Mittwoch, 29. April 2020
Nach einem harmonischen Wochenende, das wir lesend im Bett verbringen (der Bildhauer die Autobiografie des Regisseurs und ich durch Verschwörungstheorien und Maskennähanleitungen blätternd, jeweils lachend oder weinend) wollen wir etwas Kunstbedarf kaufen, denn die Kreativität sitzt uns im Reiseschuh. Boesner hat die Grundfläche ordnungsgemäß verkleinert und dazu Teile mit Bändern abgesperrt. So drängt man sich in engen Wegen, wie gut, dass wir nun auch die Masken tragen. An der mit einer Plastikscheibe gesicherten Kasse nenne ich wie üblich meinen Namen, um dem System eine persönlich adressierte Rechnung zu entlocken, diesen versteht der nette junge Mann beim dritten Mal auch nicht, ich ziehe die Maske runter, damit er meine Lippen lesen kann.

Vorm Bioladen, dem einzigen Geschäft, das ich sonst noch betrete, treffe ich die Exsängerin. Sie ist Lehrerin an einer Schule für Gehörgeschädigte. Dort wird (per se) nicht per Gebärde kommuniziert, sondern das Lippenlesen geübt und praktiziert. Natürlich hat im Unterricht dort niemand Masken auf. Sie erzählt von ihrem kleinen Sohn, der alte Sendungen mit der Maus irritiert mit die halten ja gar keinen Abstand kommentiert.

Die Gärtnerin hatte Geburtstag und lud in den Garten zu Getränk und Leckereien. Zu siebt sind wir; im Garten nebenan wird ebenfalls mit erhöhter Personenzahl gebechert. Die Stimmung ist grummelig-entspannt, wir alle sind irgendwie Kreative ohne besondere Geldsorgen bzw. mit neu eingereichter und bestätigter Grundsicherung, lassen es uns hier mit minimalen Mitteln gut gehen, d. h. wir sind einfach und lassen uns von der Sonne bescheinen.

Es will (noch) nicht regnen, aber diese zarten, bereits anderswo abgeregneten Wölkchen ziehen hoch oben und lassen Himmelsblau durchscheinen. G. hat ein regenarmes Zeitfenster zwischen zwei und drei ausgemacht und dann wollen wir uns am Kaffeebüdchen zum Arbeitsgespräch bzw. Coronakritik einfinden. Er kommt aus dem Finanzbereich und hat zur gegenwärtigen Zeitqualität sein ganz eigenes Narrativ. (Dass dieses Wort einmal in meinem aktiven Wortschatz platzfindet, hätte auch ich nicht für möglich gehalten.)




Freitag, 24. April 2020
Zwischen Euphorie und ängstlichen Vorstellungen hin- und herpendelnd; allerdings hatten die Ängste überwogen. Nach der Osterpause wieder zum Gespräch. Mit dem Rad durch die Stadt und den Wald. Mir scheint, der Verkehr hat seit dem letzten Mal sehr zugenommen, ich sehe Jogger auf der Hauptstraße ihre Lungen überlasten. Mein Kalender zeigt eine zu frühe Uhrzeit, eine Stunde ist zu überbrücken. Im dortigen Bioladen werde ich von einem maskierten (ob ich nächste Woche auch so aussehe?), wie mir scheint boxkampferprobten (so sehe ich dann wohl doch nicht aus) Verkäufer angeraunzt, ich solle doch hinter die Linie treten (diesen Satz muss ich hoffentlich niemals zu irgendwem sagen). Um das Franzbrötchen zu bezahlen, muss ich doch über die Linie treten, ein Irrsinn. Wie mir scheint. Es scheint alles nur, es ist es nicht richtig.

Die Therapeutin lässt mich ausweinen, Angst und Mut- und Ziellosigkeit zugeben und eine große allgemeine Erschöpftheit. Überhaupt aber scheint das reine Aussprechen, liebevolle Ansprechen, Ansehen dieser lastenden Gefühle bereits das Heilmittel zu sein. Wir machen eine meditative Übung mit Licht, ich liege dabei auf einer hübschen, wertvoll wirkenden Decke, die sanftes Umfangensein fühlbar machen soll. Später am Tag gehe ich leicht und unbeschwert zum Einkaufen, scherze mit Verkäuferinnen und alles erscheint, tatsächlich, in einem anderen Licht.

