Mittwoch, 26. November 2014
Seltsame Tage. Der Versuch, die Tatsachen im Sinne aller gesammelten Weisheiten einzuordnen, der Sichtweisen, denen ich mich zugehörig fühle und die sich als wahr herausgestellt haben. Mehr Einpunktigkeit. Nicht schwätzen, nicht zuviel mit Dudi kommunizieren und ihre Sorgen und Ängste als die meinen übernehmen. Am Ende des Jahres werde ich noch mit angenehmen neuen Aufträgen überrascht und ich fühle mich mehr als reichlich belohnt. Für was? Für meine Mühen? Der Mutter der Leserin geht es anders als meiner. Jene hatte schon den Priester bestellt, hofft, dass der liebe Gott sie holt und ist am Morgen böse, wenn er sie wieder hat warten lassen. All das Katholische, auch in ihrer Familie. Glauben hilft nicht weit – mir jedenfalls nicht, ich muss wissen. Und das tu ich doch! Die Busenfreundin empfielt, sich nicht allzusehr mit den sich am Lebensende Befindenden zu beschäftigen, ich solle doch lieber mit der kleinen Patentochter spielen, die sei noch am Anfang. Sie hat wohl recht, ein bisschen mehr Euphorie darüber, überhaupt am Leben zu sein, einen Körper zu besitzen, denn in diesem Weltall ist das eher eine Seltenheit.




Mittwoch, 19. November 2014
Jedenfalls habe ich einen tollen Freund. Wenn ich ihn ansehe, finde ich, dass er von außen überhaupt nicht aussieht wie er innen ist, also in der Seele. Das ist sein größtes Geheimnis. Von außen wirkt er ernst, seriös und älter – hatte ich ihn bei der ersten Begegnung nicht sogar gesiezt? Was machen Sie denn mit dieser Kugel? Wahrsagen? fragte ich in etwa. Die Kugel sei als Brennglas zu nutzen, hier, der Tisch ist bereits angekokelt, da muss der Hut drauf, wenn die Sonne scheint, damit das ganze Gelände nicht abbrennt. Ich siezte noch ein paar Abschnitte weiter, beeindruckt ob seiner Bildhauerei, während er schon beim du war. Von innen, in der Seele jedenfalls, ist er der albernste, lustigste und kindlichste Mensch, den ich kenne (außer mir). Wenn ich ihn ansehe, sehe ich den jungen Mann mit diesem trotzigen Zug um Mund und Kinn, oft fasse ich beides zwischen Daumen und Zeigefinger und zupfe daran. Wenn er dann lacht, noch mehr mit den Augen, verfliegt alles Eigensinnige sofort.
So ein Gesicht hat er jedenfalls.




Mittwoch, 12. November 2014

Ich weiß schon, warum der Bildhauer und ich die Gesteine so schön finden. Da ist das Elend schon längst vorbei, alles hinüber und nur noch Abbild.




Viertel vor zehn abends. Dudi kann Mama nicht erreichen, sie hat diese Woche Telefondienst. Wir lassen es noch weitere Male klingeln, vielleicht ist sie ja im Keller und hängt Wäsche auf am Montag. Aber sie geht nicht ran. Ist nun der Fall eingetreten, den Nachbarn anzurufen? Anscheinend. Er ruft zurück, er könne zwar ins Haus, aber nicht in die Wohnung, Lichter seien an, die Zwischentür aber abgeschlossen, er habe mehrmals geklingelt und gerufen und nichts rührt sich. Ist nun der Fall eingetreten, die Tür einzutreten? Anscheinend. Der Nachbar weist die Feuerwehr ein, die treten einmal kurz zu und stehen wenige Sekunden später in Mamas Schlafzimmer. Die wundert sich, wieso so viele fremde Männer in ihrem Zimmer sind, ist erst aufgewacht vom Lärm an der Tür. Hoher Blutdruck und Zucker, stellen die Notmänner fest, ich bin mittlerweile schon im Taxi und fahre Richtung Heimat, kostet 144 Euro. Spreche mit dem ausführenden Mann, die kaputte Tür würden sie selbstverständlich bezahlen, er sei der Ansicht, Mama ins Krankenhaus zu bringen und durchchecken zu lassen, sie würde seltsam lallen und nicht ganz bei sich sein. Das kenne ich eigentlich nicht, und am Sonntag hatte sie noch Lauf gefegt vorm Haus, damit die Fußgänger nicht stolpern.

