Donnerstag, 11. April 2019
Die Schulfreundin zitiert sich selbst, du machst mich nabeloh hätte sie ihrem Mann zugerufen, im Verlauf eines Problemgesprächs, nabeloh, ich höre auf, wieder so ein Wort aus alter Ferne, auch das kenne ich von meinem Vater, nabeloh machten wir ihn, verrückt. Nabeloh, schucken, meimeln, göbeln, beseibeln, Hacho – ich erinnere mich an viele Begriffe aus dem Rotwelsch, die auch in meiner Familie und meinem Freundeskreis benutzt wurden. Lustigkeit kommt auf, obschon nabelo bereits einen erhöhten Grad an Verücktgemachtsein beschreibt. Das Wörterbch, das die Schulfreundin besitzt, ist leider kein etymologisches, und so finde ich nabeloh als sehr geheimnisvoll, aus dunklen Tagen und mit nichts verwandt als dem hochgradigen Genervtsein meines Vaters.

Am Montag besuche ich, nachdem ich von der Schulfreundin komme, auch meinen noch trauernden Vetter J., ich muss feststellen, dass wir eigentlich nie zu zweit miteinander geredet haben, immer waren wir zu mehreren, sein Bruder M. war mit dabei, oder meine Mutter, schlimmstenfalls, als wir Kinder waren, wusste meine Großmutter, als zweite Frau unseres Großvaters, alle Familienverhältnisse zu verschleiern, denn mit M., dem Behinderten, wollte sie nichts zu tun haben, und auch U., unsere Kusine, hatte als uneheliches Kind der Stieftochter keine Schnitte bei der strengen Frau.

J. wohnt immer noch im großelterlichen, 150 Jahre alten Haus mitten in der Stadt. Dort ist es eng und das Wohnzimmer, als herrschaftliches Zimmer zur Straße gerichtet, was leider nach Norden, bedeutet, worein niemals die Sonne scheint, ist zudem mit langen Gardinen bedacht, die Möbel sind noch von damals und U. berichtet, dass sogar der Nippes der letzten Jahrzehnte unverändert an gleicher Stelle steht. J. hat Kuchen, den ich fast ganz allein esse und auch der Kaffee ist sehr lecker, das ist ja Tradition in unserer Familie. Tradition ist auch das aufbrausende Naturell, schon die Sendung einfachster Ausdrücke birgt Gefahr, als Reizwort bei J. anzukommen, worauf er sofort nabeloh wird und lauthals kontert, mit irgendwas. Wenn man es nicht persönlich nimmt, ist es wie bei einer Satiresendung, bei der man sich auf der richtigen, lachenden Seite wähnt, sobald man aber nicht aufpasst, bleibt einem das Lachen im Halse stecken, wegen der ganzen schlimmen Wahrheit, die drinsteckt.

Was wäre die schlimme Wahrheit bei J.? Ich kann es nur ahnen. Wir reden über Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, über Gott und die Welt. Er öffnet sich mir nur langsam, aber dass er es kann, macht mich froh. Er hat auf Ehe und Kinder verzichtet, die zu pflegende Mutter und der behinderte Bruder waren ja Familie genug, niemals hätte er beide im Stich gelassen, und die einzige mögliche Partnerin kam damit nicht klar und verließ ihn. Ebenso sehe ich einen älteren dicklichen Mann, der Ähnlichkeit mit meinem Vater hat, mit mir in seiner krumpeligen Küche sitzen, der schlau und belesen ist, kultiviert, mit einem großen, liebevollen Herzen, das mich zu Tränen rührt.




Sonntag, 7. April 2019
Gestern wiederum haben wir die Mutter der Busenfreundin zu Grabe getragen, sechsundachtzigjährig. Gibt es vielleicht eine Reihung, an deren Ende mein Mütterlein steht? In einem Traum sehe ich mich mit Frauen zusammensitzen, einige lebendig, andere tot, ich kenne nicht jede. Mir scheint, wir diskutierten darüber, wer als nächste dran sei. Mama weigert sich, ungehalten wie immer, wenn man aufs Thema Sterben kommt. In einem anderen Traum liegt eine weißhaarige Frau, die wie Jane Goodall aussieht, das ist die mit den Affen, auf einer Liege, sie hatte bereits die Stickarbeiten für die unteren Chakras angefertigt, nun würde sie bald mit dem sahasrara abschließen, das ihren Scheitel schmücken sollte. Ich beugte mich über sie, streichelte über ihr Haar und sagte, ich freue mich so für Sie.