Ich hatte zu viele Sachen geschaut, ich war neugierig und wollte (mal wieder) die Wahrheit herausfinden. Wie ist es denn nun um diesen Planeten bestellt? Alles zu Ende? Müssen wir jetzt alle sterben? Ich fand Geschichten und Meinungen, die mir gefielen und welche, die ich nicht teilen konnte. Ich fand Schönes, Zukunftsweisendes, Tröstendes. Und ich fand Schauderliches, Abgrundböses. Die Frage, ob das Böse wahr (bzw. eine eigene Realität hat als Opposition oder nur in das Wahre eingehängt) ist, wird kontrovers diskutiert, von Philosophen, Gläubigen und Atheisten, von Yogis, Buddhisten, von dir und mir. Die Therapeutin schlug vor, dass es die eine Wahrheit nicht gäbe, vielmehr säße jeder in seiner eigenen Blase. Als Arbeitshypothese für den Tag ok, aber letztlich scheint mir eine absolute Wahrheit wahrscheinlicher.

Der Bildhauer und ich waren an der Weser, vorbei an einem Ort, den Th. Zigarettenpause genannt hat. Die Erinnerungen mischen sich sich mit den jetzigen Eindrücken (der Bildhauer raucht allerdings nicht, hat aber Kaffee und Käsekuchen dabei), das ist irgendwie sehr schön. Meist waren Th. und ich gern bei ebensolchem Sonnenwetter mit dem Krad unterwegs; vis-à-vis AKW steht das Fährhaus, vor 20 oder mehr Jahren war es ein geducktes Fachwerkgebäude mit einem fast einsamen Biergarten unter alten Bäumen, dazu Wurst- oder Käsebrot mit Gürkchen und einem schönen Bier. Jetzt wird dort ein weiteres, bestimmt doppelt so großes Haus danebengestellt, der Parkplatz wirkt wie ein eigenes Ereignis und reicht für die Vielen, die da kommen sollen; früher stellte man das Auto irgendwo an die Straße. Der Bildhauer mag nicht bleiben und auch ich finde den Ort nicht mehr reizvoll. Zurück nochmal kurz in die Erinnerung an ein stürmisches, blitzreiches Gewitter vor Jahrzehnten, das ich mit Th. auf einer Bank unterm Dachvorsprung des kleinen Nebengebäudes verbracht hatte, ich zitternd, wir frierend vor Nässe, wenn jetzt das AKW hochgeht, sind wir alle geliefert.

Ich kenne das Bergland hier auswendig, aber anscheinend gibt es neu gebaute Straßen und unsere Karte ist gerade knapp oberhalb zu Ende; als ich verunsichtert das uralte Navi anschalte, führt es uns an einen Feldrand. Wir suchen den richtigen (den wahren) Weg, derweil das Navi durchdreht, weil wir seiner Meinung nach mitten übers Gelände fahren. An der Pass-Straße, die ich nicht wiederfinde, liegt eine Wiese, an der man hochsteigen muss, von dort hat man einen weiten Blick in alle Richtungen. Das nächste Mal, tröste ich uns.




Donnerstag, 16. April 2020
Ostersonntag reiche ich ein paar Aufmerksamkeiten fürs Mütterlein zum Fenster hinein. Es scheint allen soweit gutzugehen, den Bewohnern, dem Kollegium, das guten Mutes sei, wie man mir versichert. Auf dem Weg zurück fahre ich an der Gemeindekirche vorbei, deren Pastorin auch regelmäßig Andachten im Heim hält. Draußen auf dem gepflasterten und mit einer Buchenhecke umrahmten Hof hat sich eine Gruppe Menschen versammelt, Gesang ist zu hören. Mir ist so sehr nach Geselligkeit, dass ich nicht zögere, mein Rad zu stoppen, es an der Hecke anzulehnen und mich den ca. 30 Betenden und Singenden anzuschließen. Pastorin A., weiß gekleidet, liest die Ostergeschichte, eine vierköpfige Kapelle spielt das Kyrieeleison, wir beten das Vaterunser, lächeln uns zu und nach all diesen Tagen geht endlich mein Herz auf – die Freude in dieser kleinen, subversiven Gesellschaft ist so sehr zu spüren. Wir bekommen Segen und Osterglocken mit und eine Grußkarte, die ich daheim am Küchenaltar platziere.

