Donnerstag, 2. April 2020
Die Stimmung kippelt, ist aber noch nicht ganz hinüber. Einen Disput mit dem Bildhauer gehabt, der sich besorgt zeigt, weil ich mich mit den Freundinnen zum Frühstück treffe. Ehrlich, stellte er mich vor die Entscheidung er oder sie (die Freundinnen), würde ich mich wohl einfach in eine Ecke verkriechen und warten bis alles vorbei ist. Ich finde es traurig, dass wir überhaupt so ein Gespräch führen und kann mir vorstellen, dass es bei vielen Paaren, Familien und anderen Gemeinschaften schlimme Zerwürfnisse gibt, die sich nicht beilegen lassen. Die Leserin berichtet aus dem Buchladen; dort ist die Tür zum Bad direkt in der hinteren engen Büroecke, und es bedeutet ein gewisses Organisationstalent, den Bedürfnissen aller Raum zu geben.

Zu Fragen des Zwischenmenschlichen in kleinen Wohnungen findet man zur Zeit kaum Hilfe, außer diese Psychoratgeberkolumnen mit schönen Bildern freundlicher Menschen, die an hübschen Schreibtischen homeoffice machen, während die Kinder sich still beschäftigen. In den Kommentarspalten von utube-Filmen, die wieder etwas Hoffnung mitbringen, lese ich Ängste, Nöte, Hass heraus und am meisten macht mir, der hoffnungsvollen Demokratin, Angst, dass jede Meinung außerhalb des mainstreams sofort die Verschwörungstheorie-Keule bekommt. Ich bemerke mit Befremden, dass ich positive Beiträge in meinen diversen timelines nicht mehr spontan like oder teile, ohne Folgen (welche Folgen?) zu befürchten.

Die Auseinandersetzung mit der Meditationsfreundin G. ist noch nicht gänzlich erhellt, bzw. ich führe sie allein weiter im inneren Dialog. Ich persönlich, in the cave of my heart, glaube unerschütterlich an das Gute in der Welt und an eine absolute Wahrheit. Meistens dauert es eine Weile, bis sie sich zu erkennen gibt. Und oft sind diese Weilen lang, unerquicklich, sogar schmerzhaft und mit Leichen gesät. – Wir werden sehen.

(Küche ist übrigens immer noch nicht geputzt.)




Dienstag, 31. März 2020
Auf dem Wochenmarkt ducken sich die wenigen, noch relevanten Stände zusammen, ich kaufe frisches Gemüse, Obst und Fisch, es gibt keine leider Blumen. Die wären jetzt besonders wichtig, um die Stimmung daheim zu ästhetisieren. Vorm Bioladen treffe ich C. und P., die, wie sie mir zuraunen, sich gleich mit der Tätowiererin auf einen Kaffee treffen (ah, eine verbotene Dreierzusammenkunft, raune ich zurück), sie würden es aber so aussehen lassen, als wäre es Zufall. Sie wüssten außerdem, dass die Tätowiererin letzte Woche bei mir zum Frühstück war. Ich bestätige kichernd, und füge sogar mit Umarmung hinzu. Wir besprechen das wunderbare Frühlingsgeschehen, sie beide würden oft morgens auf dem nahen Stadtberg weilen und den Bienen beim Summen zuhören, die ja schon vor Wochen ihre Arbeit aufgenommen hatten.

Das Ausgeweiche auf den schmalen Bürgersteigen funktioniert nicht so recht, wendet man sich von der einen Seite fort, stößt man auf der anderen Seite mit anderen zusammen, beide Parteien sind ja nur vorn mit Augen ausgestattet. Ich könnte mir vorstellen, dass die Menschen sich bald auf ganz natürliche Weise locker machen und ihre Angst voreinander vergessen. Nicht als Aufstand, sondern aus einem liebevollen Gefühl heraus.

