Wie sehr ich Märchen geliebt habe! Sie waren mein größter Schatz. Als ich klein war und noch nicht selbst lesen konnte, las mir Mama aus ihrem in rotes Leinen gebundenen Märchenbuch vor. Ich besitze es heute noch. Vorn steht ihr Mädchenname in grün verblichener Tinte und mittlerweile ist der Buchrücken etwas zerfleddert. Es wird von regelmäßig zwischengelegten ganzseitigen farbigen und vielen Illustrationen in schwarz-weiß belebt und später konnte ich die eigenartigen Buchstaben der Fraktur selbst entziffern.

Ob Märchen gut für Kinder sind oder nicht, haben einige wissenschaftliche Zweige zu ergründen versucht. Die meisten Märchen waren eine Wohltat für mein Gemüt, das noch völlig im Vertrauen auf Gerechtigkeit wurzelte, wenn das Gute stets über das Böse siegte. Aber eines hat mich verwirrt und tut es heute noch: Marienkind von den Grimm-Brüdern. (Hier z. B. nochmal nachzulesen).

Die Jungfrau Maria daselbst setzt in dieser Mär das Marienkind, das sie mit ins Himmelreich genommen hat, weil sein Vater es nicht mehr ernähren konnte, einer unfassbaren Versuchung aus: Erst wird es jahrelang mit süßem Brot und Milch verhätschelt und dann mit 14, die Jungfrau Maria muss sich auf Reisen begeben, bekommt es die Schlüssel für 13 Türen, von denen es zwölf öffnen darf, die 13. ihm aber auf Verderb verboten wird.

Natürlich, wer täte das nicht, öffnet das Kind, mit großer Angst zwar, auch die 13. Tür und sieht dahinter die Dreieinigkeit in ihrer ganzen Herrlichkeit. Maria kommt nach Hause und erkennt an dem mit Gold behafteten Finger, den das Kind nach der Tat verzweifelt zu reinigen versucht hat, natürlich sofort, dass es das Verbot gebrochen hat. Maria befragt das Kind eindringlich, es verleugnet ebenso beharrlich. Man muss den Text lesen, um mitfühlen zu können, welche große Angst das Kind hat, was es einerseits bewegt hat, ungehorsam zu sein und was es in der Folge erleiden muss, weil es seine angebliche Sünde, nämlich die Lüge, die 13. Tür nicht angerührt zu haben, leugnen muss, aus Angst vor der Strafe. So oder so, das Kind wird mit einer Vergeltungsmaßnahme bedacht, die schlimmer nicht sein kann, es wird, verstummt, auf die Erde zurückgebracht, die Kinder, die die junge Frau bald darauf mit einem Königssohn hat, werden ihr weggenommen und sie landet als vermeintliche Menschenfresserin auf dem Scheiterhaufen. Es ist wiederum Maria, die sie vom drohenden Tod erlöst, als Marienkind endlich ihre Tat zugeben kann.

Die verwirrenden Hintergründe dieser Geschichte waren als Kind für mich nicht zu durchschauen oder gar zu benennen. Es war eher so, als hätte ich sie als Bedingung bedenkenlos angenommen. Immerhin ist es die Mutter Maria selbst, also Jesus' Mutter, die das Kind aus der weltlichen Armut befreit und es liebevoll umsorgt. Aber just als das Kind erwachsen wird, mit 14, also wahrscheinlich pubertär und eigenwillig, geht Maria auf eine Reise – wohin muss eine Gottesmutter bloß reisen, könnte man sich fragen – und lässt das Kind mit einer monströsen Herausforderung allein, die es nicht bewältigen kann und wahrscheinlich auch nicht soll. Nun erkennen wir das andere Gesicht der Jungfrau Maria, das einer rachsüchtigen Frau mit unbegreiflichen Erziehungsmethoden und doppeldeutigen -zielen. Was sie ihrem Ziehkind antut, ist äußerst grausam und könnte seinen Tod bedeuten. Und allein sie hat die Macht inne, es davon zu befreien!

Warum macht sie das? Die Motive anderer Mutterfiguren in Märchen sind einfacher zu erklären. Da ist eine neidisch auf die Schönheit ihrer Stieftochter (Schneewittchen), eine andere zieht die eigene Tochter der Stieftochter vor (Aschenputtel). Und was ist überhaupt mit der Herrlichkeit? Ist es mit 14 zu früh, sie zu schauen? Muss man sie sich durch Gehorsamheit und Leid erst verdienen? Wieso ermöglicht Maria dem Kind durch Überlassen der Schlüssel Erwachsenwerdungs- und Erleuchtungserfahrungen einerseits und verbietet sie gleichzeitig? Was genau verspricht sie sich von des Kindes Gehorsamkeit? Wieso zwingt sie es zur Lüge? Verwechselt sie da nicht etwas? Was hat genau hat sie von ihrem bigotten Getue? Wieso ist diese Maria derart verschroben?

