Dienstag, 11. Februar 2014
Ja, liebes Tagebuch. Du siehst mich hier in einer seltsamen Verfassung beim Vata-Tee. Ich hatte ja heute schon einen Kaffee mit der Leserin. Auf meinem Pfad der Entscheidungen bin ich nun an diesem Punkt angelangt, von dem ich dachte, ich würde ihn nie erreichen. In den letzten Monaten und Jahren habe ich vieles beendet. Nicht weil es nervt oder etwas daran falsch gewesen wäre, sondern weil es einfach zu Ende war. Aus einem intuitiven Verlangen heraus war ich ohne Zögern auf Züge aufgesprungen, die mich fort führten, bildlich gesprochen, und habe wieder andere Züge fahren lassen – mit einer Leichtigkeit, die mich selbst überraschte.

Eigentlich wollte ich ein bisschen über Woody Allen schreiben (ohne zu dem Drama nun auch noch mein Fett dazugeben zu wollen). In der zweiten Hälfte meiner 20er, als ich studierte, hegte ich eine äußerst romantische Liebe zu ihm. Während einiger Semester rund um das Vordiplom hatten die meisten meiner Arbeiten ihn zum Thema, ob Buchtitelgestaltung, Portraitzeichnen, Plakatillustration, Verpackungsdesign, alles was ging. Sehr auffallend wohl, aber mir wenig peinlich. Vielleicht belächelte die Lieblingsprofessorin auch meine Hingabe. Ich besaß alle Bücher und Magazine, die es von und über ihn gab, ich bestellte mir sogar Drehbücher aus New York. Einmal schrieb ich einen langen Brief an ihn, den ich aber nie abschickte. Der Altersunterschied war durch meine zeitversetzte Entdeckung der Filme bzw. seiner Person eher unwesentlich.

Irgendwann war das vorbei, wahrscheinlich im Verlauf des Trennungsdramas Farrow gegen Allen Ende der 80er. Da wusste ich nicht, wem ich Glauben schenken konnte. Ich fand auch Woodys Filme nicht mehr so interessant, vielleicht fehlte mir mehr und mehr das Metaphysische oder die Witze darüber, vielleicht wurden die Themen der doch viel älteren Protagonisten mir ferner, und die meisten Filme nach Hanna und ihre Schwestern habe ich nicht gesehen, schon gar nicht, als er selbst nicht mehr mitspielte.

Vor ein paar Tagen, als Dylan Farrow ihre Vorwürfe erneut erhob und Woody darauf mit seiner Sicht der Dinge reagierte, begann auch ich wieder, hinter ihm herzuforschen. Er ist alt geworden (bloß drei Jahre jünger als meine Mutter), meine Liebe war ja nun auch schon ein Vierteljahrhundert her. Ich schaute mir alte late-night shows an, und Manhattan und Annie Hall in OF, und habe sie sehr genossen. Die Hummerszene in Annie Hall scheint mir wie aus dem echten Leben, Diane und Woody lachen ausgelassen ob ihrer eigenen Scherze. Und Paul Simon ist toll, George Gershwins Musik in Manhattan, die Szene, als er auf dem Sofa liegend in den Cassettenrecorder spricht, was sein Leben lebenswert macht. Die Dialoge aus Manhattan kenne ich fast auswendig, und die Originalfassung hat mich umgehauen. Vor zwanzig Jahren hätte ich kein Wort verstanden. – Ach, und da fällt mir noch ein, dass ein damaliger Freund, den ich beinahe zwingen musste, sich den Film mit mir anzusehen, unglaublich eifersüchtig wurde, weil ich offensichtlich viel mehr in love mit Woody war als mit ihm, der neben mir saß und jedes Lächeln und jeden meiner sehnenden Blicke auf die Leinwand beleidigt registrierte.