Ein langes, schönes Telefonat mit der zweitgradigen Nichte, einverständig. Ich hatte ihrem Sohn ein aufwändiges Stickerbuch Gefährliche Berufe geschickt, und er berichtet, es hätte ihn zwei Tage beschäftigt. Immerhin. Alle Nachbarn lassen die Kinder draußen spielen an der nahen Bachfurt, sie kommen am Abend ausgeglichen und hungrig nach Hause – so jedenfalls stelle ich mir das vor. Natürlich gibt es Hausaufgaben online, die Lehrerin erstellt dazu kurze, tränenerstickte Filmchen.

Weiterhin dieses faktenfreie könnte, würde, sollte auf allen Kanälen, denen ich mich nur noch sporadisch widme. Jetzt einen zweiten Kaffee und dann zu einem langen Spaziergang hinaus, für den Nachmittag plane ich den Frühjahrsputz der Küche. Aber mal sehen – wie sehr ich den Zustand des Zu-nichts-verpflichtet-seins genieße! Ich kann machen, was ich will!




Montag, 30. März 2020
Könnte, würde, sollte, möglicherweise... all das. Es schneit jetzt gerade. Und zwar fast echte Flocken. Solche, die man am Himmel erkennen kann, die dick sind und vor dem Grau etwas dunkler. Sie wären noch echter, blieben sie liegen, dazu ist es aber zu warm. Vorm Fenster steht der Ahorn in seiner hellgrünen Blüte, es sieht hübsch aus, wie die Flocken hindurchsinken.

Am Freitag war es so warm, dass ich beim Spaziergang die Jacke ausziehen konnte. Wir gingen zu zweit, die Sufi-Meditierende G. (die jetzt ihren eigenen Meditationen nachgeht) und ich. Sie erklärte, sie wolle unsere gemeinsame Freundin K., die zur Risikogruppe gehört, vor dem Virus schützen, wir könnten womöglich, obschon symptomfrei, Überträgerinnen sein. Sie wies mich dann zurecht: Ich solle mehr Abstand zu ihr halten. Ich ging halb auf der linken Seite des Spazierweges und wurde im nächsten Augenblick von einer Radfahrerein wütend zurechtgeschnauzt. Alle waren draußen und es war unmöglich, auf den schmalen Wegen Abstand zu halten. So trottete ich, nicht verstehend, was zwischen uns (spirituellen Freundinnen) vor sich ging, hinter G. her, im steten Versuch, ihr nicht zu nahe zu kommen. Wir hatten dann diese elende Diskussion über Fallzahlen, Ansteckungsgefahr, Todesfälle und Wahrscheinlichkeiten – inmitten schönster Frühlingsstimmung und nettester Ausblicke über Gewässer und Gänseauen. Am Ende war ich völlig gestresst von all dem Ausgeweiche und in der Nacht dachte ich bis weit nach Mitternacht über die plötzliche Fremdheit zu G. nach und ward völlig mürbe gegen zwei.

Der Bildhauer und ich verbringen das Wochenende auf meinem Schlafsofa, das wie ein Boot ist, mit dem wir die schlimmsten Wellen nehmen. Unsere mittägliche Ausfahrt durch die leere, nach dem Wetterumschwung wieder regengraue Stadt ist bedrückend und uns ist klar, wie sehr gerade solch eine Stimmung dazu beiträgt, jegliche Abwehr zu schwächen. Wir vermissen Kunst und Kultur bzw. das Schöne im eigentlichen Sinn, das ist jetzt in dieser Stadt nicht zu finden. Zurück zu Hause zünde ich Kerzen an, koche opulente Gerichte, es gibt genügend Wein, oder Bier, wie jeder mag. Wir lesen uns aus "Die Höhlenkinder" vor, ein Buch, das wir beide schon seit unseren jeweiligen Jugendzeiten als eines der wichtigsten erachten (während er die Versöhnungszene zwischen Peter und Eva rezitiert, weint er [und ich lache]), schauen Handwerksfilme des SWR und spielen Scrabble mit deutschsprachig klingenden Wörtern (Lebser, Sölgen, Harsel, Gurm u. a.)

