Montag, 3. Juni 2019
Eine andere Persönlichkeit überstreifen, wie einen Anzug, vielleicht auch das Geschlecht wechseln. Natürlich virtuell, trotzdem so real wie möglich. Da entsteht eine ganz neue Kreativität, neue Bilder, eine andere Sprache.

Mit Reisen an eine kleine See, dort auch unterschiedliche Persönlichkeiten in der Nähe, ganz besonders Geliebte, vorher Gekannte, schon miteinander gespielt, durch Dudis Bauchdecke hindurch. Wenn ich ihn ansehe, ist da nichts anderes als Liebe, erwartungslos und rein, so war es immer.


Wieder anders reizvoll der flache, himmelwärts blau durchscheinende Nebel um die Leserin und mich, an einem östlichen Meer. Auch sie in naher Nähe, nachts schnarchend, ich daneben ohne Schlaf, dafür mit Zweifeln, ob Nähe überhaupt gut sei und lege Patiencen. Draußen jede Menge lautes Kopfsteinplaster.

Und die Bienen. Die ersten Keime der Kefe und anderer Pflanzen auf dem Fensterbrett. Dazu Sonne, oder feiner Regen, der mich völlig durchnässt auf dem Weg zum Garten der Damen S. + R., um nach den Möhren schauen, angeblich sind da aber fast nur Ringelblumen.

Online-Gesprächen zuhören. Viel Lachen und auch weinen. Die eine lacht und weint über eine Viertelstunde. Ich bin neugierig, was ihr in diesen Momenten so durch den Kopf geht. Viel lesen in der Sonne, Marget Atwoods Trilogie von der Flut. Der Bücherstapel auf dem kleinen Tisch wächst. Meditationen vorm Altar, kein Ziel mehr, schon erreicht.

*Diesen Text habe ich 2014-04-06 21:52 geschrieben, aber nicht online gestellt, ich weiß nicht mehr warum. Eigentlich wollte ich heute anderes erzählen mit der Überschrift 'Bei mir ist alles echt', über die Prinzessin, von der ich jahrelang geglaubt habe, sie sei ein Prinz, und dass ich sie trotzdem geliebt habe, nachdem wir uns endlich in den Armen hielten. Daran möchte ich mich heute (nur) erinnern.




Samstag, 1. Juni 2019
  • Erdbeeren mit Sahne zum zweiten Frühstück
  • Draußen schwimmen
  • Gespräche mit der Lieblingsdesignerin
  • Handwerkerfilme mit dem Bildhauer schauen.
  • Thai-Massagen, sehr aua und äußerst wohltuend
  • Die Nachbarin legt im Hof einen Kräutergarten an.
  • Entscheidungen zum kunsttätigen Handeln, erleichternd
  • Gute Arbeiten am Schreibtisch, nebst klingender Münze
  • Die neuen Barfußschuhe
  • Pünktlich erledigte Steuererklärungen für mich und die Greisin
  • Mit dem Cousin das Mütterlein besucht – Du bist ja nun auch groß geworden, ruft sie ihm zu.
  • Unnötige Sorgen wegpuffern – anhand dieser Liste.
Außerdem: Das im vorigen Bild gewegweiste weggewiesene Hemeln an der Weser beherbergt eine kleine Kirche mit anmutig gestalteten Altarfiguren.




Mittwoch, 29. Mai 2019




Komme mir neuerdings alt vor. Natürlich, als Teilnehmerin der babyboomer kann ich das auch. Ich könnte es auch lassen. Mich statt dessen einfach hinsetzen und so. Dem Gefühl, es ganz gewaltig verkackt zu haben, entfliehen. Und dann schauen, ob das wirklich eine Flucht ist oder was jetzt real ist und was maya. Jedenfalls, noch nehme ich teil und schaue Sendungen. Oder, wie soeben, dem Eichelhäher nach, der mit einem Gefährten durch die Hinterhöfe streift, fliegt und so guckt. Er soll aber nicht an meine Bienen, neulich musste ich schon wieder den Buntspecht vertreiben, von dem ich weiß, dass er gern die Deckel der Bienennester aufpickt. Sicherlich lecker, sind die Damen und Herren schon verpuppt? Dazu ein kleiner Vorrat an Pollen.