Es gibt eine Buchserie "Märchen tiefenpsychologisch gedeutet". Jenes über das Marienkind-Märchen hatte ich besessen, jetzt ist es aber unauffindbar und möglicherweise habe ich es einem Antiquariat verkauft. Ich erinnere mich, dass es ähnliche Fragen aufwarf, aber doch nicht die gleichen, die mich beschäftigen. Dieses Märchen vermag mich immer noch in Stimmungen zu versetzen, die ich damals empfunden habe. Die verschiedenen Ängste, die dort anklingen, vor Strafe, vor Entlarvung der Lüge, vor Verlassenwerden, aber auch die Besitzgier, Macht und Gnadenlosigkeit der Mutterperson etc., haben mich geprägt, begleiten mich in schlechten Zeiten immer noch und wurden wieder durch die Weihnachtsauseinandersetzung (s. u.) hochgespült. Es ist fast so, als spielte ich (oder wir) dieses eine besondere Märchen nach, jede Beteiligte in ihrer starren Rolle, jede mit ganzer Macht.

Man könnte sagen, es sei eine Geschichte über Machtmissbrauch und verlogene Liebe. Man könnte sagen, dass sie in schlichten Worten Unaussprechliches beschreibt. Man könnte sagen, es handelt sich um die Geschichte einer jungen Frau, die die Wahrheit bereits gesehen hat und sie bedingungslos lebt, auch wenn sie mit den schrecklichsten Konsequenzen zu rechnen hat. Und endlich könnte man sagen, diese Geschichte birgt, ebenso versteckt, ihre Lösung und die Erkenntnis der Welt.

Und ja, als ich 14 war, habe ich die Herrlichkeit schauen können. Auf eine unbefangene Art wusste ich, warum die Welt besteht und es mich gibt. Dieses Wissen scheint mir manchmal im Trubel der Ereignisse abhanden gekommen zu sein, denn ich war verstummt, mein Prinz hat nicht zu mir gestanden und ich habe meine Kinder opfern müssen und manchmal fühle ich mich tatsächlich wie in tausend Feuern. All dies ist geschehen. Aber tief in meinem Herzen ... – nein, nicht die Lüge wohnt dort. Sondern die Wahrheit.





Ein Märchen, das ich noch nie gelesen habe. Oh, und ja, da gibt es viel zu interpretieren.

Ein bisschen erinnert mich das an die Geschichte vom Sündenfall. Auch da wird ein autoritäres Verbot von einem weiblichen Wesen überschritten, auch da sind die Folgen furchtbar. Interessant, dass es nie die Söhne sind, die die Verbote übertreten.

Die Moral der ganzen Geschichte ist ja recht schlicht am Ende formuliert. Gehorsam gegen das Göttliche (und stellvertretend das Elterliche) zahlt sich aus und führt zu Glückseligkeit, Übertretung wird hart bestraft. Was mich persönlich daran fesselt ist die bewusste Verführung, die von den Autoritätspersonen (Gott, Maria) in den Raum gestellt wird. Es ist ein Test, den die Geprüften zu bestehen haben. Die göttliche Gnade muss man sich verdienen, und in diesem Märchen interessanterweise zu genau dem Zeitpunkt, an dem das Mädchen zur Frau wird. Die Frage, ob sie sündig wird und es für sich selbst erstrebt, die Dreieinigkeit zu erblicken, oder ob sie sich, wie es sich für jede gute Frau geziemt, zu beherrschen weiß und gehorcht, entscheidet darüber, wie akzeptabel sie später im gesellschaftlichen Zusammenhang ist.

Ich hab's nicht so mit biblischen Geschichten, aber Eva, die vom Baum der Erkenntnis isst, fasziniert mich als Ur-Frauengestalt, die es wagt, für sich selbst Einblick erhalten zu wollen. Mündig zu werden und allein über Gut und Böse entscheiden zu können. Das wird natürlich in der Bibel (ebensowenig wie hier im Märchen) nicht als erstrebenswert hingestellt - im Gegenteil, es dient ja als kleine (große) Beispielgeschichte, was geschieht, wenn sich der Mensch (vor allem die Frau) selbst anmaßt, zu denken, zu streben und zu wollen. Ich mag hingegen die Spur Revoluzzertum, die den übertretenden Frauenfiguren innewohnt.