Liebes Tagebuch, jetzt habe ich mich gerade in der Erzählung verloren. Ich denke, du weißt, was ich dir berichten möchte. Ja genau, es geht gar nicht um Woody Allen. Sondern um die Vorbilder, die männlichen, um das, was sie zu sagen haben, das was ich davon befolgt und gewonnen habe. Und dass ich sie alle nach und nach verlassen musste, in dem Moment als ihre Botschaft in mir keimte und dann aufblühte. Du weißt, die berühmte Anweisung, den Buddha zu töten, wenn man ihn trifft.

Was ich übrigens damals nicht verstanden habe. Aber jetzt. Es gehört mehr Mut dazu, als ich dachte und noch zögere ich eine Weile.




Samstag, 1. Februar 2014
Oder Ihr Essen? Nein? Ich auch nicht. Ich gebe zu, ich war mehrmals versucht, die Kamera über meinen Rote-Beete-Nudel-Eintopf mit Curry zu halten wegen des unglaublichen Orangetons, die sich durch die Mischung des Gemüses mit Gelbwurz ergibt, aber jedes Mal beschlug es die Linse und weil ich nicht wollte, dass mir das Essen kalt würde, ließ ich es. Tatsächlich gibt es einige unterbelichtete Fotos, die mich vor meiner Bücherwand zeigen, zerwühlte Haare (auf meinem Kopf) und allgemeine Unschärfe (auf den Buchrücken).

So weit war es also schon gekommen.

Am Donnerstag war ein besonderer Tag. Die Gemeinschaft der himalaya'schen Weisen und Yoga-Schüler, zu denen ich mich zugehörig fühle, hatte den Steinbock-Neumond als silence day ausgemacht, der gleiche mit dem die Chinesen ihr Neujahr einleiten, das des Pferdes übrigens. Ich verbrachte den Tag in größtmöglicher Schweigsamkeit. Auf dem Gelände mussten ein paar drucktechnische Details besprochen werden, und die Bürokollegin zeigte mir ein Filmchen, wie ihr junges Pferd das erste Mal an der Longe geht – das konnte ich wegen Niedlichkeit nicht unkommentiert lassen.

Was mir in den letzten Wochen, wenn nicht Monaten, gefehlt hatte, war shradda, Vertrauen, eine der fünf Tugenden des spirituellen Aspiranten. Alles war mir abhanden gekommen. Und während dieser zweifelnden Zeit wusste ich nicht mehr, was richtig und falsch war. Ich fand die Welt grundsätzlich schlecht. Was, wenn der Mainstream recht hat, wenn es nur das Offensichtliche gibt und sonst nichts. Dass Menschen einfach so Krankheiten bekommen, dass Kriege geschehen, das Schicksale passieren, ohne dass wir irgendeine Macht darüber haben. Es waren öde Monate, in denen ich, so wird es mir im Nachhinein klar, im Netz Antworten nachjagte. Mein vieles Gelese hatte was extrem Suchtartiges, und nichts konnte mich zufrieden stellen. Hier noch einen Blog lesen, dort noch einen Kommentar checken, im Außen etwas suchen, suchen – suchen. Vielleicht gibt es doch jemanden, der die ultimative Wahrheit schreibt und sich nicht dauernd darüber mokiert wie scheiße das virtuelle Leben (und das Leben überhaupt) ist und wie doof die Leute, die pubertäre poetry-slam-Beiträge liken. Achgottchen.

Das besondere an diesem Donnerstag ist die Stimmung, die mich umfängt als ich aufwache. Da ist Stille. Ich hatte ja die Lizenz zum Schweigen und nehme mir ausreichend Zeit, meine bös vernachlässigten Übungen wieder zu vertiefen, lasse den Rechner zum Frühstück aus und setze mich mit meiner Schale Grießbrei vor den Altar. Dort sitze ich einfach weiter und lauschte, ribbele ab und zu an einen fast fertigen Pulli herum, nehme ab und zu die Mala und mache eine Runde, während das Sonnenlicht sich langsam im Raum dreht – und ich endlich ankomme.