Ich treibe davon. In einer Talkshow, die ich bei utube sah, berichtet ein Mann über seine Nahtoderfahrung. Das war sehr schön. Er fühlte sich bedingungslos geliebt, was ja eher selten ist, gerade, wenn man dabei ist, zuviel CO2 auszustoßen und überhaupt die Umwelt durch bloßes am-Leben-sein unwiderruflich zu zerstören. Hoimar von Ditfurth behauptete schon vor 40 Jahren, dass es zu viele Menschen gibt. Ich bin erstaunt über die Radikalität seiner Forderung, nämlich einfach weniger Menschen zu sein. Sonst reicht es nicht.

Ich treibe davon und mag zur Zeit nicht meditieren, so als hielte mich eine große Kraft davon ab, mich an meinen Platz zu setzen und dann Ruhe. Sehnsucht nach Frieden und Bedingungslosigkeit, aber keine Erfüllung wegen all dieser drängenden Sachen (der maya).




Sonntag, 5. Mai 2019
Es ist das Denken an sich! Alle spirituellen Traditionen lehren Dinge über das Denken. Seit 15 Jahren mach ich das jetzt mit der Meditation und so. Yogash chitta vritti nirodha. Das ist die erste Yogasutra. (Der Zustand des ) Yoga ist (erreicht), wenn die Gedankenwellen zur Ruhe (ge)kommen (sind). Die vrittis sind die Wellen und chitta ist das Sammelsurium aller Gedanken, welche fortwährend aus ebendiesem (chitta) heraufblubbern. So, liebe Krabbe, das weißt du doch. Nirodha ist Stille, Ruhe und einiges mehr, ähm, weniger. Also; gar nichts.

Die meisten Gedanken haben keinen besonderen Wert, auch das sagen die Yogis, 95 % sind Müll. Da geht es um Wäsche waschen für die Reise, Zehennägel schneiden, um Fußbodenbalken, die brechen könnten (s. Dudi).

Wie immer sitzen Dudi und ich nach dem rituellen Abendmahl beim lokalen Griechen (acht Ouzo) in der neuen Bar (drei Jägermeister) (also insgesamt). Die Wände dort bestehen aus grob abgeschlagenem Putz bzw. freigelegten Backsteinen aus der Gründerzeit, mit hohen Decken und einer Art Käfigen für die dämmrigen Glühbirnen als Lampen. Uns gefällt die Ausstattung, zum Klo geht man durch eine Westernklapptür und dahinter sind gleich die Kabinen, wenn mal plötzlich die Musik ausfallen sollte, würden alle Gäste die Pinkel-, Pups- oder andere Geräusche hören können. Ähnlich seltsam wie bei der Weinbar, wo die Toiletten hinter einer matten Glaswand sind, durch geschickt gesetztes Licht können die Gäste am Waschtisch in die Kneipe blicken, aber nicht umgekehrt.

Spätestens an diesem Ort wenden sich unsere Gespräche ins Ernste, ins überwältigend Traurige gar – die beiden kommen hierher nur zum Weinen, denkt vielleicht der Barmann, der uns sicherlich wiedererkennt, denn das Lokal ist meist ziemlich leer.

Jedenfalls denken wir. Und reden. Es gibt Wörter, die Dudi nach 35 Jahren im niederen Nachbarland nur in Fremdsprache kennt. Und mir fällt nur der englische Begriff ein, unconditional love, es dauert eine Weile bis zur bedingungslosen Liebe. Ich gehe einem Gefühl nach, einem sehr kindlichen, tief ausgegrabenen, so ähnlich wie diese zerrüttenen Backsteinwände um uns, das Gefühl ist das der Ruhe und der absoluten Richtigkeit und Heileseins in Gegenwart unserer Mutter. (Auch Dudi kennt es. Sie hat gleiches mit ihrem Sohn.)

Wir finden Sprache dafür. Es gibt keinen besseren Ort als bei der Mutter. Nirgends ist es sicherer als bei Mama.

Diese Art von Wahrheit gilt bestimmt für Kleinkinder, vielleicht auch noch für Zwölfjährige. Aber in diesem Moment wird mir klar, es gilt immer noch für mich. Wir sind in einem Alter, wo andere Leute schon gestorben sind. Und immer noch ist es das Ziehen und Zerren meiner Gedanken an Mama, die mich schlaflos, hilflos, sorgenvoll – alles dies – zurücklassen.

Nirodha, so muss ich gestehen, war mir immer suspekt, obwohl ich die Notwendigkeit erkannt habe. In meiner Familie gab es kein nirodha, durfte es nicht geben, denn es hieße, für eine Weile mal nicht an die anderen zu denken, noch mehr, gar nicht zu denken. Das war anscheindend verboten. Ich floh allerdings vor dieser seltsamen Aufmerksamkeit, die nicht aufhören durfte, in meine Bücherwelten.