Ich möchte im Moment keine Leute treffen, mit denen ich unterschiedlicher Meinung bin. Das ist mir schlicht zu nervig.




Montag, 23. März 2020
Ich versuche weiterhin, die Ereignisse positiv zu sehen und habe seit Tagen erstaunlich gute Laune. Allerdings las, sah und hörte ich bei vertiefenden Recherchen in offstream, alternativen Nachrichten und auch Esoterik Dinge, die mich, sagen wir mal, aufrührten. Es ist nicht möglich, sich ein einigermaßen korrektes, geschweige denn wahres Bild zusammenzureimeninformieren. Jede Zahl, jede Tatsache wird durch Berechnungen, Prognosen und Meinungen so entstellt, dass es mir Herz und Verstand verdunkelt.

Ich halte mich also an Fakten. Die Sonne scheint. Der Himmel ist blau ohne eine Wolke. Die kalte Luft rötet Gesicht und Hände, der Rest des Körpers befindet sich unter warmer Kleidung. Immer mehr Grün erfüllt den Blick, auch Gelb, Weiß und Rosa. Wir sind jeden Tag draußen, der Bildhauer und ich. Hirsche äsen ungestört auf Feld und Wiese. Viele andere Wildtiere sind zu sehen, Greifvögel, Storche, Hasen, Dachse. Ich halte die Kontaktsperren für Irrsinn. Der niedersächsische Ministerpräsident ist der einzige, der zu bedenken gibt, dass sich die Leute zu Hause auf den Keks gehen werden oder Schlimmeres. Ich würde gern das Mütterlein wieder sehen und überlege, ob ich irgendeine Ausnahmesache geltend machen kann – damit sie mich nicht völlig vergisst.

Das Café hat seit dieser Woche zu und so lade ich die Leserin zum wöchentlichen Frühstück bei mir. Ich hatte sie gebeten, Klopapier mitzubringen und besitze nun vier Rollen. Ich biete Kaffee und gesunde Lebensmittel, wir besprechen die Lage und auch ihre berufliche Situation, deren aus der besonderen Historie des Buchladens erwachsene Schwierigkeiten wir schon seit Monaten, vielleicht auch Jahren versuchen zu erhellen. Ich finde, sie ist eine hervoragende Denkerin, und an unseren Gesprächen mag ich die Bedächtigkeit, die ruhigen Denkpausen und das Ins-Unreine-Reden, das wir erst später strukturieren. Was sie im Laden halte, frage ich. Allein die Bücher, das spezielle Sortiment, das sie anböten, und die Möglichkeit, jederzeit etwas zu lesen und nachzusehen. Sie könne sich ihre Wissbegier sonst gar nicht leisten. Das gefällt mir, es sind weder das Geld, noch die Kolleginnen. Es sind einfach die Bücher.

Vetter und Basen melden sich innerhalb weniger Tage. J. ist ziemlich aus dem Häuschen, was er aber nicht als Panik gedeutet haben möchte. Was uns unterscheidet, wird mir klar, ist, dass ich nichts zu verlieren habe, er aber alles in die Erhaltung des Riesenhauses unseres Großvaters inmitten der Heimatstadt verwickelt ist. Ich möchte nicht tauschen. Er erzählt, dass im Dom, anscheinend Gang und Gäbe, der Probst eine Messe für sich (den Probst) allein gehalten hat. Niemand war sonst da.

Wie ich oft mit dem Mütterlein dort im Dom die Marienstatue besuchte. Wie wir eine Kerze anzündeten, und uns betend auf der Bank niederließen. Und wie sie sich nach einer Weile zu mir drehte und leise fragte, wollen wir gehen? Sie war immer die Erste, die fragte.




