Samstag, 4. Januar 2014
Wer kennt sie, oder kennt sie nicht, die Geschichten über die großen Yogis, ihre geheimen Kräfte (siddhis) und ihre jesus-like-en Wundertaten? Allerdings gibt es nur wenige echte Zeugen und auch deren Berichte sind für Außenstehende kaum glaubwürdig. Das wenige, dessen ich Zeugin war, ist nicht besonders spektakulär, keine fliegenden Menschen, keine Flammenbündel in Handflächen, kein Wasser zu Wein. Ich sehe nur meinen Lehrer, den ich für den liebevollsten, feinsinngsten und wahrsten Menschen halte, den es geben kann. Er ist mir Vater und Mutter zugleich, wo meine Eltern ohnmächtig waren, ist mir Vertrauter und geliebter Freund, der mich am besten kennt. Durch seine Anwesenheit kann ich mich selbst erkennen als reines Wesen.

Seine (körperliche) Verfassung, im Gegensatz zu seiner geistigen, ist seit Jahrzehnten schwächlich. Er habe nachlässig und zu spät die Übungen seines Meisters befolgt, da war der Körper schon unwiederbringlich geschädigt. Ärzten zufolge müsste er schon seit 20 Jahren tot sein, aber er versichert, dass die Kraft seines Meisters ihn am Leben erhält, damit er seine Mission erfüllen kann, die an das bodhisattva-Gelübde geknüpft erst beendet ist, wenn alle Wesen vom Leid befreit sind. Das kann noch dauern, wenn man sich die Welt so anschaut.

Zwecks Lebensverlängerung hatte sich der Meister meines Lehrers einen neuen Körper genommen, angeblich nicht nur einmal. Dazu wird der alte, verbrauchte durch einen anderen, gesünderen ersetzt, das kann jemand gerade Gestorbenes sein, der durch den Eintritt der feinstofflichen Energie-Hüllen, den koshas, wiederbelebt wird. Sowas kann man in Yoganandas Autobiografie eines Yogi nachlesen, es kommt nicht häufig vor, aber das alte heilige Wissen, shri vidya, beschreibt, dass und wie es geht.

Im ganzheitlichen Krankenhaus im Norden Indiens, das der Meister meines Lehrers gegründet hatte, gibt es ein paar Räume, die ihm gewidmet sind. Das Zimmer, in dem er seinen Körper 1995 verlassen hat, z. B., vibriert noch vor Leben, oder die Galerie mit vielen Fotografien des Erleuchteten, der am spirituellen ebenso wie am weltlichen Leben größte Freude gehabt hat. So sieht man ihn Tennis spielen, mit den Kindern scherzen oder an Festmahlzeiten mit bekannten Persönlichkeiten aus aller Welt teilnehmen und viel und sicherlich sehr laut lachen. Ich aber finde die Fotos am beeindruckendsten, die ihn in den zwanziger Jahren zeigen. In der chonologisch angeordneten Serie sieht man hier noch einen älteren Herrn, dann ein paar unscharfe Fotos eines in eine Decke gehüllten Mannes mit Bart und verschwiemelten Augen. Die Bildunterschriften besagen, dass der Meister zurück sei aus dem Himalaya, wohin er sich eine zeitlang zurückgezogen hatte. Alle darauf folgenden Fotografien zeigen einen erstaunlich verjüngten, schönen Mann mit großen Augen, runden Brauen und sinnlichen Lippen. Mir lief ein Schauer über den Rücken.

Das bewusste Verlassen des nutzlos gewordenen Körpers wird von fortgeschrittenen Yogis praktiziert, da wird nicht einfach so aus Versehen gestorben, sondern ist vorausbestimmter Teil des Lebensplanes, so wie die Geburt in ausgewählten Körpern mit einem frühen Erinnern an vergangene Leben ohne Verlust des in anderen Leben angeeigneten Wissens. Der Lehrer ruft seine Schüler zusammen, damit sie Zeugen seines mahasamadhis werden – ein deutliches Knackgeräusch in der Schädeldecke begleitet das willentliche Öffnen der Fontanelle, durch die der feinstoffliche sich vom festen Körper löst, der daraufhin seine Funktionen einstellt.

Dass die Meister sich hernach den Schülern in ihren feinstofflichen Körpern zeigen und ihre Belehrungen weiter gehen, ist anscheinend Gang und Gäbe. Ich selbst war keine Zeugin, aber ich habe mir von Zeugen davon erzählen lassen. Ob dieses alles für den Leser dadurch glaubwürdiger wird, muss mir erstmal egal sein, darum geht es hier nicht.

Wie ich vor ein paar Tagen hörte, ist die Gesundheit meines Lehrers so labil, dass er nun in einem Krankenhaus weilt. Er sei öfters ohnmächtig geworden und hätte Atemprobleme. Und es stimmt mich froh, dass die Ärtze, natürlich, nichts richtiges finden können, es sei jedenfalls eine Anzahl von ihnen mit Untersuchungen beschäftigt. Die anderen Diagnosen, die im Laufe der Jahre gestellt wurden, haben ja auch nichts bedeutet – der Körper funktioniert in genau der Weise, dass er dem Geist (noch) dienen kann. Alles andere ist sowieso Sache eines (geheimen) Wissens, von dem wir nichts verstehen (wollen).

Ich schwanke zwischen Betrübnis und großer Freude und weiß mich nicht richtig einzupendeln. Er sagt, er hätte noch nicht die Kunst des Sterbens erlangt, so wie sie sein Meister beherrscht hat. Ich frage mich, ob das bedeutet, dass er seinen Körper nicht willentlich ablegen werden kann, und was das dann wiederum bedeutet. Aber das sind bloß Feinheiten. Jedenfalls gehen täglich Genesungswünsche ein (online), und die unterscheiden sich deutlich von denen, die an unseren Fahrprofi gehen. Sie sind vollkommen frei von Angst oder Trauer. Sondern voller Dankbarkeit, und die Hoffnung, die darin zum Ausdruck kommt, bezieht sich auf weitaus größere Welten.