Auch Dudi kennt dieses zwanghafte Denken. Bei mir ist es seit ein paar Wochen wieder sehr stark (nach meinem wunderbaren Yogitraum schwebte ich zwei Wochen im Himmel), nun wieder bildreiche Sterbeszenarien, dramatische Dialoge und Liebesbekundungen. Man darf von Liebe nicht lassen, wie auch immer man sie definiert; die unangenehme Art von Liebe, die uns unsere Eltern vorgelebt haben, fand ich äußert anstrengend und so gar nicht unconditional.

Nun – meine Mutter ist lange nicht mehr sie selbst und erkennt mich nicht als ihre Tochter. Aber ich, ich halte fest, bleibe die Tochter, die zur Liebe aufgefordert, vielleicht sogar gezeugt wurde zum hab mich lieb. Denk an mich. Vergiss mich nicht. Sieh mich.

Ablenkungen gibt es. Die Arbeit, das tägliche Tun, Gespräche, Verabredungen, Spaziergänge, Schlafen. Solange es etwas zu tun gibt, hat man für diese Zeit mal frei. Aber Meditation? Der Schlüssel zum Nichtdenken, und dann noch als Methode? Zur Freiheit? Verdammt, hier hab ich dich, du verflixtes Dings. –

So, Krabbe, dafür gibt es keine Erlaubnis von der Mutter, von niemandem. –

Morgen fahren der Bildhauer und ich wieder für ein paar Tage ins Kloster Bursfelde. Die Weser wird wie immer vorbeifließen und ich werde wieder und wieder üben, meinen Gedanken Gleiches zu erlauben. Nirodha enthält auch, dass man die Gedanken nicht anhalten machen kann. Sie fließen vorbei und nichts sonst.




Mittwoch, 17. April 2019
Nach jenen Tagen der Aufruhr kehrt nun wieder eine Ruhe und Gelassenheit zurück – ich glaubte sie schon wieder für immer verloren. Die Ablenkungen mannigfaltig und mit vermeintlicher Wahrheit überfrachtet. Dann wieder Träume, die mich zurücktragen, der eine von der laserstrahlscharfen Gedankenkraft, die das Leid, das mit der Zerstreuung einhergeht, sofort lindert. Ich weiß es ja, aber


Die textile Arbeit, die ich für die Ausstellung im Garten, einem anderen diesmal, anfertige, wächst und macht mir Freude, der Entwurf am Bildschirm mit seinen kantigen Pixeln wirkt als 20-wollfarbige Umsetzung anders, natürlich tut er das, aber diese Wirkung im Entstehen zu erleben, Diagonale für Diagonale, verbindet mich mit anderen Zeiten, Vergangenheit und Zukunft gleich mit, mit Traditionen, die ich nur aus der Geschichte kennen kann. Ich hatte mich mit den Pixeln vertan, um die Hälfte, und nun werde ich mit Borten und Rändern vergrößern, was das Design um ein Vielfaches verbessert, ich geb’s zu.

In der Konzeption werde ich das Bauhaus bemühen müssen, und orientalische Teppichweberinnen genauso wie christliche Ikonenmalerei. Natürlich alles halb ironisch, man könnte mit noch ganz anderen Stichwörtern um sich werfen, Algorithmus z. B. würde auch passen, oder Weltschmerz und half the world away, so wollte ich schon immer mal was nennen, das aus meiner ganz eigenen Tradition kommt und an die Prinzessin erinnert, die genauso wo weit entfernt war und dann überhaupt das gesamte verdammte Verpixeltsein der großen unendlichen Welterscheinung, der maya, und ach ja (hier hört man ein fernes Seufzen) – auf 120 x 150 cm verdichtet.




Donnerstag, 11. April 2019
Die Schulfreundin zitiert sich selbst, du machst mich nabeloh hätte sie ihrem Mann zugerufen, im Verlauf eines Problemgesprächs, nabeloh, ich höre auf, wieder so ein Wort aus alter Ferne, auch das kenne ich von meinem Vater, nabeloh machten wir ihn, verrückt. Nabeloh, schucken, meimeln, göbeln, beseibeln, Hacho – ich erinnere mich an viele Begriffe aus dem Rotwelsch, die auch in meiner Familie und meinem Freundeskreis benutzt wurden. Lustigkeit kommt auf, obschon nabelo bereits einen erhöhten Grad an Verücktgemachtsein beschreibt. Das Wörterbch, das die Schulfreundin besitzt, ist leider kein etymologisches, und so finde ich nabeloh als sehr geheimnisvoll, aus dunklen Tagen und mit nichts verwandt als dem hochgradigen Genervtsein meines Vaters.