Mit Gesang, Blumen und leierndem Pastor ging die Trauerfeier nur so an der Busenfreundin vorbei, wie sie später berichtet. Sie hat so ihre Art, die Busenfreundin. Vorher, im Elternhaus, bittet sie mich, durch Flur und Wohnzimmer zu saugen, unterm Flokati in der Sofaecke entdecke ich ein Mottennest, und überhaupt steht alles mit Kram zu, ein leises mein Gott, wie sieht’s denn hier aus entweicht mir mutlos. Die Kerzen müssen in ihren Ständern ausgetauscht werden, wovon eine gleich wieder umfällt, wenn das hier alles abfackeln würde, hätten wir ein Problem weniger, stänkert einer der beiden Brüder. Sie waren mir einst sehr lieb, besonders B., mit dem ich mal geknutscht habe, vor Jahrzehnten. Wir waren gestört worden, als unten am Haus ein Müllhaufen in Brand geriet und die Feuerwehr uns mit lautem Getöse ans Fenster zum Zugucken lockte. Wer weiß, was aus uns geworden wäre. Später gründete er eine andere Familie und jetzt macht sich eine Blutkrankheit über seinen Körper her, ich habe aber noch etwas Zeit, versichert er mir.

Neben den vielen Gesangsgefährten und -schülern der Mutter sind auch Freunde der Busenfreundin gekommen, die ich noch aus unseren WG-Zeiten kenne. D. begrüßt mich, kurz nachdem der Sarg ins Fach gesenkt wurde und knüpft gleich mit ihrer, seit unserem letzten Zusammentreffen vor 20 Jahren weitergeführten Lebensgeschichte an. Ihre story ist ein einziges Drama, OPs an der Wirbelsäule, Lähmungen, eine katastrophale Ehe und die Tochter mit diversen Suizidversuchen, jahrelang in der Psychatrie lebend. So wie sie berichtet, mit einem zur Seite gezogenen Lächeln, wirkt das sehr lustig, und als wir bei Kaffee und Butterkuchen im Gemeindesaal endlich zum Thema ungelebte Sexualität kommen, setzt sich auch H. dazu, der Busenfreundin allererster Freund und es wird noch heiterer.

Tatsächlich, diese Beerdigung war wie ein schneller Rausch, die musikalisch-künstlerisch getränkte Trauergemeinde bestand aussschließlich aus über 100 sehr besonderen Menschen, von denen jeder einzelne den Versuch, sich irgendmöglich in den Vordergrund zu spielen, nicht ungenutzt ließ. Es war auf eine andere Art liebevoll, intellektueller, und ja, lustiger.

In meiner kleinen Herzenskammer blieb ich allein. Und ruhig, mit einer ganz eigenen Trauer und Sehnsucht. Denn meine persönlichen Dramen liegen größtenteils hinter mir, und bald ist auch die letzte Stickarbeit, die das Kronenchakra darstellen wird, beendet. Ich freue mich so für Sie.




Mittwoch, 3. April 2019
Als ich die Mutter an ihrem Platz im Tagesraum aufsuche, erkennt sie mich nicht. Erst nach meinem mittlerweile üblichen hallo Mama, ich bin’s, Krabbe öffnet sich ihr Blick. Lass uns raus in den Garten, sag ich, das Wetter ist schön. Sie wirkt verwirrt, sie müsse doch bleiben, es sei Kindergeburtstag, jemand müsse doch für alle sorgen, nämlich sie. Ich schaffe es, sie aus dem Raum zu diskutieren, sie ist heute ausnehmend sprachgewandt, mit mehrgliedrigen Sätzen bedenkt sie das Gespräch, das sich allerdings weiter um den Kindergeburtstag dreht, die säßen da alle wie die Ölgötzen, man könne sie doch nicht allein lassen, sie hält wirklich alle Mitbewohner für Kinder. Und, weinerlich, jemand hätte sie barfuß aus dem Schlaf gerissen, und ich gehe auf jedes Wort ein und versuche zu entdramatisieren, aber sie ist argumentativ stark heute, die Syntax stimmt, denke ich, Syntax, und bin fast ein bisschen Stolz auf sie.