Sonntag, 22. März 2020
Der Berichterstattung halte ich mich weitestgehend fern. Im Stadtteil ist es ruhig, man geht sich aus dem Weg und lächelt freundlich, als wolle man sagen, das ist nicht gegen Sie persönlich gerichtet. Gestern Abend um sieben schallte Applaus (Ablaus schrieb ich erst) durch den Hinterhof, ich hatte von dieser Würdigungsgeste noch nichts gewusst. Werde heute Abend mitklatschen. Auf dem Wochenmarkt bietet eine Frau selbstgenähte Schutzmasken an, man kann sich mit der Bestellung den Stoff dazu aussuchen und am Ende des Markttages gegen eine Spende abholen. Trotzdem sieht man hier wenige, die Masken tragen. Der frisch getrennte Freund der Gärtnerin erkennt mich in der Schlange vorm Biostand und kommt mir zu nahe, als er auf Nachfrage erklärt, es gehe ihm nicht gut. Unwillkürlich drehe ich mich von ihm weg, ich möchte nichts hören.

Die Berichterstattung scheint mir einseitig und wenig geeignet, Panikgefühle zu lindern. Wie man Abwehrkräfte stärkt zum Beispiel oder Selbstheilungskräfte aktiviert, könnte man verbreiten. Was ist mit dem vielbeschworenen Superfood? Obst, Ölsaaten, Nüsse, frisches Gemüse, Hülsenfrüchte, Heilkräuter. Ingwer, Kurkuma. Vitamin C und D3. Kneippkuren. Es wird so getan, als würde der Virus wahllos vom Himmel fallen und jeden treffen, der im Weg rumsteht. Wo sind all die diese guten Stimmen, die zur gesundheitlichen Selbstvorsorge und -verantwortung aufrufen? Die Beschwichtiger werden allesamt gleich als Verschwörungstheoretiker niedergemeint. Sowieso ist vieles bloß Meinung. Man kann sich kaum davor schützen, auf eine reinzufallen. Eigentlich ist die aus allen Ecken kriechende Meinung der Virus. Ich hab ja auch Meinung.

Statt allem stromere ich mit dem Bildhauer durch Wälder und Flure, sammle Kräutlein, versuche, im Gespräch mit Freunden Zuversicht zu verbreiten. Dass der Frühling da ist, dass man im offenen Fenster die Sonne genießen kann, Lieblingsmusik hören, bunte Blumen in der Wohnung verteilen, all diese Dinge, die einem im Herzen froh machen und stärken; die Ruhe genießen, sich ein paar Leibesübungen hingeben, atmen, zu sich selbst kommen.

Und langsam mal wieder das Klopapier rausrücken.




Mittwoch, 18. März 2020
Das mit dem Klopapier verstehe ich nicht. In anderen Ländern sind es Kondome und Rotwein, die gehortet werden – man weiß es sich dort schön zu machen.

Das Mütterlein kann ich nicht besuchen. Auf diese Weise gibt es wenigstens eine kleine Absolution, staatlich verordnet sozusagen. Man bittet mich allerdings doch ins Heim, um die Unterschrift für das Bettgitter neu zu leisten. Ein kleiner Spaziergang an den Fluss-Auen, vielleicht noch zum See, nach den Burgund-Algen schauen und am Steg etwas Sonne zu atmen. Als Selbständige mit Rücklagen, von denen ich ohnehin z. Zt. lebe, sehe ich der Zeit zu Hause gelassen entgegen, bin regelrecht froh, eine Ausrede zu haben, Dinge nicht zu erledigen und mich auf mich selbst zu besinnen. Die Gärtnerin ist frisch getrennt und begehrt Beistand, Freundinnen-Power gar möchte sie versammeln, wir stehen zu fünft auf dem Markt in gehörigem Abstand und mir ist so gar nicht nach weiteren Details einer Beziehungsgeschichte, die immer schon schwierig war und zur Auflösung neigte.