Bin erstmal froh, dass sie noch lebt und weise den greisen Taxifahrer an, direkt ins Klinikum zu fahren. Ich weiß nicht, wo das genau ist, irgendwo JWD, die Beschilderung ist mies und ich weine ein bisschen, gut dass wir den Stau in Bad Eilsen umfahren konnten, Nachts um 12 ein Stau, wo gibt es das schon. Geld aus dem Automaten ziehen, wie geht das nochmal? Meine Beine knicken beinah um, und der Taxifahrer wünscht mir alles erdenklich Gute. Ich hätte mit ihm einen Preis machen sollen, vielleicht so 100 Euro oder 90, jetzt isses aber auch wurst. Wo ist die Notfallaufnahme, hier um die Ecke, welche Ecke, na dort, ich weiß nicht, was sie meinen, und werde geführt, und dort auf die Klingel drücken, welche Klingel, ich sehe nichts, können Sie bitte für mich drücken?

Endlich an Mamas Bett. Eher Pritsche. Sie döst sehr seltsam. Ihr Lippen sehen so vertrocknet aus, als hätte sie gerade eine Wüste durchquert, ohne Wasser. Ich tränke sie erstmal, hat sie vergessen, ein guter Trick, um das Pinkeln zu vermeiden, das ihr Mühe bereitet. Sie ist ein wenig sauer und weiß nicht, warum sie hier ist. Die Ärztin wird bald kommen und sie erstmal durchchecken.

Und so weiter. Es ist traurig, verdammt. Ihre Urinprobe geht verloren und sie soll nochmal. Das dauert alles ewig. Auch der Bericht der Notfallärztin an die Hausärztin, ein paar Zeilen und ein paar Klicks und Kreuzchen im Formular brauchen eineinhalb Stunden. Sie stellt Mama Fragen, welcher Wochentag, welcher Monat, welches Jahr. Geburtsdatum? Sie weiß es nicht. Außerdem ist die Ärztin fremdländisch und hat einen Akzent, den Mama nicht versteht, ich wiederhole die Fragen, aber sie guckt mich bloß an und schüttelt leicht den Kopf. Wie neulich beim Optiker, Mama, lies mal die Buchstaben vor, ich sehe nichts, da oben ist eine Lampe. Ich finde die Typo auch kacke, Helvetica dreifach extended und das P sieht aus wie eine Rassel. Kein Wunder, dass die Brillen verkaufen.

Mama stellt mir seltsame Fragen, was ist das da, und ich weiß nicht genau, was sie meint, da oben die Uhr? Oder die Gitter für die Luftzufuhr? Die Laptops? Ich lasse sie schlafen, sie schaut mir in die Augen und ratzt einfach weg dabei, die Lider einen spaltbreit geöffnet. Ich glotze auf den Monitor, ihr Herz schlägt gleichmäßig und die anderen Kurven sehen auch beruhigend aus, trotzdem fürchte ich jeden Moment die Null-Linie. Sie holen sie nochmal zum CT, gottseidank kein Schlaganfall, und sonst eigentlich auch nichts Richtiges. Blutarmut. Irgendwo eine kleine Infektion. Das Hirn schrumpft, ganz normal in dem Alter. Eine leichte Demenz.

Ich will das nicht. Demenz.

Erst um halb sieben sind wir wieder zuhause, ich stecke Mama ins Bett und schlafe selbst bis neun. Ich muss doch zur Hausärztin, den Bericht vorbeibringen. Wie lange arbeitet die überhaupt? Ich sitze dann bei ihr vorm Schreibtisch, was wollen Sie jetzt von mir, fragt sie, und dann erzählt mir gleich was von Teilentmündigung und Pflegestufen. Blöde Kuh.