Dann schaffe ich die Wendung, nachdem ich sie von aller Verantwortung für wen auch immer, ebenso für Vergangenes und Zukünftiges freigesprochen habe, die Kinder können auch mal allein spielen, ja, ich wäre ja immer auf der Seite der Kinder, das würde sie nochmal überdenken, meine Güte, ist das anstrengend, die Wendung jedenfalls kommt, als ich auf ihren Geburtstag hinweise, am 15. April, und ich brächte dann Zitronenkuchen mit, und den äßen wir ganz allein! Sie lacht.

Darüber musste ich lachen, sagt sie, irgendwie erstaunt über sich selbst. Wir warten, bis die Wolke weg ist, und die Sonne warm auf uns scheinen kann. Das ist schön.




Dienstag, 2. April 2019

Aus meiner Foto-Serie Typografie zur Trauer




Unser Cousin M. („J., du musst noch schucken!“) war vorletzte Woche mit fast 70 gestorben. Sein Bruder J. war und ist immer noch unströstlich – ich habe schon lange niemanden so sehr weinen gesehen. Letzen Dienstag haben wir M. auf seinem letzten Weg begleitet, mit Blumen und noch mehr Tränen, auch meine liebe Base U. war gekommen und ihre Tochter S., die beide seit der Beerdigung unserer Tante vor vier Jahren die mir liebsten Verwandten wurden.

Wie schön es war, gemeinsam mit U. und S. unseren Vetter J. zu stützen! Meine Hand auf seiner Schulter, wärend er vor Weinen bebte, tröstete vielleicht mich am meisten, aber das Leben eines lieben Menschen und den Abschied von ihm, der sicherlich aus dem Himmel zuschaute, mit Trauer zu würdigen, empfand ich als mindestens voller Gnade.

Wir waren bereits eine halbe Stunde früher in der Kapelle, womöglich ein klassizistischer Bau mit gemaltem Mamor, saßen still und warteten. Man konnte den Raum erlauschen, oben eine Kuppel, die mit einem Schriftband zu den Mauern hin abschloss. Auf dem Band Bibelstellen, dass der Mensch zum Fleisch, also körperlich wird, und auch ein bisschen Erbsünde klang an. Natürlich. Dieses Schriftband nun bannte weitere typografische Kräfte – vorher nämlich sank mein Mut, als ich nach vorn zum Sarg ging. M. hatte einen großen, sehr bunten Kranz aus allen zur Verfügung stehenden Primeln anfertigen lassen, woran eine dieser Schleifen befestigt war, breit, seidig, mit schwarzer Borte. Ich las Mach´s gut mein Freund und schauderte. Genauso stand’s dort, ohne Punkt und Komma und dazu noch mit Deppenapostroph. Jeder pietätvolle Gedanke wich endgültig aus mir, als ich feststellte, dass diese kleine, freundlich und liebevoll gemeinte Zeile in Comic Sans gesetzt war!

So stand es um mich, lieber Leser (und ich muss mich wohl für diesen Text entschuldigen, der zudem noch mit Stilkritik betitelt ist). Während wir nun saßen und warteten, ging bestimmt mindestens die Hälfte meiner Trauerarbeit zu der imaginären Szene, in der der Bestatter oder einer seiner Lehrlinge solch eine Schleife erstellen, vielleicht wird das alles am Rechner gemacht, in Word, und dann auf die Schleife geplottet oder wie auch immer, jedenfalls hat jemand seine Arbeitszeit, einen Teil seiner Lebenszeit gegeben, um … hier versagen ihr die Worte und sie verschwindet schluchzend im off




Montag, 4. März 2019
Im Traum bin ich in Indien, auf der Kumbha Mela. Ich bin jünger und schlanker und einen Kopf größer als im realen Leben, und so kann ich die ungeheure Menschenmenge überblicken, deren Teil ich bin, ob ich Mann bin oder Frau, weiß ich nicht, wohl beides, ich trage ein orangefarbenes Beinkleid aus gewickelten Wollwebstreifen nach germanischer Sitte, eines meiner dunkelblauen Jungsunterhemden und mein langes Haar bildet einen Knoten, wie bei Shiva, dessem Haar der Ganges entspringt. Ein paar Schnüre liegen über den Schultern, mehr benötige ich nicht.