Statt dessen rufe ich die Bürokollegin an und die Bestefreundin, wir führen lange launige Gespräche und lachen viel und es tut gut, einfach nur zu reden und sich der gegenseitigen Unversehrtheit zu versichern, ohne Beigeschmack, ohne irgendetwas anderes zu wollen.

Der Bildhauer und ich verbringen die Zeit in Sand- und Tonkuhlen, deren Formationen – hoch, tief, abschüssig, aufgerissen – mir beinahe zu aufregend sind, einmal habe ich Atemnot, und die daraus entstehende Panik, eventually virusbefallen zu sein, macht sie noch schlimmer, und ich krieche über Dünen und an Abhängen vorbei durch Gezweig und denke, so ist das nun also, wenn der Körper, das liebe Gefährt, nicht mehr mitmacht.

Zum Therapiegespräch will ich morgen auf jeden Fall. Der Routenplaner schlägt eine Rad-Fahrt am Kanal entlang vor, ein Riesenumweg, wie mir scheint, in den fernen Stadtteil, aber ich möchte jetzt nicht in die Straßenbahn steigen, die ohnehin fast ausschließlich von muffeligen Menschen besetzt ist. Durch den Stadtwald könnte ich auch, das werde ich morgen entscheiden. Ich hatte einen irritierenden Traum, den ich mit der Therapeutin besprechen will – ich sollte meine Eltern anklagen. Tue ich das nicht ohnehin? Es ist ein wirres Versteckspiel mit vielen sogenannten unerwarteten Wendungen, und es gelingt mir noch nicht, diese selbst zu ordnen.

Soweit zu den Neuigkeiten aus diesem Hause. (Noch gut drei Rollen Klopapier, genügend Reis, Nudeln, Hülsen- und Trockenfrüchte, Nüsse, Milch, Öle und frisches Gemüse vorhanden. Auch Vitamin C reichlich.)




Dienstag, 10. März 2020
Die Bienen waren geschlüpft, aber während der kühlen Regentage hatten sie sich irgendwo verkrochen. Gestern taumelten sie in der windigen Sonne und ich beeilte mich, die neu vorbereitenen Nistmöglichkeiten anzubringen. Um meine Hände, die an Schnüren nestelten, flogen sie, ich bin ihre Vertraute, ihre Imkerin.

Der Bildhauer und ich verbrachten das Wochenende in meinem Arbeitszimmer, wir beide mit unseren jeweiligen Objekten beschäftigt, ab und zu ein kurzer Austausch, schau mal hier, schau du mal dort, ich habe die Stereoanlage und die Lautsprecher hergeschleppt und wir hörten uns durch unsere persönliche Musikgeschichte. (Mittlerweile stehen fast alle Möbel im kleineren Arbeitszimmer und das Wohnzimmer ist fast leer, es gibt nur das Sofa und den großen Wollteppich.)

Etwas haben wir noch nie gemacht, wir sind abends raus in die Eckkneipe auf ein Bier. Dort waren wir fast mit dem Barmann allein, drei Frauen saßen nebenan im Raucherraum. Wir grinsten, als wir merkten, dass wir uns nun um ein Gesprächsthema bemühen mussten. Die spotify-playlist des Barkeepers (Schnatterinchen sein Name) barg Gitarrenlastiges, rauhes Rockiges, und unsere musikalische Reise gewann noch einmal an Fahrt.

Die Busenfreundin und ich sind wieder zusammengekommen. Monate waren vergangen, die wir nicht miteinander gesprochen hatten, dann gab es einen Geburtstag bei der Tätowiererin, an dem wir uns vorsichtig nähern konnten. Es war auf eine Weise angenehm, meine Bedenken hatten sich verflüchtigt und ich merkte, dass auch sie von ihrer besten Seite zu zeigen sich bemühte. Sie entrümpelt stetig das Elternhaus und lud uns ein, stöbern zu kommen und etwas auszusuchen. Es gab Kaffee und Sekt mit Plätzchen, ich fand Bücher, ein schönes Stück Leder und einen Besen für Radiergummikrümel. Auf der Rückfahrt berichteten wir uns von den Besonderheiten der letzten Monate, ebenso vorsichtig, aufmerksam fragend und zuhörend.

