Wenn ich krank oder anderweitig verzagt war, habe ich mich gern in die Bücherwelten meiner Jugend verzogen. Es bereitete mir stets Trost, Sätze, Abschnitte und Erlebnisse nachzulesen, die ich nach all den Jahren fast schon auswendig kannte. Eigentlich sind es nur zwei Bücher, zu denen ich immer wieder zurückfinde, wie oft ich sie schon gelesen habe, kann ich nur schätzen: Blauvogel von Anna Müller-Tannewitz unter dem Pseudonym Anna Jürgen und Irja von Annikki Setäla.

Beide Bücher hatte ich im Keller meines Elternhauses unter den Sachen gefunden, die mein Cousin nach dem Tod meiner Tante für eine Weile bei uns deponiert hatte. Eigentlich durfte ich dort nicht stöbern, aber am Ende hatten wir doch ein paar Gegenstände aus dem Sammelsurium behalten dürfen, eine alte Musiktruhe, die noch sehr gut klang und die ich eine Weile benutzte, bevor ich mir einen eigenen modernen Plattenspieler kaufen konnte, drei Beistelltischchen, die untereinander gestellt und im Bedarfsfall hervorgeholt wurden, einige LPs, die mein Cousin aussortiert hatte, was kein Wunder war, denn mir gefiel die Musik bis auf Nights in White Satin (von wem nochmal?) oder Procol Harum auch nicht. Aber die beiden Bücher – sie wurden meine größten Schätze.

Irja handelt von einem finnischen Mädchen, das in der unberührten Natur Lapplands aufwächst, sich lieber mit Jungskram beschäftigt und stolz ist, dem Vater nachzueifern, der in ihr immer seinen kleinen Jungen gesehen hat. Eines Tages kommt ein junger Forstmeister zu ihnen, um die Familie mit seiner Arbeitskraft zu unterstützen. In Irja erwachen zwiespältigste Gefühle dem weichen Mann aus dem Süden gegenüber, die zwischen heimlicher Zuneigung und verächtlichen Hänseleien hin- und herpendeln, aber die ebenfalls erwachende Leserin (ich) erkennt sich in diesem wilden Mädchen selbst und saugt diese Geschichte nur so auf. Am Ende, auf einem großen Fest zum Jahresende, gerade als sie bereit ist, Kero ihre Gefühle zu gestehen, entdeckt sie ihn und ihre sanfte Schwester beim Betrachten des Nordlichts, er hat einen Arm um Hilkka gelegt und Irja begreift, dass sie Kero verloren hat. Ein großartiger Moment und ein großartiges Buch, das nicht nur die Sitten und Gebräuche der Lappen beschreibt, sondern auch Zusammenhalt und Freundschaften, viele spannende Erlebnisse und alles zusammen ergibt einen unauslöschbaren Eindruck über die fremde Kultur hinter dem Polarkreis.

Blauvogel ist die Geschichte eines weißen Jungen, der von Indianern geraubt und adoptiert wird. Eindringlich wird erzählt, wie er sich nur mühsam in das Leben des nahe des Eriesees wohnenden Irokesenstammes einzufügen lernt, lange Zeit von übelwollenden Kindern und Fluchtgedanken geplagt, im Laufe der Jahre aber gewahr wird, welche Rollen die beteiligten Völker und Regierungen bei der Eroberung Amerikas, der Ausrottung ihrer Urvölker und der Ausbeutung der Natur wirklich spielen. Wie bei Irja werden nicht nur das alltägliche Leben, die Rituale, sondern auch politische Hintergründe beschrieben, es gibt verschiedene Abenteuer zu bewältigen, und am Ende, als die Indianer gezwungen werden, ihre adoptierten weißen Kinder zu deren Familien zurückzubringen, erkennt Blauvogel, wie sehr er sich von seiner weißen Ursprungsfamilie entfremdet hat und kehrt zurück zu den Indianern.

Was mein kindliches Herz an diese Bücher fesselt, die mein in der Welt sein so stark geprägt haben, ist ihr Sinn für Heimat und Zugehörigkeit zur Natur und zu freundlichen Menschen. In diesem meinem Herzen glüht immer noch ein lebendiges Bild nach dem Ersehnten. Ein Bild von einem wahren Zuhause und einer bestimmten Art von Rechtschaffenheit und Harmlosigkeit. Eine heile Welt. Wenn ich krank oder anderweitig verzagt bin, kann ich durch diese Bücher wieder heil werden.