Wie die Natur im Frühling aufgeht, empfinde ich dieses Jahr besonders überwältigend. Trotz der bangen Gedanken, die von hier nach da schwingen, vermag ich den Wald und all die versteckten Orte, die der Bildhauer und ich kennen und aufsuchen, doch zu genießen. Nach einer tränenreichen Aussprache haben wir uns versichert, den Gemeinsamkeiten zu folgen und nicht dem, was uns trennen könnte. Wir sammeln Brennesseln, Gundelrebe und Lungenkraut im Wald, sehen einen Hasen vor uns aufspringen, in der Ferne eine Gruppe von acht, neun Rehen – die hatte ich vor einzwei Wochen schon beobachten und fotografieren können. Auch in der Nähe der Stadt gibt es Wege, die wir neu finden, einen Trampelpfad direkt am Bach, durch urwaldiges Gelände, heimelig, vorsichtig. Plötzlich springt mich etwas großes Dunkles an, leise ohne Stimme, es ist wohl kaum der Biber, der derart um mich herum fliegt, dass ich mich drehe und wende und doch läuft er meinem Blick fort. Dann sehe ich den Hund, ferner, den ich im Wald allein sicherlich für einen Wolf (endlich!) gehalten hätte, schmal, mit langen Beinen und braungrauem Fell.

Gestern hatte das Mütterlein den 89. Geburtstag. Ihre alte Freundin W., selbst gerade 87 geworden, ruft mich an, richtet Grüße aus und berichtet von Kindern und Enkeln, die sich um sie kümmern. Mit einem Strauß zarter Blumen in lila und rosa und hellgrünem Beiwerk stehe ich wieder am Heimfenster. Zufällig ist die Leiterin, Frau M. in der Nähe, begrüßt mich und bietet an, das Mütterlein zu mir zu bringen. Mein Herz schwingt – dass ich das Mütterlein heute sehen kann! Es dauert eine Weile, es ist sicherlich noch im Mittagsschlaf. Eine andere Kollegin (die mittlerweile das Fenster bewachen muss, weil Angehörige verbotenerweise dort einsteigen), berichtet aus dem Alltag; einige Bewohner aus dem betreuten Wohnen ignorierten die Kontaktsperren und würden sich auch sonst sperrig geben, aber viele Alte aus den Pflegebereichen würden die Situation nur wenig anders als vorher empfinden, weil die Begegnungen sich von der Gruppen- nun auf die Einzelbetreuung verlagert, was ja schöner ist und naja, die Demenzkranken bemerken gar nichts besonderes. Drei Bewohner liegen im Sterben, werden gottseidank nicht ins Krankenhaus gebracht, sondern bekommen liebevolle Sterbebegleitung von Ärzten und Seelsorgern. Die Angehörigen dürfen (mit Maske) am Sterbebett weilen – ich bin so erleichtert, das zu hören.*

Da geht der Fahrstuhl auf und mein Mütterlein wird zu mir gerollt. Sie hat rosa Schlafbäckchen und schaut mich, die ich ihr schon zurufe und winke und lächle, erwartungsvoll fragend an, wer bist du? sagt sie. Ich erkläre mich und sie beginnt zurückzulächeln. Frau M. liest ihr meine Geburtstagskarte vor, die von Gefühlen trieft, und das Mütterlein, meinen Blumenstrauß ans Herz drückend, weint ein bisschen und ich auch. Sie wirkt proper und zufrieden, spricht ein paar Sätze, lauscht offensichtlich dem Gespräch, nickt zu Fragen, schaut mal zu mir, mal an mir vorbei zum Straßengeschehen, wir riechen an den Blumen und ich finde sie berührend süß. Nach einer Weile verabschieden wir uns, werfen Handküsschen und mit, wiedereinmal, freudig bebendem Herzen fahre ich über den Deich nach Hause.