Während der Therapiestunde ward das Mütterlein aufgestellt. Als ich auf ihrem Platz stand, wurde mir deutlich, dass sie meinem Groll mit vollkommenem Unverständnis begegnet, ihm regelrecht ausweicht, mit so einer Bewegung des Oberkörpers wie beim Aikido. Ich (an ihrer Stelle) dachte (über mich selbst), was hat sie bloß immer? Nach dem abschließenden Versprechen, mich um mich selbst zu kümmern (weil sie es nicht mehr kann), ist fühlbar eine nicht unangenehme Leerstelle zurückgeblieben. Ich weiß noch nicht genau, wie diese zu füllen ist.

Außerdem: Wieviele meiner Idole werden noch demontiert? Die Kommentarspalten sind voll von heftigst geführtem Gerede und ich fühle mich (als Fan, zudem als Frau) mindestens ebenso bepöbelt (behalte meine Ansichten aber für mich).




Mittwoch, 4. März 2020
Das Muttelchen begrüßt mich mich einem einzahnigen Lächeln. Wo hast du denn deine Zähne gelassen, frage ich belustigt. Und sie, die seit Monaten keinen zusammenhängenden Satz mehr von sich gegeben hat, kontert mit sehe ich hässlich aus? Keinesfalls, streichel ich ihr Gesicht und küsse sie, so schöne Haare und so helle Augen hast du! Später beobachte ich sie, wie sie sich mit einer für sie so typischen Bewegung am Hinterkopf rumnestelt, das Haar zu richten.

Es fällt mir immer schwerer sie zu besuchen, aber heute bin ich froh, mich endlich auf den Weg gemacht zu haben. Es hatte viel geregnet und ein Wegstück der Fluss-Auen Richtung Heim laufe ich mit den Gummistiefeln durch knöchelhohes Wasser. Der Stunde, die ich mit dem Mütterlein verbringe, stehen eineinhalb Stunden Spaziergang durch matschiges Bibergebiet gegenüber, und obwohl ich diesen Weg schon tausendmal gegangen bin, finde ich immer wieder Neues – eine Lichtstimmung, abgestorbenes Gehölz oder vom Biber Umgenagtes, Pflanzen im frischen Grün, dazwischen blüht schon etwas und ich lausche den besonderen Geräuschen des Hochwassers, in dem Zweige gluckernde Wirbel hervorrufen, eine der Krähen schießt mit einem rauhen Laut nah an meinem Kopf vorbei und ich rufe ihr Rüpel hinterher. Der Bildhauer will sie sich mit Leckerein gewogen machen, und da ich bei den Fütterungen oft dabei bin, erkennen sie mich vielleicht auch, mit meiner orangeroten Jacke bin ich kaum zu übersehen.

Auf dem Schreibtisch wartet der Fragebogen der Therapeutin, den auszufüllen mir einiges abverlangt. Nicht, dass ich um Worte verlegen bin, aber die Frage nach meinen größten Misserfolgen kann ich nicht beantworten. Misserfolg bedeutet doch, dass man sich ein Ziel gesetzt hat, das man nicht erreichen konnte, aus welchen Gründen auch immer, und darüber in Gram verfällt? Hatte oder habe ich Ziele, die sich nicht verwirklichen lassen? Beruflich? Privat? Mittlerweile kenne ich meine Fähigkeiten allzugut und strebe nichts an, was mich langfristig überfordert. Die (Kunst-)Objekte, an denen ich zur Zeit arbeite, und denen ich das Jahr widmen möchte, reizen mich sehr, aber überfordern mich nicht. Dennoch überraschen sie mich stets mit den Wendungen, die sich ergeben, wenn ich Materialien oder Techniken neu zusammenbringe, anordne, wieder verwerfe – nie weiß ich im Voraus, was daraus wird. Mit der neuen (alten) Nähmaschine umzugehen, bedeutet zum Beispiel, dass eine Naht nicht so wird, nicht so akkurat wie vorgesehen und dann binde ich das Missratene als charmantes Ergebnis mit ein; so macht man das wohl.




