Donnerstag, 17. Oktober 2013


Die Lieblingschefin weist mich zurecht. Dreimal hätte ich den gleichen Fehler übersehen, was denn mit mir los sei. Es macht mich fertig, wie sie diese Frage immer stellt: Was denn überhaupt los sei? Weiß ich doch nicht! Plumpe Unachtsamkeit? Überhaupt alles plump. In der Agentur, die gerade umbricht, herrscht eine seltsame Stimmung, die sogar die sonnenbeschienene Laubfärbung draußen trübt, ich weiß, dass sie einige Kolleginnen zurechtweisen musste, sie sagt nicht wen, aber ich kann es mir denken. Sicherlich ist alles sehr schwierig und am Ende unseres Treffens stehen ihr die Tränen in den Augen. Ich könnte mal gleich mitweinen, aber jetzt bin ich es, die tröstet.

Vielleicht geht mir einfach das dauernde Steinegesäge und das Pflastergerüttel auf dem Gelände auf den Wecker. Vielleicht sind es auch die Kunden, deren Art zu arbeiten und Sachen vorzubereiten ich nicht verstehe. Umständlich, unnütz, und wahrscheinlich bin ich eine Besserwisserin, die Rolle stresst sowieso. Explosive Mischung aus Perfektionismus und Konzentration auf gänzlich Anderes, Weniges, Wesentliches.

Beinahe sage ich der Lieblingschefin, dass ich gar nicht mehr möchte (Rückzieher sind meine große Stärke), ich habe auch keine Lust zu erklären, wie es zu den Fehlern kam (der Server ist voll mit Müll und ich habe mich im Ordner vertan und dann noch statt b g, liegen ja auch dicht beieinander, wenn man's nachts um elf eilig hat). Sie redet weiter und ich höre zu, beobachte mein Herz, das sich zusammenkrampft, sie müsse sich auf mich verlassen können, wenn alles drunter und drüber geht, sie wolle nicht jeden Pups kontrollieren müssen, und ob überhaupt …, aber eigentlich wolle sie ja … Und ganz am Ende wollen wir beide wieder, weil wir um unsere schöne Verbindung wissen, und dann eben die Beinahetränen, als sie berichtet, wie der Lieblingschef sie dauernd hängen lässt und überhaupt dessen doofe Gattin und so weiter – wahrlich, sie hat um ein Vielfaches mehr am Hacken, als ich mit meinem Wunsch nach einem minimalisierten Haushalt. (Habe gelesen, dass sich Minimalisten gegenseitig mit Listen übertrumpfen suchen, wie wenig Gegenstände sie besitzen, 100 Dinge sollten es höchstens sein. Ich frage mich, ob das Besteck, Socken, diverse Werkzeuge und Geschirr schon dazugehören, das wären bei mir schon knapp 200, also fail.)

Was denn gerade so wichtig sei, könnte sie fragen. Hier die kurze Liste mit Wichtigkeiten:
  • mit der Mutter eine möglichst harmonische Zeit verbringen, wann immer wir uns treffen oder telefonieren
  • die dunkle Dauerwolke, die über mir schwebt durchlichten
  • Gesundheit erhalten
Listen sind doof, oder. Schreiben tut gut, auch wenn es so wirr scheint wie die Blätter, die von warmen Sturmböen getragen – verwehen.




Sonntag, 13. Oktober 2013
Und wieder frag ich nach dem Mitgefühl, was mach ich dann damit? Erstmal vor allem Mitgefühl mit dir selbst, antwortet die Buddhistin geduldig wie immer. Im Lokal, in dem ich noch nicht war, gibt es Kürbisschnitzel, alle bekannten Gesichter aus dem Stadtteil sind anwesend. Lecker, also die Schnitzel, panierte Schnitze vom Kürbis. Mitgefühl für die Ablehnung und die Wut. Spüren, was da ist, nicht immer weglaufen davon mit Psychologisieren der Situation. Ich weiß, ich weiß doch, aber es ist notwendig, es wieder zu hören, damit man sich nicht im Leben anderer Menschen verirrt. Hier selbst ist genug zu verirren.

Das passt.

