Mittwoch, 24. Februar 2016
Mal was Kleines schreiben, entgegen der großen Gefühle über Leben und Tod. Zum Frühstück selbstgebackene Haselnuss-Schoko-Plätzchen mit einem großen Getreidekaffee. Ein bisschen lesen, was die anderen machen, die Damen Montez und Wunderkarte, die Herren Kid und Schneck. Sich darüber freuen, dass der Computer so gut funktioniert und systemisch auf dem aktuellesten Stand. Ein bisschen arbeiten, die neuen Programme ausprobieren. Warten bis die Sonnenstrahlen am Bildschirm vorbei sind, dann fang ich an.
Stille.




Mittwoch, 3. Februar 2016
Eine sonderbare Gefühllosigkeit hat mich erfasst, eher noch eine Abwesenheit von dramatischem Empfinden, vielleicht könnte man es auch schlicht Ruhe nennen (ich kenne mich da nicht mehr so aus). Es ist äußerst angenehm. Obschon die Angenehmheit ja auch wieder Gefühl ist. Vielleicht hatte ich das bloß lange nicht, nicht mal das Schwelen ist mehr da, das mich die letzten Monate oder Jahre begleitet hatte – von zu erwartendem Telefonklingeln incl. Katastrophennachrichten oder der Vorstellung von vergeigten Arbeitsbeziehungen 2015 (Web/SEO/arsch). Also, ich räume auf.

2015 war auch das Jahr der spirituellen Krise. Mein Lehrer, mein Swami hatte im Sommer seinen Körper verlassen. In so einer Facebook-Gruppe wurden Bilder seines aufgebahrten Körpers verbreitet. Wir im Westen sind ja nicht so vertraut mit dem Anblick von Toten und auch hier waren es nur Bilder. Und Filme. Am Ende großartigster Zeremonien wurde der Körper mit einem beinahe abfälligen Schubs im Ganges versenkt. Man sollte ja frohlocken, wenn ein Meister sein mahasamadhi erreicht, aber mir war sterbenstraurig zumute. Ich klickte mich durch das unerträgliche Bildmaterial und heulte vor mich hin.

Nun, Anfang Februar, beginnen die Vorsätze und die Pillen zu greifen. Die Ayurvedin hatte ich wieder aufgesucht, den seit Monaten (oder Jahren) schmerzenden Ischias wollte ich doch lieber von ihr behandeln lassen. Dabei gelernt, das das Gesundheitswesen in Deutschland nicht gesund machen kann. Vielleicht will es das auch gar nicht, wer weiß. Die mickrigen sieben mal 20 Minuten Physiotherapie wurden nur ungern auf zwölf aufgestockt und kaum hatte man sich halbwegs eingefunden und warmgelaufen, war die Behandlung schon vorbei. Später habe ich mir dann köstliche ayurvedische Massagen geben lassen mit viel Öl und den Körper mit Nährstoffen überflutet.

Bin jetzt auch im Bilde, wie das Sozialwesen funktioniert, oder dass es nicht funktioniert. Eine meiner beiden Azubis hat die Ausbildung abgebrochen, es ist wirklich ein Problem, wenn man eine Ausbildung derart nachgeschmissen bekommt und sich kein Stück dafür anstrengen musste. Na, dann fange ich doch was anderes an, wenn ich hierauf keinen Bock habe, das Amt wird schon zahlen. Die Buddhistin, mit der ich bei der Diakonie zusammenarbeite, schreibt ihren Bachelor darüber, dass underdogs vom System selbst als underdogs gehalten werden, und wie bedürftig die soziale Arbeit überhaupt ist.

Über/hinter/unter alldem die kleine Mutter. Nach Hüft-OP, leichtem Schlaganfall und einer bedrohlichen Magen- und Darmerkrankung vorletze Woche (Mama, wenn du nicht trinkst, bist du in drei Tagen tot – dass ich sowas mal zu jemandem sage – ) ist sie wieder obenauf, sie erzählt mir tausend Begebenheiten im Heim, die Karnevalfeier hätte ihr gefallen, sogar ein Hütchen hat sie aufbekommen. Ein Hütchen. Wir grinsen uns an. Ich bin heute wirklich überhaupt nicht besorgt. In den letzten fünf Jahren hatte ich mindestens 50 Mal gedacht, sie stirbt jetzt gleich, nun isses soweit, wahrscheinlich zermürbt das den Geist, der das Sterben als gefühlsbeladenes Bild schon tausendmal vorweggenommen hat, und irgendwann glaubt man nicht mehr an den Tod. Ganz einfach.