Freitag, 21. Februar 2020
Die Gespräche mit der Therapeutin sind fruchtbar. Ich kann aufräumen mit falsch interpretierter Esoterik und befinde mich, hoffentlich nicht zu rückläufig, wieder zwischen Animus und Anima – Konzepten, von denen ich schon vor 40 Jahren gelesen habe. Meine Träume dazu stellen sich mit Regelmäßigkeit ein und sind voller freudiger Symbole. Ich begegne dort tatsächlich meinem Animus, der alles das ist, was ich bin. Wieder fällt einiges zusammen, stimmt plötzlich, kann heilen und es bleibt der Reichtum im eigenen Innern zur freien Verfügung.

Kann ich sagen, die 15 Jahre des Studiums der altindischen Schriften hätten nichts gebracht? Mir scheint da jedenfalls eine Lücke zu klaffen – man übt so vor sich hin (z. B. Selbststudium, Mantrameditation, Atemkontrolle) und der Abstand zum echten Genuss des Vorgefundenen, Eigenen (doch bloß Maya) wird immer größer. Jedenfalls bei mir.

Jetzt bin ich auf dem Weg zu einer distanzierten und dennoch liebevollen Beziehung zum Mütterlein, innerhalb derer ich die Zeiten unserer Begegnungen selbst bestimme und darauf achte, nicht dauernd über meine Kraft zu gehen, sondern mich um meine Sachen zu kümmern. Mit meinem Vater (ich sehe tote Menschen) habe ich ein Einverständnis gefunden und seinen freundlichen Blick zu spüren, hat mich für vieles entschädigt. Jetzt schreibe ich noch ein paar Briefe an verschiedene Menschen (die nicht abgeschickt werden sollen, aber mit denen wir arbeiten können).

Auf dem Weg zur freien Kunst sind meine Einnnahmen noch weiter geschrumpft und damit mein Erspartes noch eine Weile hält, habe ich mir einen Anspruch auf Wohngeld erarbeitet, 191 EUR bekomme ich nun, damit kann ich die Therapie finanzieren und halbwegs entspannt den Bewegungen auf meinem Konto zusehen. Es steht ein schönes Buchprojekt bevor, das ich gestalten kann, wahrscheinlich wird es nach dem Sommer beginnen, wenn Fotos und Interviews fertig sind. Die eigene künstlerische Arbeit gedeiht, der Bildhauer hat mir eine Nähmaschine geschenkt, was für eine Freude, jetzt muss ich nicht alles per Hand arbeiten und kann mich auf die feinere Ausgestaltung der schnell vorgenähten Formen konzentrieren.

Ach. Es wird. Es blüht.




Mittwoch, 8. Januar 2020
Beteigeuze sei dunkler geworden und Wissenschaftler erwarteten eine mögliche Supernova, berichte ich dem Bildhauer, Fachleute machten sich Sorgen darüber und er lacht laut ins Telefon: Was denn das für Sorgen seien, wenn in Sonstwo ein Stern zu erlöschen droht. Sternbild Orion, oben links, sach ich. Es sind ja keine Sorgen um die Ernte oder so, das dichte ich jetzt dazu, und wir führen ein launiges Morgengespräch über die je lustigsten Sorgen und nebenbei entwickeln wir eigene Regeln für Scrabble: Ausschließlich Eigen- und geografische Namen und Wörter, die deutsch klingen, man muss nur glaubhaft erklären, um was es sich dabei handelt.