Mündig zu werden bedeutet natürlich auch, dass man zukünftig von der leitenden, fürsorglichen, milden Gottes- bzw. Mutterfigur abgeschnitten sein wird und es keinen Rückzug mehr auf süßes Brot und Milch geben wird. Erst die Bereitschaft, sich wieder kindlich einem höheren Gebot unterzuordnen, rückt die Möglichkeit dieser ursprünglichen Süße wieder in greifbare Nähe. Eine Verheißung, von der ich persönlich glaube, dass es sie nicht gibt. Unmündigkeit, so süß sie sein mag, hat für mich immer den Beigeschmack des Bitteren, weil sie das Selbst ausschließt.

Von mir an dieser Stelle vielleicht ein bisschen viel persönliche Interpretation, aber ich dachte, ich gebe mal meinen Senf dazu. Danke für den Einblick in das Märchen.

Vielen Dank, liebe Sturmfrau, für Ihren ausführlichen Kommentar. Den hat dieses Märchen sicherlich verdient.

Nachdem ich den Text geschrieben hatte, ist mir auch wieder eingefallen, was der Tenor der "tiefenpsychologischen Deutung" war, den das verschollene Buch uns anheimlegen wollte. Natürlich etwas sexuelles, etwas sehr Geheimes, der Schlüssel, das Schlüsselloch, der Finger, Sie wissen schon, eine erste körperlich Erfahrung. Deswegen hatte ich das Buch weggeben müssen, die Deutung des Herrn Drewermann fand ich schlicht peinlich. Dann hatte ich mich im Netz nach weiteren Besprechungen umgesehen, auch eine, die in etwa meinen Erwägungen glich.

Während ich noch an meinem Artikel saß, und mir klar wurde, dass die angebliche Sünde kar keine Sünde ist, sondern die Entscheidung einer heranwachsenden Frau zu Eigensinn und Schweigen, fand ich das zunächst sehr kühn. Es war mir vorher nicht in den Sinn gekommen, dass ihr Eigensinn etwas Erlaubtes sein könnte, ein Menschenrecht sozusagen. Die Erkenntnis, dass ich Verbote über Eigensinn stelle, traf mich dann doch hart.

Nachdem ich das Märchen wieder gelesen hatte, schockierte mich das weitere Insistieren Marias, ob Marienkinds Herz immer noch nicht erweicht sei. Und das Ende muss ich unbedingt anders verstanden wissen, als ein Einlenken und Aufgeben. Aber wie?

Für mich hat Maria ihre Falschheit genügend gezeigt. Und wo Liebe und Wohlwollen an so verquere Bedingungen geknüpft sind, möchte ich nicht meine Heimat finden.

Die Deutung, die ich ich im Netz fand und die mir gefallen hat, war, dass Maria das Kind bewusst in diese schwierige Aufgabe führt, um zu sehen, ob sie bereit ist, das Höchste zu schauen. Sie war bereit! Ein bisschen so wie die Adepten, die tagelang im Regen vorm Kloster ausharren, bis sie nach mehrmaligem Abgewiesenwerden endlich angenommen werden.

Letztere Interpretation wirft in mir die Frage auf, ob es dann lediglich um die Lüge, nicht aber um den Ungehorsam ging. Wäre es Marienkind besser ergangen, wenn sie gleich zugegeben hätte, dass sie hinter die verbotene Tür geschaut hat?

Eigensinn als Menschenrecht, das ist eine schöne Erkenntnis, die mir auch irgendwann einmal in jüngerer Vergangenheit kam. Eigensinn ist darüber hinaus auch ein schönes Wort, finde ich. Mir wurde bereits oft in meinem Leben seitens der Familie Sturheit unterstellt, vielleicht, weil ich nicht so umgänglich und anpassungsfähig war wie meine Schwester. Heute kann ich das als Eigensinn begreifen und als unbewusste Verteidigungsleistung anerkennen, die darauf abzielte, nichts zu tun, was nicht in meinem eigenen Sinne war. Auch das ist etwas wert, oder?

Das ist sehr, sehr schön, sturmfrau!

Ich glaube tatsächlich, dass es um die Lüge ging. Den Besitz der Schlüssel nicht zu nutzen und auf die Erkenntnis des Höchsten zu verzichten, wäre in diesem Kontext das einzig Unverzeihliche gewesen.

Und ja, zu erleben, wie nahe und liebgewonnene Menschen versuchen, einem den Eigensinn zu nehmen, ist so erschreckend wie ein Märchen. Es dauert so lange, bis man wirklich dazu stehen kann. Nicht lieb sein.

Nicht lieb sein. Exakt.