Montag, 11. Januar 2016
Nicht mal mein login weiß ich noch auswendig. So schwindet alles. Auch die Mutter. Was denn mit Papa sei, ob der mal vorbei käme? Der ist doch schon gestorben, sage ich letzte Woche freundlich. Und heute fragt sie nach Annemarie, meinst du deine Schwester, Mama, die ist lange tot, und deine anderen Geschwister auch. Aus einem verzweifelt verzerrten Mund ruft sie: das kann doch nicht sein! Ein bisschen weint sie. Ich versuche, ihr alles zu erklären. Ein update sozusagen. So als machte sie ab und zu ein paar Stippvisiten aus der Zeitlosigkeit in unser Kontinuum, in dem plötzlich nichts mehr stimmt. Dann, mit etwas schärferer Stimme: Was ist hier eigentlich los? Kannst du mir das mal erklären? Einen Moment falle ich drauf rein, und befürchte, dass sie wütend wird. Also noch mehr Geschichten aus dem damaligen Leben, denn sie befindet sich ich weiß nicht wo. Der hat doch ein kleines Haus gebaut. Ja, da habt ihr zusammen gelebt, da bin ich aufgewachsen. Ob sie schon einen frischen Körper in einem anderen Leben hat und hier noch ist, damit ich an ihrem Bett sitzen kann, oder mit ihr liegen kann und ihr Gesicht streicheln, ihre Hände massieren, ihr tausend mal sagen, wie süß sie ist, sie ist die allersüßeste Mama, die es verdammt nochmal überhaupt gibt.

Ich hätte gedacht, ein Sterben mitanzusehen, wäre schlimmer. Dass ich immer weinen müsste, so wie jetzt, weil ich schreibe. Wenn ich aber bei ihr bin, seit dem Schlaganfall jeden Tag, bin ich ganz ruhig und eine nicht geahnte Freude ist in mir und Kraft. Möglicherweise bin ich die einzige, die sie nicht festhält und am Wunder ihres Vergessens teilhaben darf. Sie blendet sich aus ihrem Leben aus, wie sie's sich gewünscht hat und ich darf dabei sein und alles wahr finden, was ich gelernt habe. So klein und unwissend kommt man ins Leben und muss alles Lernen, auch sie hat das, und nun sagt sie mir Sachen, ich wäre die Zärtlichste von allen. Ich weine ein bisschen und wische über die Tränen mit dem rauhen Wollpulli. Ihr Zeigefinger streicht um meine Augen herum. Als ich erzähle, was für dunkle Augenringe meine Nachbarin hat, so huuh, lachen wir beide. Ich kenne dich schon mein ganzes Leben, sag ich, und wir sind uns immer so nah gewesen, ein nahes Leben, sie schaut mit ihren großen graugrünen Augen direkt in mich rein, lange, und wie immer denke ich, jetzt ein letzter Atemzug, aber bisher hat sie immer weiter geatmet. (Und ich weiß nicht, ob ich bei jenem dabei sein möchte. Und immer noch kann ich mir nicht vorstellen, dass sie eines Tages wirklich aufhört.) Und noch eine Woche und noch ein Monat, was für ein Jahr das war! Was für ein Leben mit ihr! Was für ein langer Abschied. Aber auch ich vergesse – was war, wie schwierig beide Eltern, wie unglücklich ich mit ihnen – und habe nur noch Liebes für sie übrig.




Samstag, 14. November 2015
Ist im Frühjahr sechs Jahre her, dass ich nicht mehr in der Band spiele. Keine Reue. Heute das erste Mal, dass ich sie sehe. Immer noch keine Reue, aber ich erkenne das Gefühl von Gemeinschaft und Aufregung, das ich damals hatte. Ich am Bass – ein bisschen hochgestapelt, der jetzige Basssist kann das viel besser, er gibt sogar Melodien, während ich mehr oder weniger vor mich hingeachtelt oder -geviertelt hatte. Der zweite Gitarrist macht die Songs lebendiger, drei der Stücke kenne ich noch und die neuen Sachen gefallen mir auch, aber ich nähre mich bloß von der Erinnerung des Gefühls, das jetzt lange hinter mir liegt. Ich höre nicht mehr gerne Musik, fast gar nichts, und oft, wenn ich irgendwo bloß eine Zeile oder bekannte Sequenz höre, dudelt es in mir weiter über Tage, unerhebliches Zeug und nervig in seiner Schleife.