Am liebsten hätte ich die Wohnung leer, damit mein Geist auch leer sein kann. Eigentlich könnten alle Bücher weg, aber dann hätte ich ein großes leeres Regal. Und die CDs, alle weg, dann wäre auch das Board, das mein erster Freund K. mir aus Palettenholz geschreinert hat, überflüssig. Gewachste Planken, äußerst schlicht, nicht allzu tief für Taschenbücher, Gebundene konnte ich mir damals nicht leisten. Und der letzte noch zu überdenken gewesende Beutel mit Altkleidern ist nun auch im Container, bitte keine Stoffreste, steht drauf, naja, es ist ein kleiner Rest Seide aus China mit drin, lass ich so. Was könnte man nicht alles recyclen, die Freundin der Buddhistin schneidert Gegenstände, die schon ein jeder besitzt, jetzt soll sie einen Etui-Prototyp aus alten Mountainbikereifen herstellen, irgendwie stecken da zu viele Leute mit drin, der Mountainbikefahrer, der Initiator, die Designerin, die Näherin, 32 Euro, damit alle was davon haben. Viel zu teuer, befinden wir, so wird das nichts mit dem Recyclinggewerbe. Es gibt ja auch Leute, die aus alten Büchern Landschaften schnitzen oder Skulpturen, dazu wäre ich zu faul, ich bekomme ja nicht mal die Beine der Bank abgesägt, Säge besorgen, Schrauben für die Rollen suchen, Rollen festschrauben, Kram wieder einräumen.

Das ganze Rumgeräume geht mir auf die Nerven. Im Geist ist Unordnung. Eine Freundin der Busenfreundin hat fast gar keinen Besitz, einen Tisch, auf dem nichts steht, einen Herd mit wahrscheinlich einem Topf, einen einzigen, höchstens zwei Stühle, so genau weiß ich das nicht, aber imponierend die Leere in ihrer Wohnung konträr zu ihrer unglaublichen Verstörtheit. Mir kommt mein Wunsch nach Besitzlosigkeit selbst etwas seltsam vor. Als dürfte ich nichts besitzen, das mich unnötig bindet. Als würde ich mich verabschieden auf eine lange Reise mit kleinem Gepäck, von der ich möglicherweise nicht zurückkomme. Oder als hätte ich keine Zeit, noch groß sesshaft zu werden. Oder eine Art Mitgefühl für die Menschen im meinem Leben, nah oder etwas ferner, deren Lebenszeit übersichtlicher ist als die meine, erwartete.




Donnerstag, 10. Oktober 2013
Noch nie so viele Sitzgelegenheiten rumstehen gehabt. Ich könnte endlich mal Gäste einladen und alle hätten Platz. Eine alte Truhenbank für die Küche, in der aller Kram Platz hätte, die Körbe, das Altpapier, die Flaschen mit den alkoholischen Getränken, die niemand trinkt, Dinge eben. Sie sieht in der kleinen Küche aus wie ein Monstrum, vielleicht die Beine absägen, 55 cm Sitzhöhe, wer denkt sich sowas aus? Zum Holzwurmscreening ein Schälchen mit Eicheln hinstellen, da fressen dann die Tierchen weiter, oder das Holz mit Zwiebel einreiben zum Vergrämen.

Ich bin auch vergrämt. Die Menschen vergrämen mich von öffentlichen Orten. Überall müssen sie ihre Geräusche machen und sich in meine Hirnwindungen reinfressen; mit der Mutter still im Dom gesessen, und wer muss gerade in dieser Viertelstunde hochhackig nach den Opferkerzen schauen kommen, dann hochhackig weg, um Neue zu holen, dann wieder hochhackig her und jede einzeln auf das Metallregal scheppern, und noch eine – und noch eine.

Ich weiß nicht, wo die Wut herkommt, die ist ja nicht erst seit dem misslungenen Retreat da. Zuhause wenigstens ist es friedlich, während möglicherweise holzliebhabende Wesen in der Küche vor sich hinfuttern, sitze ich still auf der Matte, halbe Stunde um halbe Stunde, momentelang bringe ich den Geist zum Schweigen, erreiche wieder diesen flow und wie das Mantra da in der Leere schwebt, ist bemerkenswert, die Zeilen vertauschen sich, ich bin mir nicht mehr sicher, ob sie überhaupt eine Reihenfolge haben, und tatsächlich, diesen namenlosen Zustand genießen als einen der bisher höchsten – ob es jemals ein Ziel, ein Ende dieses Strebens gibt? In der Theorie kenne ich die samadhis beim Namen, savikalpa oder nirvikalpa. Wie sich sich anfühlen … – es gibt keine rechten Worte für das mögliche Geschehen beim Rumsitzen.