* Nachtrag: Ich bin natürlich nicht darüber froh, dass drei Menschen im Sterben liegen. Ich bin froh darüber, dass mein Mütterlein sicher sein kann, dass seine Vorstellungen von einem würdigen Sterben Erfüllung finden.




Freitag, 10. April 2020
Die Zahlen lichten sich, es wird jetzt endlich begonnen, richtig zu forschen. Es gibt einen Eilantrag beim Bundesverf*gericht. Aufregend zu beobachten, wie die Kräfte hin- und herzerren, und in ebendieser (Beobachter-)Rolle zu bleiben ist gesünder. Ich habe es leider nicht geschafft, mich von der Berichterstattung fernzuhalten, lese weiterhin alle zur Verfügung stehenden Quellen, oder sagen wir recht viele, denn einige sind auch mir zu krass und machen Panik einer ganz anderen Sorte.

Da dem Bildhauer wegen fehlender Rechnerausstattung (wegen fehlender Notwendigkeit, sie zu nutzen) nur die TV-Meinung ins Haus kommt, gibt es da leider Unstimmigkeiten zwischen uns. Die sind noch keine Krise, aber die Argumentationen beschäftigen mich sehr. Es ist das erste Mal in den fast sechs Jahren, die wir uns nun kennen, dass wir uns nicht einig sind. Dorthin, wo ich nach Wahrheit, nach Ursache und Wirkung forsche, mag er mir nicht folgen. Und ich muss leider feststellen, dass ich seine Ängste nicht ernst nehmen kann. Da wir weder zu Gesundheitsrisikogruppen zählen, noch zu denen, deren finanzielle Existenz gefährdet ist, können wir zufrieden sein. (Gerade diese Zufriedenheit finde ich aber trügerisch, aus Gründen.)

Jedenfalls kann ich (positv) berichten, dass das Kaffee-Büdchen ein paar Häuser weiter wieder geöffnet hat, dass das Fahrrad schnurrt, dass ich noch zweieinhalb Rollen Klopapier besitze und dass mir das Mütterlein eine Postkarte geschrieben hat – niemals zuvor habe ich Post (mit Briefmarke) von ihr bekommen! Sie ist selbst gemacht, steht in einer fremden Handschrift geschrieben, ebenso meine Adresse und das liebe Ostergrüße von Frau Krabbe. Jene hat aber mit ihren Zickzackkrakeln unterschrieben, ich erkenne es genau. Die Vorderzeite ist von ihr aquarelliert und mit einem großen roten Osterhasen bestempelt. Meine Güte, das ist so süß! Des weiteren erreicht uns die Nachricht, wir könnten mit unseren Angehörigen skypen und auch Ostergaben durchs Fenster neben dem Eingang reichen. Das werde ich morgen machen.

Ich halte nun die Autobiografie des berühmten, mit Lob und Häme bedachten Filmemachers in meinen Händen und während der ersten zwei Seiten, die ich überflug, habe ich mindestens fünfmal gelacht und ebenso oft geschmunzelt. Ich werde diesen christlichen Trauertag also lesend (und lachend) verbringen und melde mich ab mit einem *




Samstag, 4. April 2020
Die Obstbäume des Elternhausgartens leuchten gelborange in der Mittagssonne, überwältigend üppig. Ich will die Szene unbedingt fotografieren und meinem Vater, wo immer er sei, einen wertvoll gerahmten Abzug schenken. Beim Aufwachen noch drängt mich das Vorhaben und nur langsam wird mir klar, dass es die Bäume nicht mehr gibt. Die Käufer des Hauses hatten schon vorletztes Jahr alles aus- und umgegraben, sogar die Bilder von g**gle Earth zeigen die aufgerissene Erde.