Mama und ich verbringen einen guten Tag, ich flöße ihr Tees ein, Vitamin C und Kräuterblut, kaufe Backfisch und Lebkuchen-Kuchen vom guten Bäcker. Sie hat einen schönen Appetit und will noch eine Birne geschält bekommen und Walnüsse geknackt. Ich dusche sie noch und öle sie ein und fahre etwas beruhigt nach Hause. Schlafe elf Stunden.

Jetzt ist Dudi bei ihr, sie muss ja immer aus der Ferne anreisen. Morgen kommt die Hausärztin und wir besprechen gemeinsam die Lage. Ich weiß auch nicht. Pflegedienst erstmal? Kommt mir alles so falsch vor, kleine Mama. Sie will das auch nicht. Es tut mir leid, dass ihr so viel Sorge um mich habt, sagt sie zu mir.




Montag, 10. November 2014
Als wären die Tiere hier gerade eben durchgelatscht. Die Fläche sieht aus wie frische Matsche und die Spuren sind mit Regenwasser gefüllt. Dabei ist alles versteinert und Millionen Jahre alt. Der Bückeberg sei einst eine Lagune gewesen, berichten uns die Wegetafeln, und die Dinosaurier seien vorsichtig über das Gelände getrottet, mit kleinen Schritten, ein junges Tier neben einem Erwachsenen, von Nord nach Süd und entgegengesetzt, eine dritte Fährte dazu im schrägen Winkel. Beim Abbau des berühmten Obernkirchener Sandsteins, der seit über tausend Jahren gebrochen und in vielen bekannten Gebäuden weltweit (z. B. Kölner Dom, Weißes Haus) verbaut wurde, ist 2008 diese Sedimentschicht aufgedeckt worden und wir sehen auf die möglicherweise größte zusammenhängende Ansammlung von Saurier-Trittsiegeln.






Südlich schließt sich der Bruch an, in dem aktuell gearbeitet wird und vorher trotteten wir in seit Jahrzehnten stillen Seitenspalten herum. Auch hier hatte der Bildhauer während seiner Studienzeit gecampt und gearbeitet. Wir folgen einem Pfad mit neonfarbenen Zeichen, die ins Gehölz gesprüht wurden, ganz frisch, offenbar von Mountainbikern befahren, oben auf einem Steinplateu endend, auf dem Abraumhügelchen zu noch mehr kunstvollem Radeln einladend. An Unterständen vorbei, vielleicht für die Arbeiter, die hier den Stein für das zukünftige Germania abzubauen hatten. Verwildert, rauh und unheimlich bietet sich uns der offene Berg. – Und wieder tun wir einen Blick in unsere eigenen Abgründe.




Montag, 3. November 2014
Stellvertretend suchen wir Steinbrüche und Tonkuhlen auf. Die Formationen sind beeindruckend und gehen tief, nicht nur geologisch. Der Bildhauer hatte während seines Studiums etwas in Stein gemeißelt, irgendwo im Weserbergland. Um dort hinzugelangen, nach seinen 25 Jahren, fahren wir fast meine komplette Lieblings-Motorradstrecke (mit dem Auto), über diverse Berghöhen und Pässe, zweimal hin- und zurück über die Weser, nur so, wir weilen an verschiedenen Stellen, die ich ihm unbedingt zeigen muss, um am Ende endlich seitwärts in einem schattigen Tal im kalt-rotbraunen Bruch anzukommen, der seit langem stillgelegt ist. Erst finden wir nicht das Gesuchte und laufen durch taubenetztes Gras und zwischen moosüberwachsenen Quadern herum und ich fotografiere die erodierten Wirtschaftsgebäude des Geländes. Dann dort hinten, früher musste die Stelle erst mühsam erklettert werden, jetzt scheint die Tiefe mit Material ausgefüllt und das Zeichen fast auf Augenhöhe, nur ein paar Felsen weiter. Wieder so ein Zeitsprung. Ich weiß, wie der Bildhauer die gealterte Szenerie empfindet. Als ob aber sein Alter bei den Steinen eine große Rolle spielte.