Es ist vieles aus Bildern gemacht. Eine Bassistin sein, bewundernde Blicke bekommen, und vielleicht sogar cool gefunden zu werden. Damals hätte es mir viel bedeutet, obschon wir in keiner Weise bekannt waren, irgendwie lokal, höchstens. Der Rückblick befremdet mich, ich verteile Lob, stelle meine leere Bierflasche zurück auf den Tresen und gehe ohne mich zu verabschieden nach Hause.




Dienstag, 1. September 2015
Heute hätte ich Mama zu Hause angerufen, sie wäre von ihrem Sessel hoch, hätte das Telefon genommen und ich hätte ihr aufgeregt erzählt, wie mein erster Arbeitstag als Ausbilderin war. Sie hätte mich ermutigt, hätte mir zugestimmt, mit mir gelacht und mich beschwichtigt, wenn nötig. Ich hatte so ein großes Bedürfnis in ihre Arme zu sinken und mich tragen zu lassen. So sollte eine Mutter sein. Dieser Impuls, dieser Wunsch, sie anzurufen und dass alles so wie früher sei, Perserteppiche unter ihren Füßen, Gardinen vor dem Fenstern und nebenan die Küche, brachte mich beinahe zum Weinen.

Statt dessen sehe ich mich mit ihr auf der Bank sitzen, gestern abend, sie lehnt ihren Kopf an meine Schulter, wir haben zwei Kissen unter, die Bank steht ein wenig abwärts und mein Ischias tut weh. Die Bank steht schräg im Garten des Stifts, in dem sie nun wohnt, vielleicht nicht für immer, wer weiß, wir sind still und beobachten die Kaninchen, die sich gegenseitig jagen. Ich streichele ihren Arm und ihren Kopf, als wäre sie mein kleines Mädchen.

Eine Gutachterin vom medizinischen Dienst war wieder bei ihr, diesmal gibt es neue Phrasen, Alltagskompetenz stark beschränkt, nimmt ihre körperlichen und seelischen Bedürfnisse nicht wahr, ich finde mich in meiner Rolle als die Stärkere noch nicht zurecht. Dazu habe ich jetzt zwei Auszubildende, denen ich Vorbild sein soll, und so manches Mal an diesem Tag weiß ich nicht, wie das gehen soll.

Die Katastrophe war nicht ganz so groß, Mama war im Keller gestürzt und lag, als meine Schwester ankam, mit Blutergüssen übersät, im Bett, sie hat keine Erinnerung, wie sie aus dem Keller hochkam, auch nicht an die Woche im Krankenhaus und nicht, dass Dudi und ich sie in der Woche danach gepflegt hatten. Es macht mich fertig, dass ich mich nicht erinnern kann, ruft sie, und wir berichten ihr mehrmals. Dudi und ich beschließen, dass sie nicht mehr allein leben kann, und ich finde noch vor dem Wochenende ein Heim in meiner Nähe, 15 Minuten mit dem Rad, wir ziehen mit ihr um, packen heimlich Sachen zusammen aus Angst, dass es ein Drama gibt und weil wir nicht wissen, was sie überhaupt mitbekommt. Während der Fahrt weint sie eine Weile bitterlich und es will mir das Herz zerspringen, dann wieder wendet sich die Stimmung, der Bildhauer macht einen lieben Witz und wir lachen.

Ihr Zimmer ist zweckmäßig und doch gemütlich mit Erker, in den am Mittag die Sonne scheint, Dudi breitet sich schon in Mamas zukünftigem Bett aus und will am liebsten bleiben. Die mitgebrachten Lampen versprechen Heimeligkeit, draußen fährt die Straßenbahn vorbei, die zu betrachten bald zu Mamas Lieblingsbeschäftigung wird. Vergessen sind die bösen Vorwürfe, ihre weltfernen Vorschläge, wir könnten doch alle zusammen im Elterhaus wohnen und von ihrer Rente leben. Vergessen auch die Unmengen von Lebensmittel, die ich wöchentlich besorgt und in der nächsten Woche wieder weggeworfen habe, sie hat eigentlich kaum mehr was gegessen. Jetzt beginnt der dritte Monat ihres Wohnens im Heim. Und jetzt erst kann man sagen, dass wir alle langsam zur Ruhe kommen. Wie gut das Abgeben tut.