Überhaupt ist Sprechen nicht das Wahre
(Punkt setzen und schweigend ab)




Samstag, 5. Oktober 2013


Das ist jetzt das soundsovielte Bild vom See, ich weiß. Ich brauchte Weite um mich herum, nachdem ich am Nachmittag vom buddhistischen Retreat mehr oder weniger geflüchtet bin, mit dem Fahrrad war ich am Morgen ins südliche Industriegebiet zum vietnamesischen Kloster gefahren, die ganze Strecke, der Morgen war noch neu, die Buddhistin sagte für den Freitag ab, nachdem sie die Nacht migränekotzend keine Ruhe finden konnte. Sie hatte vorgeschlagen, gemeinsam das Retreat zu besuchen, der Mittwochabend war einem Vortrag gewidmet und ab Donnerstag bis Sonntag sollte viel geübt werden, Sitz- und Gehmeditationen, unterbrochen von Mittags-, Tee- und Abendbrotpausen.

Ich bin erschüttert über die Welle der Ablehnung, die mich von innen überschwemmte, während wir so etwas Simples taten wie rumsitzen. Ich mag diese Menschen nicht. Nach kürzester Zeit fühlte ich mich in dem für 30 Leute viel zu kleinen Raum eingesperrt und mit dem Zwang belegt, bewegungslos sitzen zu müssen. Wie schwer fiel mir das, umgeben von rasselnden Atemzügen von rechts, pestartigem Mundgeruch direkt von hinten, Töne aus nicht abgeschalteten Smartphones, dummen oder aggressiven Fragen von seitlich, besserwisserischen Statements aus der letzten Reihe und allgemeinen Geräuschen, die Menschen nun mal so machen. Achtsamkeit. Wie in einem Käfig saß ich in meinen unheilsamen Gedanken und Fassungslosigkeit über die menschliche Natur (meine eingeschlossen) kroch in mir empor. Die Buddhistin berichtet später, sie hätte sangha nervt gegoogelt. Haha.

Ich versuchte, mich an den Lehrer zu halten. Ein Mönch aus Wien, Heimat Sri Lanka, gekleidet in eine dieser braunroten Roben, deren genaue Umwicklung ich zu ergründen suchte, wann immer der Mann sich bewegte und sie zurechtzupfte. Eine schöne Farbe, ebenso das Rot der großen Vase, gefüllt mit duftfreudigen Lilien, auf die am Vormittag ein Sonnenstrahl schien – ein Sonnenstrahl fiel, ein Sonnenstrahl lag. Verschobene Achtsamkeit.

Der kleine Raum unterm Dach ist Teil einer übertrieben verwinkelten architektonischen Idee, die hier in Beton ihre 70er-Jahre-Ausführung verbringt, um eine recht imposante Kapelle herumgebaut, die von großen goldenen Buddhas und Bodhisattvas nur so funkelt, unterstützt von extrem kitschigem Zubehör, Lampenbäumen zum Beispiel, auf Altären liegen Apfel- und Orangenpyramiden, Kinderschokolade, Rocher und diese schrecklichen weißen, viel zu süßen Kugeln der gleichen Firma. Man findet sogar eine Tüte Chipsfrisch und ab einem gewissen Zeitpunkt (meiner Genervtheit) frage mich mich, was genau passieren würde, wenn ich einen Riegel entnehmen würde. Würde der böse Buddha dort hinten in der Ecke auf mich springen, mir seine rote lange Zunge um den Hals legen und mit seinem Schwert den Kopf abhacken? Oder würde die gütige Version mir voller Mitgefühl zuraunen, sie wisse genau wie Zuckersucht sich anfühlt.