Ich bin ohne mein allzu direktes Einverständnis zum Swami geweiht worden, aber, denke ich, während ich still in der Sonne stehe, die gleichzeitig aus meinem Herzen zu kommen scheint, und meine Erscheinung genieße – ich wollte es ja ohnehin, aber später erst, sei es drum, der Zeitpunkt ist jetzt einerlei.

Ich stehe also still mit geradem Rücken über der Welt. Ich weiß nun endlich, es ist alles gut. Ich bin Swami und mit dem Ritual ist alles Karma gelöscht und es gibt nichts mehr zu tun für mich.

Ich bin frei.

Diese Freiheit spüre ich in jeder Faser meines Körpers und in allen Gedanken – die sich nun hier erübrigen, denn – ich bin frei.

Ein älterer Hindu verbeugt sich vor mir, dem jungen Swami, im Begriff meine Füße zu berühren, das kann ich nicht zulassen, denn Swami sein, bedeutet ja erstmal nicht viel. Ich muss lächeln, wie süß das Gefühl sein muss, verehrt zu werden, durchschaue aber sogleich jede Anwandlung von Eitelkeit und Hochmut.

Auch davon bin ich frei.
Denn ich bin frei von allem.




Freitag, 1. März 2019
Die Busenfreundin hatte aus familiären Gründen fotografisch über Martin Luther (ja, ja – sie ist eine Nachfahrin des Lutherbruders) gearbeitet und ein Dutzend Bilder in Loccum ausgestellt. Ich mag die Ausstellung und bis auf ihre Bemerkung, Kirchenglockengeläute mache sie high, gab es nichts, was ich zu benöseln hatte. Teil der Vorarbeit, auch Recherche genannt, bestand darin, Freunde und Bekannte über Luther berichten zu lassen. Ich war Teil eines Abendessens zu viert bei der Rhetorikerin, derweil die Busenfreundin uns, die Rhetorikerin, die Lieblingsdesignerin und mich, befragte.

So. Das als Einleitung.

Während die drei nun, bei Vor-, Haupt- und Nachspeise, zudem angeregt durch Sekt und Wein, allerlei Wissensgebiete streiften und Schlaues von sich gaben, blieb mir als echte und einzige Mystikerin das Wort im Halse stecken. Ich saß, mental vorformulierend, bestimmt zwei Stunden still da und fand keinen Einstieg ins lebhafte Gespräch. Ich hätte gern von Bursfelde erzählt und ich würde auch hier gerne einen Text über Bursfelde schreiben, der den europäischen Mystikern gewidmet ist, über die und deren Texte ich nun schon seit Monaten lese und studiere.

Ich habe, um es kurz zu machen, eine neue Heimat gefunden – spirituell. Hier an meinem Altar fließen nun Okzident und Orient zusammen! Es macht mir eine große intellektuelle Freude zu entdecken, dass jedes spirituelle Bemühen auf allein eine Erfahrung zielt, die in allen Kulturen gleich ist, im Christentum unio mystica genannt. Unterschieden wird sie bloß durch die sprachlichen und bildgebenden Eigenheiten des Landes und die beschränkten Fähigkeiten des Erlebenden, die alles überwältigende Einheitserfahrung darzulegen. Der Yoga hat eine zielführende Wissenschaft der Meditation entwickelt, während die europäischen Mystiker jeweils in ihrer sprachlichen Blase blieben. Theresa von Avilas Texten z. B. merkt man das Bemühen an, sich ins christliche Wortgefüge zu zwängen, um nicht der Ketzerei verdächtigt zu werden und Meister Eckhart wurde dann doch als Häretiker verurteilt, allerdings war er schon zu alt und starb, bevor das Urteil ausgeführt werden konnte. Einer der ersten Autoren, die in deutscher Sprache über die mystische Erfahrung schrieben, sonst war ja noch alles in Latein, war der Frankfurter, der über die Jahrhunderte unerkannt geblieben ist. Luther fuhr als junger Mann komplett auf dessen Theologia Deutsch ab.