Diese Gespräche tun mir gut und geben meiner Welt einen Halt. Sich Sorgen um Sterne zu machen, ist angenehmer als Sorgen ums Mütterlein. Oder die Schwester, den Neffen oder die Vergänglichkeit an sich. Das Neue Jahr fühlt sich seltsam alt an, das behaupten auch Freunde. Man denkt ja immer, so Kalender, jetzt mal los und dann sammeln sich wieder die regelmäßigen Termine in den Zeilen und alles sieht aus wie im Dezember oder November oder was es sonst noch für Monate gibt.

Also, vielleicht Rückblick/Vorschau wagen. Das Jahr war gut, Wetter hab ich vergessen, aber das sommerliche Stimmungshoch mit den Ausstellungsteilnahmen herausragend. Ich fühlte mich von mir selbst begehrt und Kontakte zu Freunden und Menschen in der Peripherie machten mich lebendig, wodurch die Schau in die Zukunft erfreulich leuchtet. Die künstlerische Arbeit nimmt weiter Formen an, jedes Objekt scheint aus unbekannten Tiefen zu wachsen. Ich kann mich damit selbst überraschen.

Dudis Sohn, mein Neffe, wird Vater im Sommer, und ich wäre dann offiziell Großtante, was ich cooler finde als Oma. Vielleicht sucht er zaghaft Kontakt, hier eine Nachfrage nach Autos, die in DE günstiger sind als in NL. Dort ein Interesse für die Geschichte seiner Ahnen. Weil Dudi mich und das Mütterlein (dauernd) hier besucht hat, gab es keinen Grund für mich, nach NL zu reisen. Und der Neffe saß sowieso in eigenen Schwierigkeiten fest, ohne jegliche Anteilnahme an Befindlichkeiten seiner Tante (also mich). Alle Veränderungen im neuen Jahr begrüße ich mit offenem Herzen.

Es gab gute originäre Denker zu entdecken, hier nur kurz genannt seien Jochen Kirchhoff, Gerald Hüther, Harald Welzer, Wolf-Dieter Storl, eine bunte Mischung aus Wissenschaft und populärer Philosophie. Und mich selbst natürlich, die kettenrauchende Denkerpose der Hannah Arendt nachahmend, bloß ohne Rauchen. Die Damen der Patriarchatsforschung möchte ich hier nicht einreihen, die sind mir tatsächlich zu zickig (aber indem ich sie erwähne, reihe ich sie mit ein als Anschubgeberinnen).

Es wird deutlich, dass (auch) ich eigene Maßstäbe zu entwickeln bzw. mich endlich danach zu richten habe. Meine Religionsforschungen sind an dem Punkt, dass ich keine der erforschten Ansätze hilfreich finde, sich Atman zu nähern. Vielleicht am ehesten den Hinduismus, der das Atman immerhin benennt. Eventuell hat das Christentum daraus die Jesusfigur entwickelt. Soweit ich das verstehe, hat es alle möglichen heidnischen Bilder für eigene Zwecke benutzt, was mich ziemlich traurig stimmt, denn diese sind weit davon entfernt authentisch zu sein.

Die vor kurzem begonnene Psychotherapie ging gestern in die dritte Sitzung. Eigentlich hatte ich geplant, darüber eine Art Tagebuch hier hinein zu schreiben, aber die Erkenntnisse sind eher subtiler statt brachialer Art und dazu gedacht, ins Wirrwarr sich widersprechender Philosopien eine erste Ordnung zu bringen. Schwer zu umschreiben. Die Gründe der Unordnung sind falsch verstandene Zusammenhänge enggewordene Konzepte und daraus resultierende nicht besonders hilfreiche Glaubenssätze, die ermattet umeinander kreisen, und das schon seit Jahren. Dass jene Konzepte einst als notwendige Haltepunkte funktioniert haben, wurde gewürdigt (es war ja nicht alles komplett daneben). Des weiteren wurde beschlossen, darüber hinauszugehen mit selbst entdeckter Weisheit – dass dadurch Ungewissheit entstehen kann, liegt in der Natur jedes Hinausgehens und erfordert Vertrauen in die immanenten Kräfte.