Wie sehr ich sie vermisst habe, die Abgeschiedenheit. Wie sehr ich mich vermisst hatte, ich konnte nichts mehr mit mir anfangen vor lauter Ablenkung. Bereits vor zwei Wochen hatte ich mir deshalb striktes Internet-Verbot erteilt, und zu meiner eigenen Überraschung fühlte ich mich damit sehr frei. Keine Erwartungen, keine Verpflichtungen. Im Netz war alles voll mit Meinungen, Meinungen und noch mehr Meinungen, fast schon war ich selbst zur Meinung geworden, eine Meinung, die notfalls angepasst werden musste, wegen der Schmerzlichkeit der Wahrheit. Meine bookmarks stecken jetzt in Unterordnern, die nur mit umständlichem Geklicke erreichbar sind, und wenn ich manchmal in die vertraute Liste schaue, schrecke ich davor zurück, sie zu öffnen, damit der sinnlose Trubel nicht wieder losgeht.

Die Buddhistin, die abends zur Meditation kommt, und ich sind uns einig über die Auswirkungen unseres hemmungslosen Netzlebens. Auch sie klagt über Unruhe im Geist und beschreibt den Rausch als Bedürfnis nach Verbundenheit, aber die Meinungen und Kommentare, die wir im virtuellen Außen aufnehmen oder abgeben, alles, was wir dort lesen und sehen, täuschen das Ersehnte bloß vor! Sie selbst sei in diese Falle getappt, war sie offline, fühlte sie sich seltsam allein, so als wäre sie vom Leben abgeschnitten, das Zuhause eine Art Grab ohne WLan. Wie absurd dieses Gefühl sei, schließen wir, denn wir sind ja ständig Teil von etwas, wir haben Körper, die Teil der Erde sind und teilen mit anderen Raum, Gedanken und Gefühle. Wir wollen Verbundenheit spüren und können es nicht, obwohl sie nur ein Fingerschnipsen entfernt ist.

Eine knappe Stunde sitzen wir in Stille auf der Matte im Kerzenlicht. Ich erinnere mich an die Morgenmeditationen in Swamis Ashram. Es ist noch dunkel draußen und in der Halle brennt einzig am Altar eine Kerze. Man sieht Umrisse regloser Gestalten, die in der Halle verteilt sitzen und sich zum Schutz gegen Mücken vollständig in ihre Tücher gehüllt haben. Während der halben Stunde wird es draußen hell, und noch später geht die Sonne hinter den Vorbergen des Himalaya auf. Diese geheimnisvolle Zeit habe ich besonders geliebt.

Ich möchte mehr von dieser Zeit! Ich bin bereit und dabei, mich wieder einmal vollkommen zu drehen.




Freitag, 17. Januar 2014
Es ist verlockend, mich selbst zu zitieren. Mit einer kleinen Abwandlung:
"Ich bin jetzt durch mit der Bloggerei."




Samstag, 11. Januar 2014
Wie sehr ich Märchen geliebt habe! Sie waren mein größter Schatz. Als ich klein war und noch nicht selbst lesen konnte, las mir Mama aus ihrem in rotes Leinen gebundenen Märchenbuch vor. Ich besitze es heute noch. Vorn steht ihr Mädchenname in grün verblichener Tinte und mittlerweile ist der Buchrücken etwas zerfleddert. Es wird von regelmäßig zwischengelegten ganzseitigen farbigen und vielen Illustrationen in schwarz-weiß belebt und später konnte ich die eigenartigen Buchstaben der Fraktur selbst entziffern.

Ob Märchen gut für Kinder sind oder nicht, haben einige wissenschaftliche Zweige zu ergründen versucht. Die meisten Märchen waren eine Wohltat für mein Gemüt, das noch völlig im Vertrauen auf Gerechtigkeit wurzelte, wenn das Gute stets über das Böse siegte. Aber eines hat mich verwirrt und tut es heute noch: Marienkind von den Grimm-Brüdern. (Hier z. B. nochmal nachzulesen).