An einem anderen Tag betreten wir eine Tonkuhle nahe der Stadt, dort hatten die Studenten das grauschwarze Sediment geholt, um es zu Skulpturen zu formen. Der Ton fühlt sich rein und glatt an, man kann die weichen Schichten voneinander lösen, die manchmal durchsetzt sind von Ammoniten, Belemniten oder deren Negativformen. Die Grube geht tief und bildet einen grünen Teich. Am östlichen Teil, nahe der Einfahrt, wird roter zerschredderter Backstein zurückgeführt, wir stellen uns vor, dass einst die Senke wieder damit gefüllt sein wird.

Verwunschene Orte, die Bilder gehen Tage nicht aus dem Sinn. Als hätte ich im aufrissenen Erdreich etwas entdeckt, das nicht für mich bestimmt ist; so heimlich.




Sonntag, 26. Oktober 2014
Aushalten. Wir haben keine Lösung, Mama graut vor dem dunklen Winter und möchte nicht mehr da sein. Es gibt nichts, was ich ihr sagen könnte, ich habe mein Leben lang versucht, Sachen zu sagen, die ihr helfen könnten. Aushalten, dass es nichts zu tun gibt. Statt dessen das schwer gewordene Leben mit Hilfsmitteln ausstatten.

Am Donnerstag waren wir im Kaufhaus und haben einen wunderbaren Duffle-Coat gekauft. Sündhaft teuer. Sie sieht darin aus wie ein Mädchen. Später gehen wir zu Maria in den Dom, ein Gruppe murmelnder Menschen betet sich durch den Rosenkranz. "Erklär' Maria, dass du doch noch nicht kommst, sondern erst den neuen Mantel auftragen musst." Vier Jahre ist der alte Mantel in Gebrauch.

Ich träume, dass ich vier Jahre zurück reise, und ein Wissen mitbringe, dass die anderen noch nicht haben können. Die Lieblingschefin wohnt über mir und meckert über die falsch zugeschnittenen Gardinen, ich finde sie undankbar und nervig. Ich esse mit dem Priester eine aufwendig gebackene bunte Torte wegen meiner Patenschaft und der Kollege M. kommt mit dem Motorrad. Vor vier Jahren um diese Zeit habe ich eine Familienaufstellung gemacht und ein paar Wochen später ist Papa gestorben. Ich bin wirr im Kopf.

Wenn wir, der Bildhauer und ich, des Nachts gleichzeitig aufwachen, erzählen wir uns unsere Träume. Überhaupt erzählen wir viel, ich erbat mir Nachhilfe in Chemie und bestürzte ihn mit Fragen, die er nicht beantworten kann. Es versuchen immer sieben Neutronen den Kern zu umfliegen, darüber bin ich sehr froh, sieben, aber sie fliegen ja nicht wirklich, das ist nur ein Denkmodell, und ich frage mich, wie man auf sowas kommt, wenn man's nicht sehen kann. Unsere gemeinsame Welt nimmt Gestalt an, ich gebe was und er anderes, so werden wir beide reich.

Unter all dem ist Traurigkeit. Ich wüsste, wie man sich aufs Sterben vorbereitet, sich zentriert, gestern aber brüllte Mama mich an, der liebe Gott könne ihr auch nicht helfen. Deshalb sage ich heute am Telefon nicht viel. Ich weiß nicht was.

Ein grünes Rad kann trösten. Ein bisschen.




Montag, 13. Oktober 2014
Wir haben beide unsere Geschichten. Ähnliche. Über deine weinen wir noch, über meine habe ich selbst oft genug geweint. Kriege, die wir in uns austragen müssen, als hätten wir keine Wahl. Aber dann gehen wir am Waldrand entlang, an Marksteinen, deren Zahlen uns nichts bedeuten, suchen nach Zweigen und Ausblicken. Jemand hat hellblaue Plastikstühle stehenlassen, wir setzen uns eine Weile und sehen über wellige Felder, dort hinten schwirrt die Luft vor Sonne. Du schneidest Dornen vom Weißdorn, rötlich, lang, spitz, ich sammele sie erst in meiner Hand, bis du mir eine Tüte öffnest, in die ich sie vorsichtig hinein lasse. Wir werden ruhiger, während das zuvor Gesagte von uns fortschwebt. In einem nächsten Leben vielleicht eine Weile Vogel sein, wie jener, der über uns auf dem Wind liegt ohne Flügelschlag.