Anfangs noch wohlwollend, fiel uns die Lieblosigkeit im Kloster erst langsam ins Auge. Das Grundstück mitten im Industriegebiet wurde sicher äußerst günstig erworben, trotzdem würde der geneigte Besucher vielleicht einen kleinen Garten ersehnen, statt dessen ist das gesamte Areal mit diesen zickzackförmigen Betonsteinen gepflastert und als Parkplatz ausgewiesen, in den Pausen sitzen die Buddhistin und ich auf Waschbetonbänken zwischen Autos in der Sonne, schauen auf eine große goldene Figur, in gleicher Fluchtlinie ein fetter Mobilfunkmast mit rotem Lichtpunkt, oder ergehen uns in die nahe Umgebung Richtung Bahnlinien, komm, lass uns mal den Müll anschauen, schlägt die Buddhistin vor, da liegen Styroporplatten und verwitterte Möbel schon seit Jahrzehnten. Oder wir laufen durch die nahe Plattenbausiedlung und sie erzählt mir von ihrer Jugend in ebensoeiner.

Am Ende eines anderen steinigen Brachgeländes direkt neben dem Kloster finden wir plötzlich einen Palettengarten mit Salat, Kräutern, Kürbissen und einer riesigen Zucchini, die jemand auf zwei Styroporstückchen gelegt hat, damit sie trocken bleibt. Hinterm Stahlcontainer eine Hängematte mit Stockflecken und wir fragen uns, ob dieses winzige Bisschen Natur wohl zum Kloster gehört, ein Übergangslager für vietnamesische Kriegskinder, immer noch auf der Flucht wie unsere Elten.

Im Gebäude selbst begegnen uns gelangweilte Mönche und dieser typisch asiatische Schmutz, der üblicherweise per Wischmob von einer Ecke zur anderen transportiert wird und im Laufe der Jahre eine unansehnliche Speckschicht in bodennahen Ecken hinterlassen hat. Durch die Baderäume zieht ein blöder Geruch und die Türen quietschen bis in die hintersten Winkel, überhaupt diese ganzen Winkel, ich brauche eine Weile, bis ich mich zurechtfinde, zum Essraum geht man durch komische Flure ohne Funktion, die mit Kram vollgestellt sind, und der fensterlose Essraum selbst erstaunt mit fleckigen Plastiktischdecken in Neonlicht – allein die zubereiteten Gerichte sind lecker, soßiges Gemüse, Reis, frischer Salat und kleine Frühlingsrollen mit süß-saurer Chilisoße, deren Behältnisse wir zusammen mit Maggiflaschen in einer Kiste neben dem Gelände finden.

Soviel Hässlichkeit, der ich schlichtweg Unachtsamkeit unsterstelle, zerrt zusätzlich an meinen Nerven. Beim Sitzen spüre ich jetzt auch den linken Ischiasnerv und die Idee, das Retreat bald zu verlassen, gewinnt an Farbigkeit. Zum Mittag rufe ich die Buddhistin an, frage nach ihrer Migräne und deute an, dass ich heute beenden werde, weil ich von äußerst unschönen Gefühlen geplagt mich außerstande sehe, konzentriert dem Geschehen zu folgen und was das Ganze überhaupt soll. Ich sehne mich nach friedlichem Yoga, nach etwas Hatha für die steifen Gelenke, nach ayurvedischem Essen ohne Chemiesoße und nach profunder Philosophie, die meinem Wissensstand entspricht. Und ich sehne mich nach Erhabenheit, die aber will mir der Buddhismus ohnehin nicht schenken, kommt er doch ohne eine Gottesvorstellung aus, grübelt doch die Vipassana-Mediation in eigenem Gedanken- und Gefühlssud ohne Ausweg und die Samata-Meditation über dem Atem. Den bindu finde ich hier nicht.

Als ich ich mich am Nachmittag davonstehle, empfinde ich Scham. Die Perle dieses Geschehens werde ich aber sicherlich zu finden wissen. Einen Umweg fahre ich, zum See, der Blick auf sieben Hektar Wasserfläche soll mich trösten mit der Erinnerung an einen schönen Sommer unter einem luftigen Himmel.




