die großen Backsteine der Altstadt-Häuschen und rufen uns Ereignisse ins Gedächtnis, die uns mit der Stadt verbinden. Eigentlich ist es der Fluss, alles andere erweist sich als vergänglich.

Wir beide brauchen Freundlichkeit, die Leserin hatte morgens im Zug noch weinen müssen, auch wegen Mama, der ihren, die langsam zerfällt. Ich streiche ihr über die Wange, gänzlich ohne Sentimentalität. Wir wissen, wie Trauer sich anfühlt.




Montag, 2. Dezember 2013
Die Leserin und ich stehen an der Haltestelle Tannenstraße und warten auf die Straßenbahn, die uns zu unserem Domizil im Gewerbegebiet bringen wird. Wir sind erstaunlich betrunken für zweieinhalb Gläser Rotwein und faseln bereits. Wir vertragen ja nichts mehr. Ich hatte mir eine schöne Blog-Überschrift ausgedacht, aber schon bald restlos vergessen, worüber wir überhaupt so angeregt gesprochen haben, des Nachts dort in Dresdens Neustadt.

Mit der Leserin ist gut kurzreisen. Schon die ewig lange Bahnfahrt vergeht wie nichts, wir müssen nicht mal das Kartenspiel rausholen, um eine Patience zu legen, zack, sind wir in Leipzig zum Umstieg, essen Kuchen am Bahnhof und bald schon laufen wir durch die vielen Weihnachtsmärkte Dresdens. In jedem halbwegs geräumigen Winkel der Stadt befindet sich eine Ansammlung Glühweinhütten und Häuschen mit Billigkrempel und gebranntem Nusswerk. Welcher nun der berühmte Striezelmarkt ist, will sich mir nicht erschließen, wir sind hier auch nicht zum Striezeln, sondern zwecks einfachen Daseins. Und die Sixtinische Madonna müssen wir unbedingt ansehen, die hängt im Zwinger.

Vor ziemlich genau zehn Jahren war ich hier mit dem Jungen Mann, die Frauenkirche war noch nicht ganz wieder aufgebaut, und auch diesmal finden die Leserin und ich keinen Einlass, weil das ZDF ein Konzert vorbereitet. Ein eigenartiges Gefühl verursacht mir der Anblick einer ebenso großen wie tiefen Baulücke, vor zehn Jahren frisch ausgehoben wegen imposanter städtebaulicher Pläne, wie mir der Junge Mann erklärte – und jetzt, wie nach einer Zeitreise, starrt eben dieses leere Stück Stadt, gewaltig wie einhundert nicht gebaute Schwimmbäder voller Gestrüpp zu uns nach oben.

Wir laufen zwischen den bedeutungsvollen Gebäuden herum, durch Menschenmassen und Wogen dieses peinlichen Dialekts quetschen wir uns bis zur Elbe und erklären uns gegenseitig halb-, viertel- und noch weniger gebildet die Stadt, dort die mittlere Brücke, auch die Mittlere Brücke genannt, die anderen heißen Rechte und Linke Brücke, hier das Gebäude aus der Bierwerbung, der Zwinger müsste es sein, ja, die Madonna schauen wir morgen an, wieso hängt die eigentlich hier und nicht in Florenz? Ein Geschenk an die Stadt? Eine Auftragsarbeit? Geklaut gar? Das werden wir alles im Internet nachlesen, wenn wir wieder daheim sind, verprechen wir.

Mit beiläufig eingestreuter Kapitalismuskritik vertreiben wir uns die knappe Zeit, die beuten sich alle selbst aus, sage ich nicht nur einmal zur Leserin, kaufen fast nichts, jedenfalls kein Nippes, sondern Suppen, koreanische Reis- und Nudelgerichte zum Abend, Wein zur Nacht, Croissants zum Frühstück und finnischen Lachs zum anschließendem Mittagessen. Der Erwerb eines Rentierfells steht zur Debatte, das können wir aber ebenso gut auf dem heimischen Weihnachtsmarkt.

Jetzt schnell zur Madonna. Mit einer Wahrscheinlichkeit von eins zu Unendlich treffen wir den Exmitbewohner der Leserin nebst Liebhaber, ein freudiges Hallo entfacht sich dort im Treppenhaus, es ist einfach erstaunlich. Eine für 14 Uhr anberaumte gemeinsame Kaffeezeit (incl. Gespräch über alte Zeiten) ergibt den Verzehr von fünf Stücken Torte, die allerdings ausnahmslos in des Exmitbewohners Lovers Magen landen! Es gibt ein wenig Beziehungskritik.