Donnerstag, 9. Oktober 2014
Mama war in der Badewanne ausgerutscht und böse aufs Steißbein gefallen. Erst nach einer Stunde hatte sie es geschafft, sich hochzustemmen und irgendwie aus der Wanne zu steigen. Meine Schwester Dudi hatte ihr daraufhin verboten allein zu baden. Alles geht fort, das sich bewegen können, die Esslust, der ganze Körper. Als ich sie letzte Woche besuche, biete ich an, sie zu baden.

Sie hat sich ausgezogen und ich helfe ihr in das warme Bad. Ihr klein gewordener Körper mit der hellen Haut sitzt jetzt im niedrigen Wasser, mehr Nass will sie nicht. Ich stütze mich mit hochgekrempelten Ärmeln auf den Rand und beuge mich über sie. Komm, ich schrubbe dir den Rücken, sag ich, seife den Waschlappen ein und reibe sie damit ab, nicht nur den Rücken lässt sie mich waschen, sondern auch Arme, Beine, Füße, Hände, Schultern, Brüste, Bauch und Po. Das ist das erste Mal, dass ich meine Mutter wasche, und mir kommt es vor, als wäre es noch nicht lange her, dass sie mich ebenso gewaschen hat.

In dem Film "Samsara" wird ein junger tibetischer Mönch zu einem Weisen geschickt, um Erkenntnis über körperliches Begehren zu erlangen, das sich seiner ermächtigt hat. Anhand von Zeichnungen bedeutet der Schweigende ihm die Vergänglichkeit des Körpers und seiner Lust. Sie zeigen Paare beim Geschlechtsakt mit ineinander verschränkten Körperteilen, und die Besonderheit der Illustrationen besteht darin, dass wenn man sie ins Gegenlicht hält, die rückseitigen Abbildungen durchscheinen, alte, faltige Körper mit grinsenden Todenschädeln, hängenden Brüsten, fast schon verwest. Der junge Mönch soll erkennen, welchen Weg er einschlagen wird, den der Entsagung oder des weltlichen Lebens.

Mama fragt, beinahe kokett, ob sie schlimm aussähe, und ich murmele, dass ich am See schon Schlimmeres gesehen hätte, ich kann ja nicht sagen, dass es nicht mehr drauf ankäme bei ihr, obwohl ich das denke. Ich sehe sie an, wie sie sich mir bietet, ich betrachte ihre großen Brüste, den runden Bauch und ihre Scham, sie schämt sich aber nicht, und so tu ich's auch nicht und denke an die Zeichnungen des Filmes – eben noch jung und das Fleisch fest, und später dann... es rührt mich, ich kann's nicht anders sagen. Es ist, als hätte ich nun die Lektion der Vergänglichkeit zu lernen.

Mittlerweile liegt sie, ich habe erst das eine dann das andere Bein aus dem Wasser gehoben und die Füße und Zehen massiert, es ist ihr wohlig zumute und mir ist nicht mehr so bang. Dann möchte sie noch ein paar Minuten liegen bleiben bis sie mich ruft.

Als sie aufstehen will, geht es nicht. Ich mache Vorschläge, vielleicht zuerst auf die Knie und dann hoch, aber das schmerzende Steißbein macht es ihr unmöglich sich zu drehen, sie versucht es so rum und andersrum, ich ziehe an den Händen, und sie schreit auf. Es geht wirklich nicht, es ist gut, dass sie nicht mehr allein badet. Ich ziehe kurzerhand Socken und Hose aus und steige zu ihr in die Wanne, greife von hinten unter ihre Achseln und stemme sie hoch, ich kenne ja all die Tricks nicht, die Pfleger so drauf haben, helfe ihr weiter hoch bis die Füße sie halten und sie aus der Wanne steigen kann.