Donnerstag, 21. Mai 2015
Emsiges Arbeiten, große Lust am Schaffen, neue Berufsaussichten für den Herbst: Ich werde Ausbilderin. Ich möchte mich außerdem nicht weiter mit dem Irrsin von responsivem Webdesign auf 800 verschiedenen Screenformaten auseinandersetzen, und die Leute rennen dann rum mit ihren Mobiltelefonen und laufen überall gegen. Das kann doch nicht das Ende des Netzes sein. Gegen G**gle anformatieren, eine kleine Revolution von unten, abgesprochen mit der Gärtnerin, die ebenfalls irre wird vom quelltexten.

Die Bürokollegin macht weiter in Leder und animiert mich dazu, meine Fotos von den Waldläufen mit dem Bildhauer zu verbloggen und ihm bzw. uns eine künstlerische Plattform zu schaffen. Wäre doch schön, wenn meine Bilder auch mal irgendwo zur Ansicht hingen und einzwei Leute kämen schauen.

Die Mutter ist noch kleiner, auch ihre Stimme, aber es geht ihr gut. Ich stopfe alle Nahrungsmittel in sie rein, die gehen, sie kocht sogar selbst wieder kleine Gemüsegerichte. Wir mögen diesen kühlen Frühling und ihre Nachbarn haben auch endlich die Baggerarbeiten beendet. Wie lange braucht man denn für eine Gartenmauer? Sechs Wochen? Dauert so lange nicht ein ganzes Haus?

Ja, das Leben überhaupt dauert. Und ich bin froh darüber.




Samstag, 16. Mai 2015
So als würde die Persönlichkeit verschwinden zugunsten einer Beobachterin, die wahrnimmt ohne zu bewerten. Die Aufgaben meistert und Resultate gelassen nimmt. Es gefällt mir, wie die Schwere nachlässt – ja, da ist noch Gefallen, warum auch nicht. Und als wollte ich Vergangenes auslöschen, werfe ich ein letztes Mal den Diaprojektor an und betrachte hunderte Bilder, wähle nur einige aus jedem Magazin zur Bewahrung aus, vornehmlich Portraits von lieben Menschen, die man vielleicht in zehn Jahren gern noch einmal ansieht, vielleicht aber auch nie mehr. Die anderen kippe ich aus in eine Plastiktüte – später werde ich ein Räucherstäbchen anzünden, wenn ich sie in den Müll bringe. Als nähme ich einen Abschied vorweg. Und bleibe doch, befreit.




Dienstag, 24. März 2015


Viel Freude macht trotz allem die Beobachtung der Bienen, die jetzt, wo's wärmer wird, endlich schlüpfen.




Neulich ist die Mutter gefallen und lag die ganze Nacht auf dem Boden. Sie wollte unter der Spüle nachschauen, warum dort Wasser ausläuft, hat wohl das Gleichgewicht verloren und ist rücklings mit dem Kopf an den nächsten Schrank gestoßen. Sie hatte keine Kraft allein wieder aufzustehen, ist in unser ehemaliges Kinderzimmer gerobbt, hat sich dort in die Flokatis eingerollt und dort geschlafen. Jede Stunde hat sie versucht hochzukommen, dachte wohl, gleich, gleich geht es, und so verging die Nacht, bis ich morgens anrief und, nachdem ich sie nicht erreichte, den Nachbarn losgeschickt habe; der fand sie in dieser peinlichen Lage, half ihr auf, und obwohl sie das Problem abwiegelte, machte ich mich nebst Bildhauer auf den Weg zu ihr in die Heimatstadt. Etwas Pflege, etwas essen, Gespräche. Ihr ganzer Körper würde schmerzen, da ich aber keine blauen Flecke fand, denke ich, dass sie Muskelkater hatte von der Mühe beim vergeblichen Hochstemmen.