*

Das alte Macbook von 2011 ist jetzt endgültig hinüber, beim Starten zeigt es erst einen grünlichen Apfel und danach schön ultramarinblaue Streifen. Im Spätsommer letzten Jahres hatte der Fachmann noch die allerletzte Möglichkeit des Platinenbackens unternommen und höchstens noch ein Jahr Laufzeit vorausgesagt. Jetzt benötige ich für das neue Airbook einen anderen 27-Zoll-Bildschirm, der vorige funktioniert nicht mit den neuen Anschlüssen. Ein Irrsinn, jetzt zu investieren? Mal sehen, ich möchte weiterhin gut ausgestattet sein, obschon ich fast gar kein Grafik-Design mehr mache. Auch sind mir nun die Ad*be-Programme nicht mehr zugänglich, die will/kann ich nicht mieten, habe aber die Affinity-Serie erworben, mit der ich schon seit einzwei Jahren arbeite.

*

Auf allen Kanälen werden die kritischen Stimmen zum Seuchenhandling deutlicher. Die Petition, die die Erforschung und Sichtbarmachung der realen Zahlen fordert, scheint mir am seriösesten formuliert, hört sich auch für den hartnäckigsten mainstreamer nicht nach Verschwörung an, und hat in kürzester Zeit das Quorum erreicht.

*

Ich lese wieder Franny & Zooey. Die Sprache beglückt mich so, dass ich fast weinen muss, dazu belebt sich eine traurige Erinnerung an die große Stadt im fernen Osten, in der ich ein halbes Jahr lebte. Die Prinzessin und ich hatten uns mit den Katzen der Nachbarschaft angefreundet, speziell die Familie um Mum-Cat, wie wir sie nannten, lag uns am Herzen, die nicht nur von uns, sondern auch von Leuten vom anderen Ende der Insel regelmäßig gefüttert wurde. Ich war wieder daheim im Frühjahr und SARS brach aus. Man hatte giftige Köder in der Stadt verteilt, um tierische Übertragungswege des Virus zu stoppen und nach ein paar Tagen fand die Prinzessin Mum-Cat tot im Rinnstein.

*

Dudi berichtet von ihren Katzen, die nach dem Umzug und einem langen inhäusigen Winter ans Haus gewöhnt worden waren. Sie dürfen nun in den Garten und schauen sich fröhlich um beim gemeinsamen Mensch-und-Tier-Spaziergang durch die Umgebung, der ihnen zeigt, wo sie sich befinden. Während wir telefonieren, ertönt das Gemaunze von Fritz, der sich stets in unsere Gespräche mischt; ich bin überzeugt, er findet die Töne der (anderen) Sprache reizend, die sein Frauchen (nur) mit mir spricht.

(Ich erspare Ihnen hier ein weiteres Sternchen.)




Donnerstag, 2. April 2020
Die Stimmung kippelt, ist aber noch nicht ganz hinüber. Einen Disput mit dem Bildhauer gehabt, der sich besorgt zeigt, weil ich mich mit den Freundinnen zum Frühstück treffe. Ehrlich, stellte er mich vor die Entscheidung er oder sie (die Freundinnen), würde ich mich wohl einfach in eine Ecke verkriechen und warten bis alles vorbei ist. Ich finde es traurig, dass wir überhaupt so ein Gespräch führen und kann mir vorstellen, dass es bei vielen Paaren, Familien und anderen Gemeinschaften schlimme Zerwürfnisse gibt, die sich nicht beilegen lassen. Die Leserin berichtet aus dem Buchladen; dort ist die Tür zum Bad direkt in der hinteren engen Büroecke, und es bedeutet ein gewisses Organisationstalent, den Bedürfnissen aller Raum zu geben.

Zu Fragen des Zwischenmenschlichen in kleinen Wohnungen findet man zur Zeit kaum Hilfe, außer diese Psychoratgeberkolumnen mit schönen Bildern freundlicher Menschen, die an hübschen Schreibtischen homeoffice machen, während die Kinder sich still beschäftigen. In den Kommentarspalten von utube-Filmen, die wieder etwas Hoffnung mitbringen, lese ich Ängste, Nöte, Hass heraus und am meisten macht mir, der hoffnungsvollen Demokratin, Angst, dass jede Meinung außerhalb des mainstreams sofort die Verschwörungstheorie-Keule bekommt. Ich bemerke mit Befremden, dass ich positive Beiträge in meinen diversen timelines nicht mehr spontan like oder teile, ohne Folgen (welche Folgen?) zu befürchten.