Mit dem bereitgelegten Badetuch umwickele ich sie und rubbele sie trocken. Dann lasse ich sie stehen, hole die Flasche Olivenöl, nehme Hände voll und öle sie damit von Kopf bis Fuß ein, massiere Meridiane und Druckpunkte – sie muss sich festhalten, damit sie nicht fällt, ich bin etwas rauh. Anschließend schneide ich ihre Fußnägel und stecke sie nochmal ins Bett. Sie kann noch ein bisschen dösen, bis ich vom Markt zurück bin. Auf dem Weg habe ich wieder Sterbebilder. Was, wenn ich sie zum letzten Mal gewaschen habe und sie in der Zwischenzeit wohlig einschläft.

Huhu, rufe ich durch den Flur, als ich zurück bin, huhu ruft sie aus dem Zimmer und ich bin froh darüber. Ich decke den Tisch, es gibt Bratfisch mit Kartoffelsalat, den liebt sie so.




Mittwoch, 8. Oktober 2014

Auf der Fensterbank wird es Herbst. Im Blumenkasten gibt es eine zweite Generation Kleeblüten, noch gern besucht von den letzten Bienen des Jahres. In weitere Töpfe hatte ich Samenbomben gesetzt, aus denen es freundlich und etwas unordentlich gesprießt hatte und nun langsam vertrocknet. Ab und zu hört man eine Walnuss von Nachbars Baum fallen, der schon deutlich entlaubt sich zeigt. Die Mittagszeit verbringen der Bildhauer und ich in einem Steingeschäft, ich suche einen schönen Crysopras, der gegen die leidigen Hitzewellen helfen soll, und er irgendwas. Nachdem wir die tausend Sorten Steine, von denen es jeweils wieder tausende gibt, ausgiebig betrachtet haben, nimmt er drei Bergkristalle und ich neben dem grünen Stein noch ein Stück Mammut-Elfenbein. Mammuts sind seit diesem Sommer meine Lieblingstiere, der Bildhauer hatte die verschiedendsten Bücher über sie neben dem Bett gestapelt und ich träumte davon, in der Steinzeit zu leben. Mit ihm.

Wir machen seltsame Dinge – gehen mit Pfeil und Bogen raus und probieren sie aus. Für ihn sind beide, Bogen und Pfeil, schön geformte Skulpturen, was aber nicht darüber hinwegtäuscht, dass sie funktionstüchtige Waffen sind, die Pfeile besitzen Stahlspitzen und eine erstaunliche Kraft. Während wir durch die Natur wandern, ich mit acht federbesetzten tödlichen Pfeilen im Köcher auf dem Rücken und in der Hand das warme, geölte Holz des Bogens mit der straffen Sehne, die an meinem Handgelenk reibt, fühle ich mich nah dran, dort hinten liegt ein Haufen Stroh, sieht er nicht aus wie ein bereits erlegtes Mammut?

An einem anderen Tag in der Kiesgrube schießen wir mit Zwillen rundliche Steine auf Verkehrsschilder, imaginäre Ziele und liegengebliebene Flaschen, die mit diesem unvergleichlichen Geräusch zerspringen. Auch die Zwillen hat der Bildhauer hergestellt und verkauft sie in einem Laden für Vintage-Bedarf. In beiden Disziplinen, dem Bogenschießen und dem Gebrauch der Zwille, erweise ich mich als geschickt, und wieder fühle ich Dieses, als ich mit der Zwille in der hinteren Hosentasche neben dem Bildhauer hergehe, wir wie zwei Burschen, die jeder Gefahr trotzen. Ab und zu legen wir uns im Gehen gegenseitig den Arm auf die Schultern. Scheiß auf die Geschlechterrollen! Von Beginn an waren diese angenehm verwischt und immer noch spielen wir damit. Ich könnte darüber schreiben, wie gut wir uns miteinander fühlen, aber aus irgendeinem Grund empfinde ich es als verfrüht, noch herrscht Verliebtheit und gegenseitige Bewunderung, möglicherweise ausgelöst durch verwirbelnde Hormone, die angeblich nach einer gewissen Zeitspanne verebben – wir werden sehen, was die Zeit aus uns macht.