Die Jungfrau Maria daselbst setzt in dieser Mär das Marienkind, das sie mit ins Himmelreich genommen hat, weil sein Vater es nicht mehr ernähren konnte, einer unfassbaren Versuchung aus: Erst wird es jahrelang mit süßem Brot und Milch verhätschelt und dann mit 14, die Jungfrau Maria muss sich auf Reisen begeben, bekommt es die Schlüssel für 13 Türen, von denen es zwölf öffnen darf, die 13. ihm aber auf Verderb verboten wird.

Natürlich, wer täte das nicht, öffnet das Kind, mit großer Angst zwar, auch die 13. Tür und sieht dahinter die Dreieinigkeit in ihrer ganzen Herrlichkeit. Maria kommt nach Hause und erkennt an dem mit Gold behafteten Finger, den das Kind nach der Tat verzweifelt zu reinigen versucht hat, natürlich sofort, dass es das Verbot gebrochen hat. Maria befragt das Kind eindringlich, es verleugnet ebenso beharrlich. Man muss den Text lesen, um mitfühlen zu können, welche große Angst das Kind hat, was es einerseits bewegt hat, ungehorsam zu sein und was es in der Folge erleiden muss, weil es seine angebliche Sünde, nämlich die Lüge, die 13. Tür nicht angerührt zu haben, leugnen muss, aus Angst vor der Strafe. So oder so, das Kind wird mit einer Vergeltungsmaßnahme bedacht, die schlimmer nicht sein kann, es wird, verstummt, auf die Erde zurückgebracht, die Kinder, die die junge Frau bald darauf mit einem Königssohn hat, werden ihr weggenommen und sie landet als vermeintliche Menschenfresserin auf dem Scheiterhaufen. Es ist wiederum Maria, die sie vom drohenden Tod erlöst, als Marienkind endlich ihre Tat zugeben kann.

Die verwirrenden Hintergründe dieser Geschichte waren als Kind für mich nicht zu durchschauen oder gar zu benennen. Es war eher so, als hätte ich sie als Bedingung bedenkenlos angenommen. Immerhin ist es die Mutter Maria selbst, also Jesus' Mutter, die das Kind aus der weltlichen Armut befreit und es liebevoll umsorgt. Aber just als das Kind erwachsen wird, mit 14, also wahrscheinlich pubertär und eigenwillig, geht Maria auf eine Reise – wohin muss eine Gottesmutter bloß reisen, könnte man sich fragen – und lässt das Kind mit einer monströsen Herausforderung allein, die es nicht bewältigen kann und wahrscheinlich auch nicht soll. Nun erkennen wir das andere Gesicht der Jungfrau Maria, das einer rachsüchtigen Frau mit unbegreiflichen Erziehungsmethoden und doppeldeutigen -zielen. Was sie ihrem Ziehkind antut, ist äußerst grausam und könnte seinen Tod bedeuten. Und allein sie hat die Macht inne, es davon zu befreien!

Warum macht sie das? Die Motive anderer Mutterfiguren in Märchen sind einfacher zu erklären. Da ist eine neidisch auf die Schönheit ihrer Stieftochter (Schneewittchen), eine andere zieht die eigene Tochter der Stieftochter vor (Aschenputtel). Und was ist überhaupt mit der Herrlichkeit? Ist es mit 14 zu früh, sie zu schauen? Muss man sie sich durch Gehorsamheit und Leid erst verdienen? Wieso ermöglicht Maria dem Kind durch Überlassen der Schlüssel Erwachsenwerdungs- und Erleuchtungserfahrungen einerseits und verbietet sie gleichzeitig? Was genau verspricht sie sich von des Kindes Gehorsamkeit? Wieso zwingt sie es zur Lüge? Verwechselt sie da nicht etwas? Was hat genau hat sie von ihrem bigotten Getue? Wieso ist diese Maria derart verschroben?