Die Auseinandersetzung mit der Meditationsfreundin G. ist noch nicht gänzlich erhellt, bzw. ich führe sie allein weiter im inneren Dialog. Ich persönlich, in the cave of my heart, glaube unerschütterlich an das Gute in der Welt und an eine absolute Wahrheit. Meistens dauert es eine Weile, bis sie sich zu erkennen gibt. Und oft sind diese Weilen lang, unerquicklich, sogar schmerzhaft und mit Leichen gesät. – Wir werden sehen.

(Küche ist übrigens immer noch nicht geputzt.)




Dienstag, 31. März 2020
Auf dem Wochenmarkt ducken sich die wenigen, noch relevanten Stände zusammen, ich kaufe frisches Gemüse, Obst und Fisch, es gibt keine leider Blumen. Die wären jetzt besonders wichtig, um die Stimmung daheim zu ästhetisieren. Vorm Bioladen treffe ich C. und P., die, wie sie mir zuraunen, sich gleich mit der Tätowiererin auf einen Kaffee treffen (ah, eine verbotene Dreierzusammenkunft, raune ich zurück), sie würden es aber so aussehen lassen, als wäre es Zufall. Sie wüssten außerdem, dass die Tätowiererin letzte Woche bei mir zum Frühstück war. Ich bestätige kichernd, und füge sogar mit Umarmung hinzu. Wir besprechen das wunderbare Frühlingsgeschehen, sie beide würden oft morgens auf dem nahen Stadtberg weilen und den Bienen beim Summen zuhören, die ja schon vor Wochen ihre Arbeit aufgenommen hatten.

Das Ausgeweiche auf den schmalen Bürgersteigen funktioniert nicht so recht, wendet man sich von der einen Seite fort, stößt man auf der anderen Seite mit anderen zusammen, beide Parteien sind ja nur vorn mit Augen ausgestattet. Ich könnte mir vorstellen, dass die Menschen sich bald auf ganz natürliche Weise locker machen und ihre Angst voreinander vergessen. Nicht als Aufstand, sondern aus einem liebevollen Gefühl heraus.

Ein langes, schönes Telefonat mit der zweitgradigen Nichte, einverständig. Ich hatte ihrem Sohn ein aufwändiges Stickerbuch Gefährliche Berufe geschickt, und er berichtet, es hätte ihn zwei Tage beschäftigt. Immerhin. Alle Nachbarn lassen die Kinder draußen spielen an der nahen Bachfurt, sie kommen am Abend ausgeglichen und hungrig nach Hause – so jedenfalls stelle ich mir das vor. Natürlich gibt es Hausaufgaben online, die Lehrerin erstellt dazu kurze, tränenerstickte Filmchen.

Weiterhin dieses faktenfreie könnte, würde, sollte auf allen Kanälen, denen ich mich nur noch sporadisch widme. Jetzt einen zweiten Kaffee und dann zu einem langen Spaziergang hinaus, für den Nachmittag plane ich den Frühjahrsputz der Küche. Aber mal sehen – wie sehr ich den Zustand des Zu-nichts-verpflichtet-seins genieße! Ich kann machen, was ich will!




Montag, 30. März 2020
Könnte, würde, sollte, möglicherweise... all das. Es schneit jetzt gerade. Und zwar fast echte Flocken. Solche, die man am Himmel erkennen kann, die dick sind und vor dem Grau etwas dunkler. Sie wären noch echter, blieben sie liegen, dazu ist es aber zu warm. Vorm Fenster steht der Ahorn in seiner hellgrünen Blüte, es sieht hübsch aus, wie die Flocken hindurchsinken.