Mittwoch, 2. Oktober 2013
  • wie die Sonne durch die immer noch grünen Blätter des Waldes fällt, und wie die Buddhistin und ich dort gehen, und wie uns in der Gaststätte des Aussichtsturms Gesprächslärm entgegenknallt,
  • wie die Lieblingschefin mir Fotos von meinem Blumenstrauß zeigt, den einzigen, den sie mit nach Hause genommen hat nach der Einweihungsfeier,
  • wie ich mit einem (mir unbekannten) guten Freund der Gärtnerin in lebhaftes Gespräch komme, und wie seine Partnerin ihn mit einem Kuss (als den Ihren) markiert,
  • wie buntes Licht durch die Glasfenster des Doms auf Mama und mich zeigt, wie wir dableiben für eine Weile,
  • wie mir im Taxi beinahe Tränen kommen bei I really wanna see you, really wanna be with you, really wanna see you lord, but it takes so long my lord, um uns der Abendhimmel,
  • wie sich der selbst gestrickte (und sofort Lieblings-)Pullover von innen anfühlt,
  • wie ich eineinhalb Stunden in der Stille sitze und wie ich das genieße,
  • wie die frisch gekochte Ghee duftet.
  • Und Nachtrag: Wie Julian und Sean Lennon heute aussehen.




Samstag, 28. September 2013


Später klart es auf und ich fahre zum See. Das Wasser wird zu kalt sein zum Schwimmen, aber ich nehme trotzdem ein winziges Handtuch mit, das in die Jackentasche passt. Es ist alles still dort, ein beinahe getrockneter Fußabdruck auf dem Holzsteg, das Gras der Wiese wieder grün, Abendfarben liegen auf den westlichen Bäumen, aber die Sonne schafft es nicht mehr ganz über den Wolkenrand.




Donnerstag, 26. September 2013
Langsam wieder aus dem Dunklen auftauchen und wenn ich mich ruhig verhalte, lässt auch das Herzstolpern nach. Jeder sattvische Gedanke löste Schuldgefühle aus – warum zufrieden sein (wollen), wenn es anderen Menschen schlecht geht. Nach einer Erlaubnis zum Glücklichsein fragen, wie absurd. Die Beschäftigung mit den Kriegskindern und den Kriegsenkeln hat mich mehr belastet als ich dachte. In Träumen der letzten Nächte habe ich weinen müssen. Jetzt aufhören, die Welt retten zu wollen. Lange Gespräche mit meiner Schwester Dudi über Vergangenes. Sie redet von moralischer Verpflichtung, während ich in größeren Zeiträumen denke, und trotzdem zeitweilig die Beobachterposition verliere. Das symbiotische Verlangen dieser Familie (dieses Lebens) ist sehr stark, Wahres und Falsches vermischen sich in äußerst irritierender Weise mit undurchschaubaren Spielchen, die wir nur langsam entwirren. Der Herzmuskel nimmt jede Feinheit war, auf jeden meiner Atemzüge und Gedanken reagiert er, jede Ungerechtigkeit registriert er mit einem brennenden Gefühl.