Ja und endlich betrachten wir die Madonna, die Raffaelo Santi für den Hochaltar der Klosterkirche San Sisto in Piacenza 1512/1513 gemalt hat. Das Bild ist riesig und während wir davor stehen, verlieben wir uns unsterblich. Anhand von Vergleichen mit anderen Werken, die hier ausgestellt sind, erkennt auch der Ungeübte die herausragende Meisterschaft Raffaels. Die geometrische Bildkomposition ist mir beinahe hörbar: wie sich das Tuch der Madonna in einem imaginären Windstoß nach rechts bauscht, um die Mittelachse nicht zu gefährden, wie sich die Blicke der Personen kreuzen und zu anderen Bildelementen führen, wie die Farben der Kleider sich zueinander bekennen – und dann der Blick des Kindes, sein entspanntes Lehnen in den Armen Mariens, wie beider Augenpaare mit Sixtus' Augen eine Linie und ihre linke Brust zart gewölbt mit dem angezogenen Bein des Kindes eine Parallele dazu bildet, wie Sixtus' beschatteter Finger durch den hellen Ärmel kontrastiert zu uns hin zeigt, ach, und die hübschen Füße der Madonna und all die anderen unglaublichen Einzelheiten des Gemäldes – grandios! – Die erheiternden Putten unten am unteren Rand haben eigenständige Berühmtheit erlangt.

So, genug der Worte, damit ist die Reise auch schon fast erzählt. Wir kaufen mehrere Postkarten der Madonna, auf einer zeichnen wir während der Rückreise alle Linien, Kreise, Ovale, Quadrate, Dreiecke und Bögen nach, die wir erkennen können.




Dienstag, 12. November 2013
Schlaflos. Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Hat Adorno gesagt. Ich kenne Adorno nicht. Als wäre ich überhaupt in einem falschen Leben, als liefe ich dem richtigen davon oder versteckte mich. Alles ist klein. Die Menschen, mit denen ich zu tun habe, sind klein. Ihnen fehlen die großen Visionen. Ebenso verzettele ich mich mit ihnen und halte mich krampfhaft an einen Tagesablauf, um nicht. Um nicht was. Um nichts. Es geht um das Nichts. Die Auslöschung. Gestern Nacht war mir sonnenklar, dass das Ego, die Persönlichkeit (so wie sie im Vedanta beschrieben wird, nicht in der westlichen Psychologie, dies hier ist nämlich ein philosophisches Dings), endgültig ausgedient hat. Der Krieg, der immer nur ein innerer ist, wie die gita uns lehrt, ist beinahe vorbei. Es gibt nichts mehr zu erreichen, Ruhm interessiert nicht mehr, Geld sowieso nicht und die (körperliche) Liebe hat allen Geschmack verloren. Dies ist überhaupt das Sonderbarste, dass sie, die mich Jahrzehnte atemlos gehalten hat, verblasst, dass das Verlangen schwindet, als wäre sie bloß ein Schnitzel, ja, genau, ein Stück Fleisch auf dem Teller, den ich verständnislos betrachte.

Da geht noch was.

Ein bisschen noch ist da. Ein bisschen Welt nagt noch, da sind die Schreibenden, die Jammernden, die Unwissenden, die Kranken und Sterbenden; als könnte ein kleiner goldener Satz aus meinem Kästlein sie aus dem Schlummer wecken und sofort heil machen. Wozu. Dabei schreibe ich doch nur für mich. Um mich zu erinnern. Um den Weitblick zu bekommen über das grüne Land. Mein grünes Land, um dessen Willen ich aufgebrochen bin. Darüber schrieb ich schon mal. Es sollte der Bericht (m)einer Reise sein, allein, auf einem Frachter über die sinntgeflutete Erde einer möglichen Zukunft. Ich bin nie über das erste Kapitel gekommen, denn es war nicht viel mehr zu tun, als von Ferne auf die vorbeiziehenden Häfen zu schauen.

Atman. Ich hatte einmal einen äußerst aufwühlenden Traum, den mir ein guter Yogifreund auslegte. Er legte mir immer alle wichtigen Träume aus und hatte gewöhnlich Recht. Dieser Traum würde mir bedeuten, dass ich in diesem Leben Atman realisieren würde. Ich würde mein Ziel erreichen, das einzige, das ich je hatte, das wozu ich aufgebrochen war.

Mir ist bewusst, dass für dieses große Ziel alle anderen (kleinen) aufzugeben sind. Aber wie es sich anfühlen würde, dieses Aufgeben, wusste ich nicht. Ich dachte, ich könnte mich willentlich dazu zwingen, ich müsste allem entsagen, aber jetzt sehe ich, das Aufgeben geschieht einfach. So einfach, dass es gar nicht auffällt. Es ist wie dieses berühmte torlose Tor, durch das man gehen muss und wenn man es durchschritten hat, ist es fort (weil es nichts mehr bedeutet).

Ich bin froh, dass das Keyboard beleuchtet ist. Ich sitze im sonst dunklen, kalten Zimmer mit dem neuen selbstgestrickten Kapuzenpullover und einer Wärmflasche auf den zum Schneidersitz gekreuzten Beinen, es ist Südwind, die Züge sind laut wie im Sommer. Eine wundersame Nacht und gleich werde ich schlafen können.