Ich auch. Die vedantischen Schriften, die ich aus dem Yoga kenne, die bhagavad gita oder die Yoga Sutras, habe ich in englischer Sprache kennengelernt, in Indien durch die Vorträge meines Lehrers Swami VB und durch dessen Bücher oder die seines Lehrers, die es nur in englisch gab. Vom Sanskrit über das Englische in mein deutschsprachiges Hirn, da haben Wörter einen langen Weg hinter sich, klar, dass da einiges auf der Strecke bzw. unverstanden bleibt, bleiben muss. Die Theologia Deutsch und auch Jacob Böhmes Aurora hingegen werden direkt aus der unio mystica ins Deutsche vermittelt! Und wie!

Ich bin froh, den Umweg über Indien genommen zu haben, denn so kann ich die deutschen Schriften besser verstehen, einordnen und nutzen. Es wird mir auch klar, dass Luther, dem wohl die mystische Erfahrung verwehrt blieb, bei der Bibelübersetzung mit vielen Textstellen, auch des Neuen Testamentes, seine Schwierigkeiten haben musste. Dazu ist Yoganandas Buch Der Yoga Jesu äußerst erhellend, wo er erklärt, wie die Schlangensymbolik, die eigentlich das Aufsteigen der kundalini, meint, der Lebensenergie, ziemlich schräg missverstanden wird.

So. Und nicht zuletzt hat Luther den Mystiker Thomas Müntzer in die Enthauptung gemobbt und einige andere Zeitgenossen, die ihres Lebens nicht mehr froh wurden, als Häretiker denunziert. Wie gut, dass die Busenfreundin, bestätigt durch einen Genetiker, nur noch ungefähr ein Millionstel von Luther in ihren Genen hat. Dass ich an jenem Abend nicht sprechen konnte und wollte, war auch nur ein millionstel Teil der Spiegelung aus vergangenen Zeiten.




Donnerstag, 14. Februar 2019
Diesmal, es ist die dritte Veranstaltung der Reihe für Angehörige, waren deutlich mehr Menschen anwesend. Man hatte explizit die Familie der Demenzklasse geladen. 16 Geschichten im Raum. Alle ähnlich, nur unterschiedlich in den Demenzgradationen des Elternteils. Drei Schwestern waren dazugekommen, betreut vom Sohn bzw. Neffen, es wirkte noch wie eine halbwegs lustige Geschichte über den Mann, der mit drei Frauen eingezogen war. Der Runde eigen war ein hohes Mitteilungsbedürfnis, natürlich. Auf mich wirkten die Töchter, Söhne, Nichten und Neffen erwachsen, erwachsener als ich, die ich seit Tagen wieder mit Tränen kämpfe, wegen der schlichten und überwältigenden Einsicht, dass ich nicht mehr weiß, wie meine Mutter einmal war, und dass ich sie schrecklich vermisse, und unsere lebhaften Gespräche über Gott und die Welt, und tatsächlich auch Gott.

Einer der Männer, mit einem bedruckten T-Shirt, cool und abgeklärt, hinweisend auf eine Band, die für Demente spielt und alles wäre sehr fröhlich und würde sogar die Lethargischsten wieder aufwecken und nicht so ein Trauergesang, den er hier im Heim schon erlebt hätte, meine Güte, das sind meine schönsten Stunden mit Mama, wenn wir gemeinsam Frühlingslieder singen, er erklärte, wie er geschmeidig die Zügel des Dramas doch in der Hand hielte, man solle sich mit Geduld und Humor der dementen Person widmen undsoweiter, und in mir brodelte es, und ich dachte bloß, ich kann’s einfach nicht mehr hören. Dieses Sich-Zusammenreißen, das Zurückhalten von Trauer und Schmerz, das mach dieses so und jenes so, verdammt, das ist ja gerade das Schlimme, dass man die ganze Zeit nur noch auf eine Weise funktioniert, damit die Mutter keinen Schreck kriegt, weil ja hinter ihrem Rücken alles zerfällt, und nur sie soll nichts davon merken.

Ich blieb still, nickte oder lächelte nur hier und da zu den Geschichten, die teils mit diesem seltsamen Lächeln vorgetragen wurde und dahinter sitzt die Verzweiflung, hinter ihren Rücken.