Am Montag besuche ich, nachdem ich von der Schulfreundin komme, auch meinen noch trauernden Vetter J., ich muss feststellen, dass wir eigentlich nie zu zweit miteinander geredet haben, immer waren wir zu mehreren, sein Bruder M. war mit dabei, oder meine Mutter, schlimmstenfalls, als wir Kinder waren, wusste meine Großmutter, als zweite Frau unseres Großvaters, alle Familienverhältnisse zu verschleiern, denn mit M., dem Behinderten, wollte sie nichts zu tun haben, und auch U., unsere Kusine, hatte als uneheliches Kind der Stieftochter keine Schnitte bei der strengen Frau.

J. wohnt immer noch im großelterlichen, 150 Jahre alten Haus mitten in der Stadt. Dort ist es eng und das Wohnzimmer, als herrschaftliches Zimmer zur Straße gerichtet, was leider nach Norden, bedeutet, worein niemals die Sonne scheint, ist zudem mit langen Gardinen bedacht, die Möbel sind noch von damals und U. berichtet, dass sogar der Nippes der letzten Jahrzehnte unverändert an gleicher Stelle steht. J. hat Kuchen, den ich fast ganz allein esse und auch der Kaffee ist sehr lecker, das ist ja Tradition in unserer Familie. Tradition ist auch das aufbrausende Naturell, schon die Sendung einfachster Ausdrücke birgt Gefahr, als Reizwort bei J. anzukommen, worauf er sofort nabeloh wird und lauthals kontert, mit irgendwas. Wenn man es nicht persönlich nimmt, ist es wie bei einer Satiresendung, bei der man sich auf der richtigen, lachenden Seite wähnt, sobald man aber nicht aufpasst, bleibt einem das Lachen im Halse stecken, wegen der ganzen schlimmen Wahrheit, die drinsteckt.

Was wäre die schlimme Wahrheit bei J.? Ich kann es nur ahnen. Wir reden über Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, über Gott und die Welt. Er öffnet sich mir nur langsam, aber dass er es kann, macht mich froh. Er hat auf Ehe und Kinder verzichtet, die zu pflegende Mutter und der behinderte Bruder waren ja Familie genug, niemals hätte er beide im Stich gelassen, und die einzige mögliche Partnerin kam damit nicht klar und verließ ihn. Ebenso sehe ich einen älteren dicklichen Mann, der Ähnlichkeit mit meinem Vater hat, mit mir in seiner krumpeligen Küche sitzen, der schlau und belesen ist, kultiviert, mit einem großen, liebevollen Herzen, das mich zu Tränen rührt.




Sonntag, 7. April 2019
Gestern wiederum haben wir die Mutter der Busenfreundin zu Grabe getragen, sechsundachtzigjährig. Gibt es vielleicht eine Reihung, an deren Ende mein Mütterlein steht? In einem Traum sehe ich mich mit Frauen zusammensitzen, einige lebendig, andere tot, ich kenne nicht jede. Mir scheint, wir diskutierten darüber, wer als nächste dran sei. Mama weigert sich, ungehalten wie immer, wenn man aufs Thema Sterben kommt. In einem anderen Traum liegt eine weißhaarige Frau, die wie Jane Goodall aussieht, das ist die mit den Affen, auf einer Liege, sie hatte bereits die Stickarbeiten für die unteren Chakras angefertigt, nun würde sie bald mit dem sahasrara abschließen, das ihren Scheitel schmücken sollte. Ich beugte mich über sie, streichelte über ihr Haar und sagte, ich freue mich so für Sie.

Mit Gesang, Blumen und leierndem Pastor ging die Trauerfeier nur so an der Busenfreundin vorbei, wie sie später berichtet. Sie hat so ihre Art, die Busenfreundin. Vorher, im Elternhaus, bittet sie mich, durch Flur und Wohnzimmer zu saugen, unterm Flokati in der Sofaecke entdecke ich ein Mottennest, und überhaupt steht alles mit Kram zu, ein leises mein Gott, wie sieht’s denn hier aus entweicht mir mutlos. Die Kerzen müssen in ihren Ständern ausgetauscht werden, wovon eine gleich wieder umfällt, wenn das hier alles abfackeln würde, hätten wir ein Problem weniger, stänkert einer der beiden Brüder. Sie waren mir einst sehr lieb, besonders B., mit dem ich mal geknutscht habe, vor Jahrzehnten. Wir waren gestört worden, als unten am Haus ein Müllhaufen in Brand geriet und die Feuerwehr uns mit lautem Getöse ans Fenster zum Zugucken lockte. Wer weiß, was aus uns geworden wäre. Später gründete er eine andere Familie und jetzt macht sich eine Blutkrankheit über seinen Körper her, ich habe aber noch etwas Zeit, versichert er mir.