Es gibt eine Buchserie "Märchen tiefenpsychologisch gedeutet". Jenes über das Marienkind-Märchen hatte ich besessen, jetzt ist es aber unauffindbar und möglicherweise habe ich es einem Antiquariat verkauft. Ich erinnere mich, dass es ähnliche Fragen aufwarf, aber doch nicht die gleichen, die mich beschäftigen. Dieses Märchen vermag mich immer noch in Stimmungen zu versetzen, die ich damals empfunden habe. Die verschiedenen Ängste, die dort anklingen, vor Strafe, vor Entlarvung der Lüge, vor Verlassenwerden, aber auch die Besitzgier, Macht und Gnadenlosigkeit der Mutterperson etc., haben mich geprägt, begleiten mich in schlechten Zeiten immer noch und wurden wieder durch die Weihnachtsauseinandersetzung (s. u.) hochgespült. Es ist fast so, als spielte ich (oder wir) dieses eine besondere Märchen nach, jede Beteiligte in ihrer starren Rolle, jede mit ganzer Macht.

Man könnte sagen, es sei eine Geschichte über Machtmissbrauch und verlogene Liebe. Man könnte sagen, dass sie in schlichten Worten Unaussprechliches beschreibt. Man könnte sagen, es handelt sich um die Geschichte einer jungen Frau, die die Wahrheit bereits gesehen hat und sie bedingungslos lebt, auch wenn sie mit den schrecklichsten Konsequenzen zu rechnen hat. Und endlich könnte man sagen, diese Geschichte birgt, ebenso versteckt, ihre Lösung und die Erkenntnis der Welt.

Und ja, als ich 14 war, habe ich die Herrlichkeit schauen können. Auf eine unbefangene Art wusste ich, warum die Welt besteht und es mich gibt. Dieses Wissen scheint mir manchmal im Trubel der Ereignisse abhanden gekommen zu sein, denn ich war verstummt, mein Prinz hat nicht zu mir gestanden und ich habe meine Kinder opfern müssen und manchmal fühle ich mich tatsächlich wie in tausend Feuern. All dies ist geschehen. Aber tief in meinem Herzen ... – nein, nicht die Lüge wohnt dort. Sondern die Wahrheit.




Mittwoch, 8. Januar 2014


Das bleibt wohl jetzt so. Zur Erinnerung an die ehrwürdigen Fabrikhallen. Vielleicht noch ein paar Pflanzen dran.




Montag, 6. Januar 2014


Mehrstündige Spaziergänge. Lichtfarben. Wilde Gedankengebilde. Unruhe. Angst vor, zusammen mit Lust auf – Endliches. Wie ein Moosbett im Geheimen, in das ich mich schmiege, voller Vertrauen, dennoch.

(Dennoch. Das bisher schönste Wort des Jahres.)




Samstag, 4. Januar 2014
Wer kennt sie, oder kennt sie nicht, die Geschichten über die großen Yogis, ihre geheimen Kräfte (siddhis) und ihre jesus-like-en Wundertaten? Allerdings gibt es nur wenige echte Zeugen und auch deren Berichte sind für Außenstehende kaum glaubwürdig. Das wenige, dessen ich Zeugin war, ist nicht besonders spektakulär, keine fliegenden Menschen, keine Flammenbündel in Handflächen, kein Wasser zu Wein. Ich sehe nur meinen Lehrer, den ich für den liebevollsten, feinsinngsten und wahrsten Menschen halte, den es geben kann. Er ist mir Vater und Mutter zugleich, wo meine Eltern ohnmächtig waren, ist mir Vertrauter und geliebter Freund, der mich am besten kennt. Durch seine Anwesenheit kann ich mich selbst erkennen als reines Wesen.

Seine (körperliche) Verfassung, im Gegensatz zu seiner geistigen, ist seit Jahrzehnten schwächlich. Er habe nachlässig und zu spät die Übungen seines Meisters befolgt, da war der Körper schon unwiederbringlich geschädigt. Ärzten zufolge müsste er schon seit 20 Jahren tot sein, aber er versichert, dass die Kraft seines Meisters ihn am Leben erhält, damit er seine Mission erfüllen kann, die an das bodhisattva-Gelübde geknüpft erst beendet ist, wenn alle Wesen vom Leid befreit sind. Das kann noch dauern, wenn man sich die Welt so anschaut.