Sonntag, 13. Oktober 2013
Und wieder frag ich nach dem Mitgefühl, was mach ich dann damit? Erstmal vor allem Mitgefühl mit dir selbst, antwortet die Buddhistin geduldig wie immer. Im Lokal, in dem ich noch nicht war, gibt es Kürbisschnitzel, alle bekannten Gesichter aus dem Stadtteil sind anwesend. Lecker, also die Schnitzel, panierte Schnitze vom Kürbis. Mitgefühl für die Ablehnung und die Wut. Spüren, was da ist, nicht immer weglaufen davon mit Psychologisieren der Situation. Ich weiß, ich weiß doch, aber es ist notwendig, es wieder zu hören, damit man sich nicht im Leben anderer Menschen verirrt. Hier selbst ist genug zu verirren.

Das passt.

Am liebsten hätte ich die Wohnung leer, damit mein Geist auch leer sein kann. Eigentlich könnten alle Bücher weg, aber dann hätte ich ein großes leeres Regal. Und die CDs, alle weg, dann wäre auch das Board, das mein erster Freund K. mir aus Palettenholz geschreinert hat, überflüssig. Gewachste Planken, äußerst schlicht, nicht allzu tief für Taschenbücher, Gebundene konnte ich mir damals nicht leisten. Und der letzte noch zu überdenken gewesende Beutel mit Altkleidern ist nun auch im Container, bitte keine Stoffreste, steht drauf, naja, es ist ein kleiner Rest Seide aus China mit drin, lass ich so. Was könnte man nicht alles recyclen, die Freundin der Buddhistin schneidert Gegenstände, die schon ein jeder besitzt, jetzt soll sie einen Etui-Prototyp aus alten Mountainbikereifen herstellen, irgendwie stecken da zu viele Leute mit drin, der Mountainbikefahrer, der Initiator, die Designerin, die Näherin, 32 Euro, damit alle was davon haben. Viel zu teuer, befinden wir, so wird das nichts mit dem Recyclinggewerbe. Es gibt ja auch Leute, die aus alten Büchern Landschaften schnitzen oder Skulpturen, dazu wäre ich zu faul, ich bekomme ja nicht mal die Beine der Bank abgesägt, Säge besorgen, Schrauben für die Rollen suchen, Rollen festschrauben, Kram wieder einräumen.

Das ganze Rumgeräume geht mir auf die Nerven. Im Geist ist Unordnung. Eine Freundin der Busenfreundin hat fast gar keinen Besitz, einen Tisch, auf dem nichts steht, einen Herd mit wahrscheinlich einem Topf, einen einzigen, höchstens zwei Stühle, so genau weiß ich das nicht, aber imponierend die Leere in ihrer Wohnung konträr zu ihrer unglaublichen Verstörtheit. Mir kommt mein Wunsch nach Besitzlosigkeit selbst etwas seltsam vor. Als dürfte ich nichts besitzen, das mich unnötig bindet. Als würde ich mich verabschieden auf eine lange Reise mit kleinem Gepäck, von der ich möglicherweise nicht zurückkomme. Oder als hätte ich keine Zeit, noch groß sesshaft zu werden. Oder eine Art Mitgefühl für die Menschen im meinem Leben, nah oder etwas ferner, deren Lebenszeit übersichtlicher ist als die meine, erwartete.




Sonntag, 26. Mai 2013
Gern hätte ich diesen Text Tagesflugzeug nach Zürich betitelt und eigentlich wollte ich mich darin ein bisschen über Nachtzug nach Lissabon auslassen, mittlerweile habe ich aber Buch-Frieden gefunden und werde von meinem ursprünglichen Plan, es nicht weiterzulesen, ablassen. Es sind ja die Stimmungen, in die ich gern auf Reisen eintauche, natürlich – hin und wieder eine Sehenswürdigkeit, die ja nicht umsonst als des Sehens würdig gepriesen werden. Wichtiger ist für mich aber immer das sich in der Stadt befinden gewesen. Empfinden, was die Stadt mit mir macht, welche Lüste sie auslöst und ob es ein Angenommensein gibt.



Die Eindrücke sind nachhaltig und erstaunlich resistent gegenüber dem Kackwetter zuhause. So als wäre dies hier nur eine Art Zeitblase oder ein Hologramm, ein lästiges zwar, aber einfach nicht wahr. Die Sonne über Lissabon war uns mehr als hold und heute früh ist mir wieder eingefallen, wie anders das Licht in den verschiedenen Gegenden unseres Planeten ist.



Was war heute für dich das Schönste, befragten wir uns allabendlich. Dass die Stadt mich angenommen hat, war mein Schönstes. Mich beschützt und genährt hat und mir Ein- und Ausblicke verschafft hat, die hoffentlich nicht so schnell verblassen. Architektonische und geologische Begebenheiten, Farben und Formen, letztlich Zeit, die sich an allem zu schaffen macht, Altes verfallen und Junges entstehen lässt. Dies ist nicht nur eine Kulisse, in der wir uns bewegen – ich habe das starke Gefühl, dass dies ein Zuhause sein könnte.