Neben den vielen Gesangsgefährten und -schülern der Mutter sind auch Freunde der Busenfreundin gekommen, die ich noch aus unseren WG-Zeiten kenne. D. begrüßt mich, kurz nachdem der Sarg ins Fach gesenkt wurde und knüpft gleich mit ihrer, seit unserem letzten Zusammentreffen vor 20 Jahren weitergeführten Lebensgeschichte an. Ihre story ist ein einziges Drama, OPs an der Wirbelsäule, Lähmungen, eine katastrophale Ehe und die Tochter mit diversen Suizidversuchen, jahrelang in der Psychatrie lebend. So wie sie berichtet, mit einem zur Seite gezogenen Lächeln, wirkt das sehr lustig, und als wir bei Kaffee und Butterkuchen im Gemeindesaal endlich zum Thema ungelebte Sexualität kommen, setzt sich auch H. dazu, der Busenfreundin allererster Freund und es wird noch heiterer.

Tatsächlich, diese Beerdigung war wie ein schneller Rausch, die musikalisch-künstlerisch getränkte Trauergemeinde bestand aussschließlich aus über 100 sehr besonderen Menschen, von denen jeder einzelne den Versuch, sich irgendmöglich in den Vordergrund zu spielen, nicht ungenutzt ließ. Es war auf eine andere Art liebevoll, intellektueller, und ja, lustiger.

In meiner kleinen Herzenskammer blieb ich allein. Und ruhig, mit einer ganz eigenen Trauer und Sehnsucht. Denn meine persönlichen Dramen liegen größtenteils hinter mir, und bald ist auch die letzte Stickarbeit, die das Kronenchakra darstellen wird, beendet. Ich freue mich so für Sie.




Mittwoch, 3. April 2019
Als ich die Mutter an ihrem Platz im Tagesraum aufsuche, erkennt sie mich nicht. Erst nach meinem mittlerweile üblichen hallo Mama, ich bin’s, Krabbe öffnet sich ihr Blick. Lass uns raus in den Garten, sag ich, das Wetter ist schön. Sie wirkt verwirrt, sie müsse doch bleiben, es sei Kindergeburtstag, jemand müsse doch für alle sorgen, nämlich sie. Ich schaffe es, sie aus dem Raum zu diskutieren, sie ist heute ausnehmend sprachgewandt, mit mehrgliedrigen Sätzen bedenkt sie das Gespräch, das sich allerdings weiter um den Kindergeburtstag dreht, die säßen da alle wie die Ölgötzen, man könne sie doch nicht allein lassen, sie hält wirklich alle Mitbewohner für Kinder. Und, weinerlich, jemand hätte sie barfuß aus dem Schlaf gerissen, und ich gehe auf jedes Wort ein und versuche zu entdramatisieren, aber sie ist argumentativ stark heute, die Syntax stimmt, denke ich, Syntax, und bin fast ein bisschen Stolz auf sie.

Dann schaffe ich die Wendung, nachdem ich sie von aller Verantwortung für wen auch immer, ebenso für Vergangenes und Zukünftiges freigesprochen habe, die Kinder können auch mal allein spielen, ja, ich wäre ja immer auf der Seite der Kinder, das würde sie nochmal überdenken, meine Güte, ist das anstrengend, die Wendung jedenfalls kommt, als ich auf ihren Geburtstag hinweise, am 15. April, und ich brächte dann Zitronenkuchen mit, und den äßen wir ganz allein! Sie lacht.

Darüber musste ich lachen, sagt sie, irgendwie erstaunt über sich selbst. Wir warten, bis die Wolke weg ist, und die Sonne warm auf uns scheinen kann. Das ist schön.