Jetzt sind die Schmerzen fort und mittlerweile trägt sie einen Notfallknopf am Handgelenk. Das entschärft die Sorge aber auch nur minimal, denn auf Nachfrage bei den Johannitern, ob auch ich sie im Notfall anrufen könne, erwidert man streng, nein, das sei ja ein Notfallknopf, den könne nur die Inhaberin selbst auslösen. Also wieder alles nicht so einfach wie gedacht: Schlüssel hinterlegen und einfach mal zum Nachschauen vorbeischicken, falls Mama nicht ans Telefon geht. Hoffen wir, dass sie sich traut zu drücken.

Ich habe immer mehr den Eindruck, dass sie Abschied nimmt. Wie klein sie ist, 46 Kilo wiegt sie und die Kraft kommt nicht mehr zurück. Trotzdem will sie weiterhin allein im Haus leben und irgendwie geht es ja auch. Na, Träumerle, frag ich, woran denkst du?, wenn sie wiedereinmal ins Leere schaut. Sie denke an den Tod und dass sie sich nochmal alles richtig ansehen müsse. Am nächsten Tag reißt dieser Satz an meinem Herz und mir laufen, wo ich auch bin, die Tränen.

Ich hab gedacht, es wäre einfacher, sie gehen zu lassen. Du musst nicht traurig sein, wenn ich sterbe, sagt sie, und ich behaupte, ich sei es auch nicht, ich würde nur nicht wollen, dass sie am Ende noch vor sich hinsiechen müsse. Das glaube sie nicht, sagt sie schlicht, und ich denke, das stimmt.




Freitag, 27. Februar 2015
Traurig bin ich, als ich von Mama zurückfahre. Habe zwar das Rad dabei, auf dem mein Blick die ganze Zeit ruht, der Details des Rahmens verfolgt und der mechanischen Elemente, so als könne dies die Rätsel der Welt lösen. Als wir zum Markt los sind, war es schon zu spät, ich weiß ja, dass wir mittlerweile für den Zehn-Minuten-Weg eine halbe Stunde brauchen, immerhin geht sie noch, aber fast muss sie weinen jetzt kann ich fast gar nicht mehr gehen, buchstäblich alle fünf Meter halten wir kurz, damit sie Kraft schöpfen kann. Ich muss sie drängen, um eins schließen die Stände, um viertel vor beschließen wir, dass ich allein weiter gehe und sie auf der Bank vorm 3.-Welt-Laden auf mich wartet. Wie üblich kaufe ich Frisches, in dieser öden Stadt gibt es sonst keinen Laden mehr, man muss raus aufs Land zu Edeka oder einer dieser Ketten, wo es nur Blödessen gibt und ich hab kein Auto. Ich könnte noch zum Bioladen gehen, der ist in okayer Spazierweite, aber Dudi sagt, Mama müsse ja nun kein teures Biofood mehr haben und kauft ihr immer Fertiggerichte von Penny, die ich dann nach Wochen wegwerfe.

Ein großer graugestromter Kater hatte sich in der Zwischenzeit zu Mama auf die Bank gesellt und lässt sich von ihr durchstreicheln, sein übergroßes Bedürfnis nach Nähe finden wir extrem niedlich, achtet er doch so gar nicht auf coolness, wie es sich für einen Kater seiner Statur gehören könnte, auch hat er einige Kampfesspuren am Ohr, ein gefährlicher Typ, aber er biedert sich an und wirft sich wieder und wieder an ihre Hüfte und genießt die Zärtlichkeiten ohne Hemmungen.

Unsere wöchentliche Tour führt uns weiter zum Mittagessen, abwechselnd zur Hausmannskost auf dem Dach des Kaufhauses, zum Indischen oder zum Fischbäcker, wo wir lange sitzen und viel reden. Danach Blumen kaufen, Banksachen erledigen, zur Marienstatue in den Dom, Kerzen anzünden und ein bissel beten. Weiter mit dem Taxi nach Hause, für den Rückweg zu Fuß reicht die Kraft schon lange nicht mehr. Daheim wird gebadet und geölt, dann gibt es Tee mit Kuchen vom Marktbäckerstand. Die Bedürfnisse, der Hunger, sind kleiner geworden, das Essen schmeckt nicht mehr besonders, aber das Süße mundet wohl. Ich setze sie, frisch gebadet, geölt und nackt, in Laken und Decken gehüllt, in ihren roten Sessel, stelle einen kleinen Tisch daneben und sie bedient sich und lässt sich von der Sonne bescheinen. Dort guckt eine kleine Schulter raus, ein Schlüsselbein, die Haut ist weiß und zart, und wer wollte, könnte da noch viel Liebreizendes entdecken.