Mit dem Herbst und den Steinen und Holzstücken, die sich in meinem Zuhause ansammeln, ändert sich die Stimmung. Ich weiß, dass der Bildhauer meinen geistigen Ideen ebenso nah ist wie ich seinen künstlerischen, manchmal, wenn ich darüber rede, reagiert er äußerst gerührt. Es würden Puzzleteile endlich zusammenfinden, behauptet er. Männliche und weibliche. Diese und jene. Obere und untere. Für mich sind die tantrischen Traditionen Indiens schon lange Heimat, für ihn gewinnen sie langsam an Bedeutung.

Ich habe eine Art Gelübde gemacht, ein stilles, mit Sankalpa Shakti. Es betrifft einen Bereich, der mich seit Jahrzehnten nicht losgelassen hat. Jetzt möchte ich ihn willentlich loslassen. Ich weiß, dass das gut so ist.




Dienstag, 30. September 2014
Neu anfangen. Ich möchte alles wegwerfen, was dem jetzigen Moment nicht dienlich ist. Dieses hier, eine vergessene Kiste mit Briefen vergangener Jahrzehnte. Erschreckend. Aufstörend. Zeilen Verflossener. Liebesschwüre. Euphorien. Viele Umschläge von St., deren teils bemalte Papierbögen ich erst noch herausziehe und lese, später aber unbeachtet auf den Stapel zu den anderen lege. Meine vertrauteste Seelenfreunding zu Studienzeiten. Erörterungen, Befindlichkeiten. Alles viel zu viel. Auch die Fahrerin schrieb regelmäßig nachdem wir uns wiedergefunden hatten, ihre Stimmungen sind schwankend, bei ihr hat ebenso fast alles mit Liebe zu tun, zu den Partnern, den Tieren, und mit ihrer größten, ihrem Halbbruder G.. Als er mit dem Krad starb, war nichts mehr wie vorher. Auch für mich nicht.

Stunde um Stunde sitze ich auf dem Boden vor dem Karton. Mir tut der Rücken weh.

Zeilen der Bestenfreundin, meistens Beiläufiges, das mit dem Zusammenwohnen zu tun hatte, auch recht Einsilbiges aus Urlauben. Die ersten Liebesbriefe von T., große Gefühle, zehn Jahre waren wir zusammen, wunderbar. Berührend die festlichen Grußkarten meiner Eltern, beide seit langem nicht mehr ans Handschriftliche gewöhnt. Zarte Hoffnungen, mit krakeligen Lettern auf blauem Briefpapier Vorgetragenes von J., aber ich liebte T., der mein Herz besaß für so lange Zeit. Papiere längst vergessener Bekannter, E., die ich erst für eine andere E. hielt und mich wunderte, dass wir so intensiv geschrieben hatten, oder X., dessen Name mir jetzt schon wieder entfallen ist. Karten von A., der ich morgens beim Zeitung Austragen immer eine Ausgabe unter dem Kotflügel ihres Autos versteckte. Jede Menge Geburtstagspost.

All das wirft ein Licht auf mich, ein bestimmtes: Ich wurde gemocht und sogar geliebt. Man vertraute mir Geheimes an. Aber ich selbst? Mochte ich mich? Ich habe Fotos gefunden von mir, schlank, fast hager und dunkel gebräunt in Griechenland mit P.. Auf Reisen mit T., Momente in der WG, fröhliche Augenblicke mit meinen Patenkindern und den Kindern der Freundinnen. Hunderte von Bildern gesichtet und nur ein paar wenige behalten. Die auf denen ich mich mag, jetzt, denn es scheint... nein – ich erinnere mich, dass ich mich selbst nicht mochte. Ich stand nicht zu mir. Ich sah jungenhaft aus und hatte herbe Gesichtszüge, die ich nicht hübsch fand. Ich war mir selbst fremder als die andern. Das ist eine seltsame Einsicht.

An diesem Punkt kann jetzt alles zusammenfließen. Hier bin ich, eine Frau, die ich nicht mehr misstrauisch beäuge. Die weiß, was sie will. Immer schon wusste, oder etwa nicht? Den Roten Faden seit jeher fest in der Hand.

Lass mich neu beginnen. Lass mich lieben.
Immer weiter.