Dienstag, 2. April 2019

Aus meiner Foto-Serie Typografie zur Trauer




Unser Cousin M. („J., du musst noch schucken!“) war vorletzte Woche mit fast 70 gestorben. Sein Bruder J. war und ist immer noch unströstlich – ich habe schon lange niemanden so sehr weinen gesehen. Letzen Dienstag haben wir M. auf seinem letzten Weg begleitet, mit Blumen und noch mehr Tränen, auch meine liebe Base U. war gekommen und ihre Tochter S., die beide seit der Beerdigung unserer Tante vor vier Jahren die mir liebsten Verwandten wurden.

Wie schön es war, gemeinsam mit U. und S. unseren Vetter J. zu stützen! Meine Hand auf seiner Schulter, wärend er vor Weinen bebte, tröstete vielleicht mich am meisten, aber das Leben eines lieben Menschen und den Abschied von ihm, der sicherlich aus dem Himmel zuschaute, mit Trauer zu würdigen, empfand ich als mindestens voller Gnade.

Wir waren bereits eine halbe Stunde früher in der Kapelle, womöglich ein klassizistischer Bau mit gemaltem Mamor, saßen still und warteten. Man konnte den Raum erlauschen, oben eine Kuppel, die mit einem Schriftband zu den Mauern hin abschloss. Auf dem Band Bibelstellen, dass der Mensch zum Fleisch, also körperlich wird, und auch ein bisschen Erbsünde klang an. Natürlich. Dieses Schriftband nun bannte weitere typografische Kräfte – vorher nämlich sank mein Mut, als ich nach vorn zum Sarg ging. M. hatte einen großen, sehr bunten Kranz aus allen zur Verfügung stehenden Primeln anfertigen lassen, woran eine dieser Schleifen befestigt war, breit, seidig, mit schwarzer Borte. Ich las Mach´s gut mein Freund und schauderte. Genauso stand’s dort, ohne Punkt und Komma und dazu noch mit Deppenapostroph. Jeder pietätvolle Gedanke wich endgültig aus mir, als ich feststellte, dass diese kleine, freundlich und liebevoll gemeinte Zeile in Comic Sans gesetzt war!

So stand es um mich, lieber Leser (und ich muss mich wohl für diesen Text entschuldigen, der zudem noch mit Stilkritik betitelt ist). Während wir nun saßen und warteten, ging bestimmt mindestens die Hälfte meiner Trauerarbeit zu der imaginären Szene, in der der Bestatter oder einer seiner Lehrlinge solch eine Schleife erstellen, vielleicht wird das alles am Rechner gemacht, in Word, und dann auf die Schleife geplottet oder wie auch immer, jedenfalls hat jemand seine Arbeitszeit, einen Teil seiner Lebenszeit gegeben, um … hier versagen ihr die Worte und sie verschwindet schluchzend im off




Montag, 4. März 2019
Im Traum bin ich in Indien, auf der Kumbha Mela. Ich bin jünger und schlanker und einen Kopf größer als im realen Leben, und so kann ich die ungeheure Menschenmenge überblicken, deren Teil ich bin, ob ich Mann bin oder Frau, weiß ich nicht, wohl beides, ich trage ein orangefarbenes Beinkleid aus gewickelten Wollwebstreifen nach germanischer Sitte, eines meiner dunkelblauen Jungsunterhemden und mein langes Haar bildet einen Knoten, wie bei Shiva, dessem Haar der Ganges entspringt. Ein paar Schnüre liegen über den Schultern, mehr benötige ich nicht.

Ich bin ohne mein allzu direktes Einverständnis zum Swami geweiht worden, aber, denke ich, während ich still in der Sonne stehe, die gleichzeitig aus meinem Herzen zu kommen scheint, und meine Erscheinung genieße – ich wollte es ja ohnehin, aber später erst, sei es drum, der Zeitpunkt ist jetzt einerlei.

Ich stehe also still mit geradem Rücken über der Welt. Ich weiß nun endlich, es ist alles gut. Ich bin Swami und mit dem Ritual ist alles Karma gelöscht und es gibt nichts mehr zu tun für mich.

Ich bin frei.

Diese Freiheit spüre ich in jeder Faser meines Körpers und in allen Gedanken – die sich nun hier erübrigen, denn – ich bin frei.

Ein älterer Hindu verbeugt sich vor mir, dem jungen Swami, im Begriff meine Füße zu berühren, das kann ich nicht zulassen, denn Swami sein, bedeutet ja erstmal nicht viel. Ich muss lächeln, wie süß das Gefühl sein muss, verehrt zu werden, durchschaue aber sogleich jede Anwandlung von Eitelkeit und Hochmut.

Auch davon bin ich frei.
Denn ich bin frei von allem.