Freitag, 19. November 2021
So geht die Zeit dahin -- gestern wusste ich beim besten Willen nicht, ob Mittwoch oder Donnerstag ist. Der Blick in das Kalenderbüchlein brachte keine Erhellung, da stand nichts, was diesen Tag von den vorhergehenden unterscheiden könnte.

Obwohl es grau ist draußen, bin ich voller Farben, gestalte Vier-Reihen-Muster fürs Weben, wühle in den Wollvorräten herum und stelle immer neue Kombinationen zusammen. Im Wald entzückt mich das Hellgrau der zarten, langstengeligen Pilze, die der Bildhauer auf ein gelbgrünes Ahornblatt legt. Atemberaubend die graugrünen Stämme der Buchen, hinter denen seltenes Lichtblau scheint oder, wieder am Boden eine orangegetönte Laubdecke, auf die spirrelige, noch grüne Eschenblätter geweht werden.

Die Webarbeit regt meine Sinne auf angenehme Weise an. Die Muster, die sich drillend durch eine Anzahl quadratischer Brettchen, durch die vier Fäden geführt werden, ergeben, müssen dermaßen stark abstrahiert werden, dass aus Rippen Gräten oder Äste werden, aus Linien Schichten, und wieder andere Anmutungen des gleichen Musters mit anderen Farbzusammenstellungen. Manchmal kann ich darüber nachts nicht schlafen, schalte das Licht wieder ein, skizziere kurz eine Idee, Licht gelöscht, neue Muster erscheinen vor dem inneren Auge und so geht es über Stunden.

Es ist alles besser und tausendmal schöner als an die Situation zu denken, in die wir global seit vielen Monaten immer tiefer und tiefer hinein--, was ist das Wort dafür, -gleiten, streben, manövriert werden? Im bunten Wald gedenken wir der Ahnen und erbitten Klärung, Führung und Durchhaltevermögen, während der rauchende Beifuß eine weitere Farbschattierung durch den Raum schickt, wir hören Stimmen und suchen herumblickend die dazugehörenden Menschen, bis wir erkennen, dass die feuchten Bäume selbst das Raunen verursachen, deren hohe Stämme sich im leichten Wind reiben.




Sonntag, 26. Oktober 2014
Aushalten. Wir haben keine Lösung, Mama graut vor dem dunklen Winter und möchte nicht mehr da sein. Es gibt nichts, was ich ihr sagen könnte, ich habe mein Leben lang versucht, Sachen zu sagen, die ihr helfen könnten. Aushalten, dass es nichts zu tun gibt. Statt dessen das schwer gewordene Leben mit Hilfsmitteln ausstatten.

Am Donnerstag waren wir im Kaufhaus und haben einen wunderbaren Duffle-Coat gekauft. Sündhaft teuer. Sie sieht darin aus wie ein Mädchen. Später gehen wir zu Maria in den Dom, ein Gruppe murmelnder Menschen betet sich durch den Rosenkranz. "Erklär' Maria, dass du doch noch nicht kommst, sondern erst den neuen Mantel auftragen musst." Vier Jahre ist der alte Mantel in Gebrauch.

Ich träume, dass ich vier Jahre zurück reise, und ein Wissen mitbringe, dass die anderen noch nicht haben können. Die Lieblingschefin wohnt über mir und meckert über die falsch zugeschnittenen Gardinen, ich finde sie undankbar und nervig. Ich esse mit dem Priester eine aufwendig gebackene bunte Torte wegen meiner Patenschaft und der Kollege M. kommt mit dem Motorrad. Vor vier Jahren um diese Zeit habe ich eine Familienaufstellung gemacht und ein paar Wochen später ist Papa gestorben. Ich bin wirr im Kopf.

Wenn wir, der Bildhauer und ich, des Nachts gleichzeitig aufwachen, erzählen wir uns unsere Träume. Überhaupt erzählen wir viel, ich erbat mir Nachhilfe in Chemie und bestürzte ihn mit Fragen, die er nicht beantworten kann. Es versuchen immer sieben Neutronen den Kern zu umfliegen, darüber bin ich sehr froh, sieben, aber sie fliegen ja nicht wirklich, das ist nur ein Denkmodell, und ich frage mich, wie man auf sowas kommt, wenn man's nicht sehen kann. Unsere gemeinsame Welt nimmt Gestalt an, ich gebe was und er anderes, so werden wir beide reich.

Unter all dem ist Traurigkeit. Ich wüsste, wie man sich aufs Sterben vorbereitet, sich zentriert, gestern aber brüllte Mama mich an, der liebe Gott könne ihr auch nicht helfen. Deshalb sage ich heute am Telefon nicht viel. Ich weiß nicht was.

Ein grünes Rad kann trösten. Ein bisschen.




Montag, 13. Oktober 2014
Wir haben beide unsere Geschichten. Ähnliche. Über deine weinen wir noch, über meine habe ich selbst oft genug geweint. Kriege, die wir in uns austragen müssen, als hätten wir keine Wahl. Aber dann gehen wir am Waldrand entlang, an Marksteinen, deren Zahlen uns nichts bedeuten, suchen nach Zweigen und Ausblicken. Jemand hat hellblaue Plastikstühle stehenlassen, wir setzen uns eine Weile und sehen über wellige Felder, dort hinten schwirrt die Luft vor Sonne. Du schneidest Dornen vom Weißdorn, rötlich, lang, spitz, ich sammele sie erst in meiner Hand, bis du mir eine Tüte öffnest, in die ich sie vorsichtig hinein lasse. Wir werden ruhiger, während das zuvor Gesagte von uns fortschwebt. In einem nächsten Leben vielleicht eine Weile Vogel sein, wie jener, der über uns auf dem Wind liegt ohne Flügelschlag.