Samstag, 21. September 2013
  • Den Kleiderschrank ausgemistet, fünf 20-Liter-Beutel mit Klamotten, Schuhen und Stoffresten stehen bereit. Die drei Lieblings-T-Shirts behalte ich noch: Cutie 2002 von Paul Frank aus HK, Mind The Gap aus London, und das mit dem völlig aufgelösten Blütenaufdruck, mindestens 13 Jahre alt. Dafür gibt es neue T-Shirts und ein Hoodie.
  • Stefan S. auf dem Markt gesehen und sogar von ihm gegrüßt worden, er ist der Kanditat für äh, Moment, ich muss nachschauen – achso, er will Oberbürgermeister werden. Wieso, der andere war doch gerade erst gewählt. Mir gefällt Stefans Anwesenheit im Viertel, jemand der sich kümmert und fremde Leute grüßt. Wählen tu ich ihn deshalb trotzdem nicht. T. und ich hatten damals, als er noch Gewerkschafter war, für ihn Grafik-Design gemacht. Ein leiser, zurückhaltender Mann, jetzt leibhaftig auf dem Markplatz, Flyer verteilend.
  • Selbstgemachtes Popcorn
  • Wieder angefangen zu Stricken. Aus naturbelassener Wolle vom Bio-Schaf wird langsam ein dicker Winterpullover, einen Rollkragen soll er haben. Finger flutschen noch, sogar das Stricken mit fünf Nadeln geht.
  • Ein Tag mit Mama. Zum Tee lese ich ihr aus dem Buch "Kriegsenkel" vor. Wir sind beide berührt. Ich finde Sinnvolles zum Thema schlagende Väter.
  • Ich träume von H., meinem frühen Kollegen aus Praktikumszeiten. Wir hatten damals eine heimliche Affäre. Er war ein aufregender und kreativer Liebhaber. Wie wir im Traum vertraut sind und auf diese besondere Art miteinander reden, mit etwas verschlafenen Stimmen. Hand in Hand spazieren wir durch die Heimatstadt, ohne uns zu verstellen. Gestern, während Mama beim Friseur sitzt, gehe ich durch ein Treppenhaus hoch zu seinem Büro und klingele, das Herz schlägt mir buchstäblich im Hals vor Aufregung, ich würde einfach behaupten, ich sei aus der Puste vom Treppensteigen, wenn das Herz sich nicht beruhigt. Niemand macht auf und ich sehe durch geschliffenes Bleiglas einen leeren Kleiderständer und links durch die Tür auf dem Tisch einen bunten Stapel Arbeitsunterlagen. Mir fällt ein, dass ich hier schon mal so stand, ebenso aufgeregt. Ich würde ihm erzählen, was ich von ihm geträumt habe und er würde mich ins Herz nehmen. Er besitzt noch all unsere Nacktfotos.




Diesmal ist es schlimmer denn je. Ich fühl mich wie das Häschen in der Grube, das saß und schlief. Streit mit der Busenfreundin, der mich zurückführt in die Jugendzeit – zwischen den regelmäßig aufkommenden Wutanfällen meines Vaters, nach denen die Welt sich für ein paar Tage anfühlte wie untergegangen, wieder Wochen des halben Frohsinns mit vorsichtigem Vertrauen, dass das Schlimme nicht wieder passieren würde. Dann plötzlich aus heiterem Himmel, ich ein Kind und ein Mädchen, das Liebes will, seine Wut, seine verheerende Zerstörung des mühsam wieder Aufgebauten. Schreib ich dies, kommen wieder Tränen, so weh tat es. Die Busenfreundin, selbst mit einem cholerischen Vater – wegen eines Witzes, den ich danach noch dreimal extra als Witz ausgezeichnet hatte, aber sie hört nicht auf mich, gerät sie so in Wut, dass einige bitterböse Mails zwischen uns hergehen, die ihren lang mit unsinigen Argumenten und Rechtfertigungen, in der Erregung gespickt mit Fehlern, senden ohne nochmal drüberzulesen, meine Antworten kurz und auf dem Punkt ihrer diesmaligen Schuld, innerlich wütend über die Unterstellung einer bösen Absicht, und dann zum ersten Mal sage, schreibe ich: Du tust mir weh!

Ich brauchte die ganze Woche oder noch mehr, um mich halbwegs von der Attacke zu erholen. Es ist mir unmöglich, ihre Annäherungen zu akzeptieren, sind wir wieder gut, ruft sie mich an, ich bin gerade beim Frühstück und möchte jetzt nicht sprechen, eine SMS zum gemeinsamen Abendbrot, ich komme nicht, schreibe ich zurück, sie auf der Mailbox, sie führe jetzt zum Dalai Lama, was soll ich antworten, der Dalai Lama ist mir egal.

Ich schlafe viel und bemühe mich zu fühlen. Wenn ich davon erzähle, wird mir schlecht, ich träume, dass ich ihr ins Gesicht schlage, immer wieder, sie grinst nur und merkt nichts, wie oft hatte ich diesen Traum mit meinem Vater, unzählige Male drischt meine Faust auf seine Nase, seine Stirn, seine Augen, seine Lippen ein, treten meine Füße in seinen Bauch. Er bleibt bewegungslos.

Ich habe ihm nie gesagt, dass er mir weh tut. Du kannst mir gar nichts, sollte ein Zeichen von Überlegenheit sein. Die es nie gab. Sein Handeln war ungerecht, unangemessen und blieb unverständlich. Ja, die Ungerechtigkeit und die Grundlosigkeit seiner Wut waren am schlimmsten, ich habe doch gar nichts getan! Sieh mich an, ich bin dein Kind, wie kannst du so wütend sein, wenn du mich angeblich liebst?