Die Frau mit der Schwester, so nennen Dudi und ich sie, weil wir uns keine Namen merken können, es gibt auch noch die Frau mit der Mutter, zu der gerade Dudi eine nähere Bekanntschaft hegt, und dann noch die Frau mit dem Mann, das ist diese wunderbare Dame, auch im Beirat tätig, klar und stark, mit Meinung. Sie sitzt neben mir und sagt sanft zu mir, Sie sind heute Abend aber sehr still und schon laufen mir die Tränen aus den Augen, und dann bin ich die letzte des Gesprächskreis und haue unter noch mehr Tänen alle meine Sachen raus, wie Mama mir abhanden kommt und wie sehr ich sie vermisse, ihre Anteilnahme an meinen Geschichten und trotz des Weinens habe ich doch meine Stimme unter Kontrolle und kann alles sagen bis zur Neige –

Danach kommen gerade die drei Frauen, die mit dem Mann, der Schwester und der Mutter auf mich zu und trösten mich, das ist so süß wie Honig, die mit der Mutter weint nun auch wieder, und es werden Hände gehalten und Schultern berührt und es wird alles gut gesagt. Und es tröstet wirklich.




Dienstag, 22. Januar 2019
Als wir, die G. und ich, Bursfelde mit dem Bus erreichen, laufe ich mit einer gewissen Dringlichkeit den Weg über den Kirchhof, um möglichst schnell endlich anzukommen. Die Anreise ist etwas kompliziert und der Rucksack schwer und nervig, aber als Selbstversorgerinnen der Oase wollen wir mit angenehmen Nahrungsmitteln ausgestattet sein. Sogar die kleine Espressokanne habe ich mit.

Wie ich diesen Ort liebe. G. und ich träumen innerhalb weniger Tage von einem Schwan. Ich tauche mein Gesicht in sein herrliches weiches Gefieder, das wunderbar warm riecht, nach Schlaf. Ich kann nicht aufhören damit, bis der Schwan seinen Hals zu mir verdreht und vorsichtig aber bestimmt mit dem harten Schnabel, der mir Respekt einflößt, nach mir schnappt; er findet mich etwas aufdringlich, schließlich ist er ein wildes Tier. An einem Tag nach einer Wanderung, als wir über unsere Träume sprachen und die Kirche wieder ins Blickfeld kommt, denke ich, die Kirche ist der Schwan! Nichts erscheint mir wahrer.


Das zweiteilige Gebäude kommt mir liebreizend vor, und als würde ich es schon lange kennen. Aber es ist trutzig und recht einfach gestaltet, die steinernen Zierelemente sind Kleinode, die nicht einschüchtern, so ein Kapitell schafft man bestimmt in einigen Tagen, und wenn alle mithelfen, ist die Kirche in zehn Jahren fertig. Und nicht in 150.


Dudi hat gefragt, was ich denn da den ganzen Tag so mache. Ich versuche es mit mir auszuhalten. Ist mir in den letzten Wochen schwer gefallen, das mit mir sein. Ich mag nicht mehr den immer gleichen Angstphantasien (um das Mütterlein) nachhängen, kann diese aber nur schwer abstellen und lenke mich dauernd ab. Im Kloster will ich das nicht tun. G. und ich haben aufschlussreiche Gespräche, wir finden schnell einen gemeinsamen Rhythmus – unseren eigenen, denn wir nehmen nicht an den Seminaren teil, die das Kloster ganzjährig anbietet – aus Mahlzeit, Spaziergang, Meditation und Tages- bzw. Nachtruhe.

In der Nacht zum Donnerstag schneit es, erst plätschert Wasser in der Dachrinne, wonach ich lausche und als ich das Fenster öffne, geht ein Schneesturm über den Innenhof, jede Flocke beleuchtet von Licht, das regelmäßig an und wieder ausgeht. Morgens wollen wir schnell in die Natur, das Wesertal ist wundersam verschneit, als wären wir in einem fernen Land.