Zwecks Lebensverlängerung hatte sich der Meister meines Lehrers einen neuen Körper genommen, angeblich nicht nur einmal. Dazu wird der alte, verbrauchte durch einen anderen, gesünderen ersetzt, das kann jemand gerade Gestorbenes sein, der durch den Eintritt der feinstofflichen Energie-Hüllen, den koshas, wiederbelebt wird. Sowas kann man in Yoganandas Autobiografie eines Yogi nachlesen, es kommt nicht häufig vor, aber das alte heilige Wissen, shri vidya, beschreibt, dass und wie es geht.

Im ganzheitlichen Krankenhaus im Norden Indiens, das der Meister meines Lehrers gegründet hatte, gibt es ein paar Räume, die ihm gewidmet sind. Das Zimmer, in dem er seinen Körper 1995 verlassen hat, z. B., vibriert noch vor Leben, oder die Galerie mit vielen Fotografien des Erleuchteten, der am spirituellen ebenso wie am weltlichen Leben größte Freude gehabt hat. So sieht man ihn Tennis spielen, mit den Kindern scherzen oder an Festmahlzeiten mit bekannten Persönlichkeiten aus aller Welt teilnehmen und viel und sicherlich sehr laut lachen. Ich aber finde die Fotos am beeindruckendsten, die ihn in den zwanziger Jahren zeigen. In der chonologisch angeordneten Serie sieht man hier noch einen älteren Herrn, dann ein paar unscharfe Fotos eines in eine Decke gehüllten Mannes mit Bart und verschwiemelten Augen. Die Bildunterschriften besagen, dass der Meister zurück sei aus dem Himalaya, wohin er sich eine zeitlang zurückgezogen hatte. Alle darauf folgenden Fotografien zeigen einen erstaunlich verjüngten, schönen Mann mit großen Augen, runden Brauen und sinnlichen Lippen. Mir lief ein Schauer über den Rücken.

Das bewusste Verlassen des nutzlos gewordenen Körpers wird von fortgeschrittenen Yogis praktiziert, da wird nicht einfach so aus Versehen gestorben, sondern ist vorausbestimmter Teil des Lebensplanes, so wie die Geburt in ausgewählten Körpern mit einem frühen Erinnern an vergangene Leben ohne Verlust des in anderen Leben angeeigneten Wissens. Der Lehrer ruft seine Schüler zusammen, damit sie Zeugen seines mahasamadhis werden – ein deutliches Knackgeräusch in der Schädeldecke begleitet das willentliche Öffnen der Fontanelle, durch die der feinstoffliche sich vom festen Körper löst, der daraufhin seine Funktionen einstellt.

Dass die Meister sich hernach den Schülern in ihren feinstofflichen Körpern zeigen und ihre Belehrungen weiter gehen, ist anscheinend Gang und Gäbe. Ich selbst war keine Zeugin, aber ich habe mir von Zeugen davon erzählen lassen. Ob dieses alles für den Leser dadurch glaubwürdiger wird, muss mir erstmal egal sein, darum geht es hier nicht.

Wie ich vor ein paar Tagen hörte, ist die Gesundheit meines Lehrers so labil, dass er nun in einem Krankenhaus weilt. Er sei öfters ohnmächtig geworden und hätte Atemprobleme. Und es stimmt mich froh, dass die Ärtze, natürlich, nichts richtiges finden können, es sei jedenfalls eine Anzahl von ihnen mit Untersuchungen beschäftigt. Die anderen Diagnosen, die im Laufe der Jahre gestellt wurden, haben ja auch nichts bedeutet – der Körper funktioniert in genau der Weise, dass er dem Geist (noch) dienen kann. Alles andere ist sowieso Sache eines (geheimen) Wissens, von dem wir nichts verstehen (wollen).