Die Busenfreundin hat sicher Ähnliches erfahren mit ihrem Vater und möglicherweise ist genau dies, was uns verbindet. Ein grundlos wütender und um sich schlagender Vater, verbal oder tätlich. Umso schlimmer, dass wir uns ebenso verhalten. Dieses Mal hat sie seine Rolle eingenommen, perfekter denn je, und genau deshalb endlich durchschaubar.

Wir werden miteinander reden (müssen), aber jetzt kann ich das nicht.




Freitag, 13. September 2013
Nun ist es soweit: Heute hat auch dieser Blog einjähriges Bestehen. Zeit für einen Rückblick, der nicht allzu sentimental ausfallen wird, denn in einem Jahr kann nicht viel Schicksal geschehen sein. Oder doch?

Die Blumen sind für mich.

Vor einem Jahr also, da musste mehr Freiheit rein ins Leben. Gebeutelt von einer der seltsamsten Beziehungen, der ich je beiwohnte, beschloss ich jene aufzulösen und mich wieder anderen Dingen zu widmen, als stundenlang zu telefonieren und über verkorkste Esoterik zu lamentieren. Ein guter Neubeginn, wie stets mit Graham Coxon, den ich sechseinhalb Jahre zuvor in Köln gesehen hatte und nun wieder letztes Jahr. Danach zur Entspannung und Vertiefung der Trennung eine Reise an den See zu Frl. Montez, gemeinsam hatten wir das Blogschreiben ausgeheckt, geplant und erneuert, nachdem wir uns eine gute Dekade zuvor in einem Literaturforum kennengelernt hatten.

Eine Jugendfreundschaft wieder aufgenommen und altes Karma besprochen, der darin erwähnte very good man ist bisher aber noch nicht aufgetaucht. Ab und an über die Busenfreundin gelästert, mit der Buddhistin ins Innere der Seele und mit der Bestenfreundin an die Baltische See gereist, irgendwann vorher auch Weihnachten, Weltuntergang und Neujahr, und ein Bild von mir. Und immer mal wieder Liebeskummer. Erinnerungen an Cornwall stiegen ebenfalls auf, und Ende März zog ich von twoday.net zu blogger.de.

Schönes und Nerviges von der Familie, die zwischendurch Aufmerksamkeit begehrt, zarte Verliebtheiten von Ferne. Das ganze Bloggen mit Stromvergeuden und -bezahlen wäre nicht möglich, wenn ich nicht auch etwas arbeiten würde, und obwohl ich die Sinnhaftigkeit des und die Qualität meines Schreibens oft bezweifele, nimmt mich Marbach in sein Literaturarchiv auf. Das (und nicht nur das) feiern die Frau Montez und ich mit einer Reise nach Lissabon und schönem Wetter daselbst, und nach diesem Kackwinter rufe ich offiziell meinen spirituellen Sommer aus, denn ohne die Gewissheit, dass da noch mehr ist, wär mein Leben öd. Allerdings verkrache ich mich mit meiner spirituellen Freundin und Ärztin, was mir einiges Herzklopfen bereitet.

Wieder mehr lesen und noch mehr schwimmen und endlich ist auch der Rücken wieder heil, der seit Monaten meine Beweglichkeit eingeschränkt hatte.

Das erste Jahr des Schreibens endet nun mit einem kühlen Herbstgefühl mitten im September. Mögen wir immer genug zu erzählen haben, immer genug Zuhörer und Leser und Strom für's Internet.




Dienstag, 10. September 2013

September

Gestern zwischen zwei Schauern nochmal raus zum See (Teich), vielleicht schon ein vorläufiger Abschied. Mit mir noch ein zweiter unerschrockener Schwimmer, und auf der Wiese sitzen nur der Dünne und sein langbeiniger Kumpel, beide mit warmen Jacken. Die Blaualgen, die sich breit gemacht hatten, und auch die Schwebstoffe sind fort – kühl, klar und dunkel das Wasser, in dem sich die im Westen schon abgeregneten Wolken spiegeln.