Dienstag, 8. Januar 2019
Von Nord kommt der Sturm und lässt Fenster und Kamin brummen. Jetzt soll eine Zeit des Rückzugs sein. Nächste Woche begebe ich mich wieder nach Bursfelde. Im letzten Jahr war ich dreimal dort einquartiert, einmal mit G., einmal mit dem Bildhauer und ein weiteres Mal mit beiden. Mit G., die in einer Sufi-Tradition meditiert, führe ich die kleine Meditationsgruppe weiter, die ich mit der Buddhistin begonnen hatte. Mit dieser habe ich fast das ganze Jahr keinen Kontakt mehr gehabt. Ich kann nur ahnen, was sie bewogen hat, unsere Kameradschaft zu beenden, und ich merke, dass mich unsere Stille erleichtert. In der Rückschau erkenne ich, wie sehr wir aneinander vorbeigeredet haben in dem Sinne, dass meine spirituelle Absicht mit ihren psychosozialen Selbstoptimierungsbemühungen unvereinbar waren. Diese Gespräche waren sehr anstrengend und haben mich oft schlaflos zurückgelassen, weil ich keine Lösung finden konnte. Weil es keine Lösung gab.


Das Kloster Bursfelde liegt einsam an der Weser auf der Höhe von Göttingen. Die romanische Kirche feierte im letzten Jahr ihr 925-jähriges Bestehen, und da weder Krieg noch geografisches Geschiebe des Urstromtales dem Gebäude etwas anhaben konnten, ist es, bis auf hölzernes Dachgestühl und Glasfenster, wohl im Originalzustand. Alte Fresken wurden freigelegt, es gibt eine Ost- und eine Westseite unterschiedlicher Bauphasen, einen Innenhof und anliegendes Gelände mit Pilgerherberge, Fischteich, Obstbäumen, Blumenbeeten und Schafsweiden. Der Pastor wohnt mit seiner Familie in einem Nebengebäude, auf das man schaut, wenn man sich unterm Dach völlig selbstbestimmt einmietet in der sogenannten Oase, mit schönen Zimmern nebst Dachbalken und hübschen Holzmöbeln, dazu eine vollausgestattete Küche für Selbstversorger, in der der Bildhauer uns schon manchen Apfelkuchen gebacken hat.

Hinter der Wiese fließt die Weser, gleichmäßig und unerschöpflich. Beim letzten Abendgang an ihr Ufer hegte ich oft einen Gedanken, ob der Fluss weiterfließt oder, ökologisch wassersparend, über Nacht abgedreht würde, so als wäre fließendes Wasser ohne Nutzung oder Betrachter reine Verschwendung. Tatsächlich bewegt mich auf eine unergründliche Weise die Idee, dass ein Fluss überhaupt fließt, als ein eigenes Wesen, das sich dort durchs Bergland windet.

Im Seitenschiff des östlichen Gebäudeteils markiert ein großer handgewebter Wollteppich einen Meditationsbereich. Dort habe ich Stunden gesessen, mich selbst belauscht oder die Atmosphäre und den ganz eigenen Klang der Kirche – es ist eine Art Raum-Rauschen, das das Körpergefühl erweitert und ehrfürchtig macht. Das Glockenläuten hingegen erzeugt neben seinen Klangwellen ein hölzernes Rumpeln mit einer Ahnung des Gewichts, das auf den Glockenstuhl einwirken muss. Wenn dann alles ganz Stille war, kein pilgernder Besucher sich lauthals über die Historie des Ortes ergehen muss, dann habe ich ab und zu ein hauchwinziges Beben im Boden spüren können. Ein Moment größter Intimität mit dem Ort und der Stelle, an der mein Körper ihn berührt. Ich saß dort mehrmals am Tag lange mit großer Mühelosigkeit und leichtem Herzen.




Montag, 31. Dezember 2018
Das Jahr geht heute zu Ende und es war ein gutes Jahr. Vielleicht sogar das beste seit 2011.
Weser bei Bursfelde
  • Kloster Bursfelde, mein liebster Rückzugsort; die Weser
  • Der Grüne Mann als urban knitting-Projekt im Berggarten
  • jede Menge Wolle an heißen Tagen
  • was denn nun eigentlich Kunst sei
  • Freundschaften on, Freundschaften off
  • immer wieder Mama
  • Traumakotzen mit Dudi
  • neue, teils seltsame Projekte, sogar incl. Geldverdienen
  • und immer wieder der wunderbare Bildhauer, mein bester Freund
Ihnen, meinen werten Lesern, wünsche ich von allem Guten das Allerbeste.