Bis auf weiteres verknotet.

Am Abend fahre ich zurück, das Rad mit in der Bahn und mein Blick liegt auf den silbernen Speichen und dem großzügigen Profil der Reifen. Ich bin traurig, es gibt aber keine Worte oder keinen besonderen Grund, und ich will auch keine finden, ich hatte sowieso zu viel gegrübelt in den letzten Tagen, über die Arbeit an Webseiten, die ich nicht selbst konzipiert und gestaltet habe (Notiz an mich: das mache ich nie wieder), ob mich eine Beziehung spirituell weiterbringt oder über den Kapitalismus, der immer und immer weiter so macht, ich will das nicht mehr verstehen müssen und krieche todmüde ins Bett mit dem leisen Ruf: Lasst mich doch in Ruhe mit euren bescheuerten Webseiten!

Vorher hatte ich noch einer dieser schönen wissenschaftlichen Sendungen gesehen, die die These verfolgten, die Tierzeichnungen in Lascaux seien aus bzw. um Formen diverser Sternbilder gebildet, und ich wünschte mich direkt ins Neolithikum, allein, nichts anderes als den Sternenhimmel betrachtend oder den Mondverlauf und auf einem Knochenstück mit Punkten einen Kalender eingravierend. Vielleicht auch zu zweit, vielleicht mit dem Bildhauer, der ja Ähnliches tut, wenn er aus der Natur Formen erschafft. Hinweg die Frage, ob man zu zweit sein muss, die würde gar keine Rolle spielen, einfach weil wir zu zweit wären.




Mittwoch, 18. Februar 2015
  • Auf dem Sofa, lesend. Der Bildhauer hatte zu Weihnachten von seinen Mäzenen eine riesige Wolldecke bekommen, die ein Prinzessinnenbett abzudecken vermag, oder eine Jurte, und weil er aber Wolle nicht so gut am Körper haben kann, ist die Decke jetzt bei mir. Auch wenn man sie doppelt legt, ist sie immer noch groß genug für mich und so warm, dass ich mich bei Minusgraden und offenem Fenster nackt darunter verkriechen kann. Jetzt also lesend, bei einem starken Milchkaffee und einem Riegel Bitterschokolade.
  • Wir lesen uns gerade gegenseitig 1913 von Florian Illies vor. Als ich neulich länger schlief, hatte der Bildhauer sich einen Vorsprung angelesen und den hole ich jetzt nach. Wie wunderbar: Die Hauptakteure der Moderne, allesamt junge Frauen und Männer mit erheblichen Macken. Schön geschrieben und sehr lustig. Sogar Franz Kafka: haha. Ich weiß noch, mit welch großem Ernst (hier würde der Bildhauer jetzt mit matter Stimme und hängenden Mundwinkeln Ernst Barlach sagen, haha,) also, mein Deutschlehrer hatte mir Leseratte Empfehlungen mitgegeben, und so las ich mich eifrig durch Kafkas Hauptwerke. Von dem Ernst bleibt jetzt nicht mehr viel, Kafkas weinerliche Briefe an Felice Bauer erscheinen nurmehr menschlich und, tatsächlich, irgendwie absurd komisch. Vielleicht, weil ich Ähnliches durchgemacht habe und die Welt besser begreife als mit 17.
  • Drüben in Nachbars Bäumen baut sich das Elsternpaar ein neues Nest, gleich zwei Meter neben dem alten, das sicherlich ziemlich zugekackt ist oder anderweitig nutzlos geworden. Wenn die im Sommer wieder blöd kommen und sich mit den Katzen zanken, kann ich immer noch mit der Zwille rüber, aber so weit komme ich sicherlich nicht.
  • Wie das Licht langsam durchs Zimmer streicht, sehr langsam. Unglaublich, dass wir auf so einem rasend schnellen Planeten hocken und doch sieht man die Bewegung nur, wenn man lange schaut.
  • Frohes Neues Jahr – der Ziege. Jetzt wird es sicherlich Frühling.