Am Freitag war es so warm, dass ich beim Spaziergang die Jacke ausziehen konnte. Wir gingen zu zweit, die Sufi-Meditierende G. (die jetzt ihren eigenen Meditationen nachgeht) und ich. Sie erklärte, sie wolle unsere gemeinsame Freundin K., die zur Risikogruppe gehört, vor dem Virus schützen, wir könnten womöglich, obschon symptomfrei, Überträgerinnen sein. Sie wies mich dann zurecht: Ich solle mehr Abstand zu ihr halten. Ich ging halb auf der linken Seite des Spazierweges und wurde im nächsten Augenblick von einer Radfahrerein wütend zurechtgeschnauzt. Alle waren draußen und es war unmöglich, auf den schmalen Wegen Abstand zu halten. So trottete ich, nicht verstehend, was zwischen uns (spirituellen Freundinnen) vor sich ging, hinter G. her, im steten Versuch, ihr nicht zu nahe zu kommen. Wir hatten dann diese elende Diskussion über Fallzahlen, Ansteckungsgefahr, Todesfälle und Wahrscheinlichkeiten – inmitten schönster Frühlingsstimmung und nettester Ausblicke über Gewässer und Gänseauen. Am Ende war ich völlig gestresst von all dem Ausgeweiche und in der Nacht dachte ich bis weit nach Mitternacht über die plötzliche Fremdheit zu G. nach und ward völlig mürbe gegen zwei.

Der Bildhauer und ich verbringen das Wochenende auf meinem Schlafsofa, das wie ein Boot ist, mit dem wir die schlimmsten Wellen nehmen. Unsere mittägliche Ausfahrt durch die leere, nach dem Wetterumschwung wieder regengraue Stadt ist bedrückend und uns ist klar, wie sehr gerade solch eine Stimmung dazu beiträgt, jegliche Abwehr zu schwächen. Wir vermissen Kunst und Kultur bzw. das Schöne im eigentlichen Sinn, das ist jetzt in dieser Stadt nicht zu finden. Zurück zu Hause zünde ich Kerzen an, koche opulente Gerichte, es gibt genügend Wein, oder Bier, wie jeder mag. Wir lesen uns aus "Die Höhlenkinder" vor, ein Buch, das wir beide schon seit unseren jeweiligen Jugendzeiten als eines der wichtigsten erachten (während er die Versöhnungszene zwischen Peter und Eva rezitiert, weint er [und ich lache]), schauen Handwerksfilme des SWR und spielen Scrabble mit deutschsprachig klingenden Wörtern (Lebser, Sölgen, Harsel, Gurm u. a.)

Ich möchte im Moment keine Leute treffen, mit denen ich unterschiedlicher Meinung bin. Das ist mir schlicht zu nervig.




Montag, 23. März 2020
Ich versuche weiterhin, die Ereignisse positiv zu sehen und habe seit Tagen erstaunlich gute Laune. Allerdings las, sah und hörte ich bei vertiefenden Recherchen in offstream, alternativen Nachrichten und auch Esoterik Dinge, die mich, sagen wir mal, aufrührten. Es ist nicht möglich, sich ein einigermaßen korrektes, geschweige denn wahres Bild zusammenzureimeninformieren. Jede Zahl, jede Tatsache wird durch Berechnungen, Prognosen und Meinungen so entstellt, dass es mir Herz und Verstand verdunkelt.

Ich halte mich also an Fakten. Die Sonne scheint. Der Himmel ist blau ohne eine Wolke. Die kalte Luft rötet Gesicht und Hände, der Rest des Körpers befindet sich unter warmer Kleidung. Immer mehr Grün erfüllt den Blick, auch Gelb, Weiß und Rosa. Wir sind jeden Tag draußen, der Bildhauer und ich. Hirsche äsen ungestört auf Feld und Wiese. Viele andere Wildtiere sind zu sehen, Greifvögel, Storche, Hasen, Dachse. Ich halte die Kontaktsperren für Irrsinn. Der niedersächsische Ministerpräsident ist der einzige, der zu bedenken gibt, dass sich die Leute zu Hause auf den Keks gehen werden oder Schlimmeres. Ich würde gern das Mütterlein wieder sehen und überlege, ob ich irgendeine Ausnahmesache geltend machen kann – damit sie mich nicht völlig vergisst.