Ich schwanke zwischen Betrübnis und großer Freude und weiß mich nicht richtig einzupendeln. Er sagt, er hätte noch nicht die Kunst des Sterbens erlangt, so wie sie sein Meister beherrscht hat. Ich frage mich, ob das bedeutet, dass er seinen Körper nicht willentlich ablegen werden kann, und was das dann wiederum bedeutet. Aber das sind bloß Feinheiten. Jedenfalls gehen täglich Genesungswünsche ein (online), und die unterscheiden sich deutlich von denen, die an unseren Fahrprofi gehen. Sie sind vollkommen frei von Angst oder Trauer. Sondern voller Dankbarkeit, und die Hoffnung, die darin zum Ausdruck kommt, bezieht sich auf weitaus größere Welten.




Donnerstag, 2. Januar 2014
Dies ist also das neue Jahr.
Hallo. Fühlst dich gut an.




Dienstag, 31. Dezember 2013
Ein vorsichtiger Blick nach vorn. Das Horoskop sagt nach mageren und sehr humorlosen Jahren endlich etwas Entspannung an. Nein, nicht das Brigitte- oder Freundin-Horoskop, sondern das ganz persönliche. Einige vielversprechende Transite und spirituelle Hoch-Zeiten. Supi. Mit der Mantra-Übung schrappe ich stets am Aufgeben vorbei, wenigstens eine Mala pro Tag, sonst reißt die Verbindung und ich kann von vorn anfangen. Ich hab ein bisschen geschummelt, hoffentlich merkt das keiner. Knapp 70.000 zur Zeit.

Vielleicht kann ich doch endlich gedanklich vom Geräuschemann lassen. Solange ich noch nach seinem Namen suche und bei Freunden Fotos entdecke und dann noch anfange, über ihn zu reden und wie bedauerlich und so weiter blabla – wird das nichts.

In Aussicht stehen ein paar Aufträge, die finanziell nicht besonders ins Gewicht fallen, aber Spaß und freudvolle Kontakte bringen. Dass es auf dem Gelände an unseren desktops weiterhin so harmonisch zugeht, wünsche ich mir, jedenfalls kann ich zur Hälfte meinen Anteil daran geben. Ein paar kleine Reisen in die Welt hinaus. Eine befriedete Mutter. Mehr Zeit mit den Patenkindern, dem Großen, dem Sohn meiner Schwester, der ein neues Arbeitskonzept will, dem Mittleren, der bald 18 ist und mit dem ich auf dessen Riesenparty aller Wahrscheinlichkeit nach endlich durchbrennen werde, und dem Kleinmädchen, dessen Liebreiz mir das Herz erweicht, sicherlich.

Und natürlich Gesundheit. Für alle. Verzeihen. Hoffnung (trotzdem).

Dass es nicht nur den Menschen, die mir nahe stehen, gut ergeht, Wohlstand und langes Leben seien auch mit dabei. Mögen alle Wesen vom Leid befreit sein. Weg mit dem Kapitalismus, her mit der Glückseligkeit! Das sind so meine wirren bescheidenen Wünsche für ab morgen.




Montag, 30. Dezember 2013
Ein langer Spaziergang zum See. Dabei heimliche Wege benutzt. Jedenfalls waren sie mir bisher heimlich. Am Fluss entlang. Ein Zelt entdeckt, mit einem Tisch und einem Stuhl davor, eine Arbeitsumgebung, ein paar Gebrauchsgegenstände liegen herum oder hängen an Ästen. Den Weg, auch der Sonne, so genommen, damit diese mir lange ins Gesicht scheinen kann. Am See leuchtet Weihnachtsschmuck in den Büschen neben dem Steg, der wie immer nasse Fußspuren zeigt.


Noch kreisen die Gedanken. Werden ruhiger. Viele liegen zusammen mit den anderen auf einem Haufen Unglück. Ich empfinde eine Art zarter, neuer Freiheit.

Foto nochmal näher ran. Das bin also ich in der parallelen Kugelwelt.