Das Café hat seit dieser Woche zu und so lade ich die Leserin zum wöchentlichen Frühstück bei mir. Ich hatte sie gebeten, Klopapier mitzubringen und besitze nun vier Rollen. Ich biete Kaffee und gesunde Lebensmittel, wir besprechen die Lage und auch ihre berufliche Situation, deren aus der besonderen Historie des Buchladens erwachsene Schwierigkeiten wir schon seit Monaten, vielleicht auch Jahren versuchen zu erhellen. Ich finde, sie ist eine hervoragende Denkerin, und an unseren Gesprächen mag ich die Bedächtigkeit, die ruhigen Denkpausen und das Ins-Unreine-Reden, das wir erst später strukturieren. Was sie im Laden halte, frage ich. Allein die Bücher, das spezielle Sortiment, das sie anböten, und die Möglichkeit, jederzeit etwas zu lesen und nachzusehen. Sie könne sich ihre Wissbegier sonst gar nicht leisten. Das gefällt mir, es sind weder das Geld, noch die Kolleginnen. Es sind einfach die Bücher.

Vetter und Basen melden sich innerhalb weniger Tage. J. ist ziemlich aus dem Häuschen, was er aber nicht als Panik gedeutet haben möchte. Was uns unterscheidet, wird mir klar, ist, dass ich nichts zu verlieren habe, er aber alles in die Erhaltung des Riesenhauses unseres Großvaters inmitten der Heimatstadt verwickelt ist. Ich möchte nicht tauschen. Er erzählt, dass im Dom, anscheinend Gang und Gäbe, der Probst eine Messe für sich (den Probst) allein gehalten hat. Niemand war sonst da.

Wie ich oft mit dem Mütterlein dort im Dom die Marienstatue besuchte. Wie wir eine Kerze anzündeten, und uns betend auf der Bank niederließen. Und wie sie sich nach einer Weile zu mir drehte und leise fragte, wollen wir gehen? Sie war immer die Erste, die fragte.




Sonntag, 22. März 2020
Der Berichterstattung halte ich mich weitestgehend fern. Im Stadtteil ist es ruhig, man geht sich aus dem Weg und lächelt freundlich, als wolle man sagen, das ist nicht gegen Sie persönlich gerichtet. Gestern Abend um sieben schallte Applaus (Ablaus schrieb ich erst) durch den Hinterhof, ich hatte von dieser Würdigungsgeste noch nichts gewusst. Werde heute Abend mitklatschen. Auf dem Wochenmarkt bietet eine Frau selbstgenähte Schutzmasken an, man kann sich mit der Bestellung den Stoff dazu aussuchen und am Ende des Markttages gegen eine Spende abholen. Trotzdem sieht man hier wenige, die Masken tragen. Der frisch getrennte Freund der Gärtnerin erkennt mich in der Schlange vorm Biostand und kommt mir zu nahe, als er auf Nachfrage erklärt, es gehe ihm nicht gut. Unwillkürlich drehe ich mich von ihm weg, ich möchte nichts hören.

Die Berichterstattung scheint mir einseitig und wenig geeignet, Panikgefühle zu lindern. Wie man Abwehrkräfte stärkt zum Beispiel oder Selbstheilungskräfte aktiviert, könnte man verbreiten. Was ist mit dem vielbeschworenen Superfood? Obst, Ölsaaten, Nüsse, frisches Gemüse, Hülsenfrüchte, Heilkräuter. Ingwer, Kurkuma. Vitamin C und D3. Kneippkuren. Es wird so getan, als würde der Virus wahllos vom Himmel fallen und jeden treffen, der im Weg rumsteht. Wo sind all die diese guten Stimmen, die zur gesundheitlichen Selbstvorsorge und -verantwortung aufrufen? Die Beschwichtiger werden allesamt gleich als Verschwörungstheoretiker niedergemeint. Sowieso ist vieles bloß Meinung. Man kann sich kaum davor schützen, auf eine reinzufallen. Eigentlich ist die aus allen Ecken kriechende Meinung der Virus. Ich hab ja auch Meinung.

Statt allem stromere ich mit dem Bildhauer durch Wälder und Flure, sammle Kräutlein, versuche, im Gespräch mit Freunden Zuversicht zu verbreiten. Dass der Frühling da ist, dass man im offenen Fenster die Sonne genießen kann, Lieblingsmusik hören, bunte Blumen in der Wohnung verteilen, all diese Dinge, die einem im Herzen froh machen und stärken; die Ruhe genießen, sich ein paar Leibesübungen hingeben, atmen, zu sich selbst kommen.

Und langsam mal wieder das Klopapier rausrücken.