Dienstag, 7. März 2017
Indien? Swami ruft an und fragt, ob ich im Herbst mitkomme. Nach Indien. Mein übliches ich kann hier nicht weg und wenn was passiert, kann ich nicht so schnell aus Indien weg wird mit einem na und, dann kannst du eben nicht weg zum schnellen Einsturz gebracht. Und wenn Mama stirbt und ich nicht zur Beerdigung kommen kann? Wird ebenso weggewischt wie eine schon halb vertrocknete Träne.

Tatsächlich wirkt die Idee, einfach wegzufahren wie eine plötzliche Erfrischung nach langem Durst und bringt mich aufgeregt und voller neuer Hoffnung durch den Sonntag. Um dann am Montag unter einer Last von ohgott, was für ein Frevel, eine mögliche Beisetzung zu verpassen zusammenfällt und sowieso, einfach abhauen aus der Verantwortung? Ich kann nicht.

Jenes ich kann nicht – ganz langsam dämmert es auch mir, ist eine selbst angelegte Fessel. In der Meditation versuche ich, das eherne Band zurückzuverfolgen, wo es sich als Irrtum herausstellt und letztlich aus keiner besonderen Substanz bestehend. Da ist nichts.

Nichts. Im Treppenhaus treffe ich G., eine der Betreuerinnen von Mama. Auch sie ist sofort dabei: Indien, mach das! Du musst dein eigenes Leben leben. Beerdigung? Na und? Und Dudi, die eine Beerdigung allein ausrichten müsste, was wird die sagen? Auch na, und?

Im Frühjahr 2012 war ich das letzte Mal in Indien und damit auch das letzte Mal auf großer Reise. Ich konnte ja nicht weg. Unsere kleine Gruppe bestand aus reiner Unbeschwertheit. Versaute Witzen beim Spaziergang am Ganges, leckeres Essen, abendliches Zusammensein bei indischem Tee. Vorträge, Konzerte, Meditationen. Feuer und Sonne. Das Holi-Fest. Die Vorberge des Himalaya, der Oberlauf des Ganges.
Der gebliebte Lehrer.

Nach Hause kommen, zu Hause sein.




Mittwoch, 1. März 2017
Sie denke darüber nach, wieder nach M. zu ziehen, sagt die Mutter. Und wie immer staune ich, wie wenig sie ihre körperliche (und geistige) Situation begreift. Sie ist schwerst pflegebedürftig, sitzt im Rollstuhl, kann nicht mal allein aus dem Bett steigen oder aufs Klo gehen, ist orientierungslos, was körperliche Bedürfnisse oder Tageszeiten betrifft, ganz zu schweigen von den Finanzen, danach fragt sie manchmal und erwidert anschließend gut, dass es mir mal jemand erklärt hat. Und wie immer argumentieren Dudi und ich fröhlich drauf los, was gegen einen Umzug spräche, als gäb’s Preise dabei zu gewinnen. Fröhlich. Natürlich nicht. Es spricht alles dagegen, aber ihre Gründe sind natürlich verständlich, wer möchte schon mit einem Haufen fremder alter Leute zusammen wohnen, und so geraten wir, wie immer, in das Dilemma, ihr vollkommen irrationales Weltbild bedienen zu müssen, denn wir müssen doch reden, oder? Es laugt uns aus.

Das ist sicher nicht so gedacht. Mittlerweile habe ich Unmengen über Demenz gelesen, gehört und angesehen. Wenn ich Mama beobachte, kann ich mitempfinden, wie sie sich fühlt und auf welche Weise hakelige Gedanken durch ein löcheriges Hirn kriechen, uneinholbar, wenn sie davoneilen und verwirrend, wenn das Ende eines Satzes nichts mehr mit seinem Anfang zu tun hat. Sie hat auch, eher selten, aggressive Phasen, beschimpft dann, beleidigt und schlägt Pflegerinnen, zweimal hatte man mich gebeten zu kommen, um sie zu beruhigen, mittlerweile habe ich Angst vorm Telefonläuten, und wie immer, wenn jemand vom Stift anruft, wird keine Sorge, es ist nichts Schlimmes vorausgeschickt. Aber ich finde es schlimm, die Mutter völlig aufgelöst vorzufinden und mir ihre bösen Tiraden gegen alles und jeden anzuhören. Die eindringlichen Gespräche, die ich dann mit ihr führe, kommen mir so vergeblich vor bei diesem rückwärts gerichteten Gang, wieder Kind zu werden, um endlich im völligen Vergessen zu enden. Aber so weit ist es noch nicht. Sie beklagt sich bei Dudi, ich hätte ihr gesagt, sie solle endlich sterben.

Das ist es wohl, was ich denke, aber natürlich habe ich es anders formuliert, dass sie nicht wegen uns diesen ganzen traurigen Weg gehen muss, sondern sich jederzeit verabschieden darf, wenn sie nicht mehr kann.

Ich schaffe es (noch) nicht, die Dinge irgendwie positiv zu sehen. Dabei gibt es Besuche, die sehr lustig sind, wir können über die unsinnigsten Sachen lachen, und gerne nehme ich von ihr Behauptetes und verdrehe es in absurde Richtungen, der Sinn für diese Art von Humor ist ihr noch nicht abhanden gekommen und ihr in tausend Lachfalten geworfenes Gesicht finde ich überaus entzückend. Da ist dann diese große Nähe, vielbeschworen bei allen Angehörigen dementer Leute, eine seltsame Art später Freude, für mich ist sie zu spät, ich will sie jetzt nicht mehr, wo sie nicht mehr echt und klar ist, von einem vernebelten Hirn produziert, überdies erinnernd die klebrige Nähe und Bedürftigkeit früherer Zeiten. Es ist alles zu spät und vergeblich.

Vergeblich auch mein Versuch, aus dem Leben der Mutter zu lesen, es zu begreifen als ein Vorspiel für das eigene Leben. Ihre Kindheit und halbe Jugend im Krieg, die Angst verlassen oder in Kellern verschüttet zu werden oder zu sterben. Die Angst, die Eltern zu verlieren als ständiger Quell dieser lähmenden Bedürftigkeit, die dazu geführt hat, die eigenen Wünsche und Lebenspläne aufzugeben (oder gar nicht erst zu entwickeln) und sich denen des Ehemannes und der Schwiegermutter anzupassen. Deshalb auch die immense Wut auf meinen Vater, der wiederum versucht hat, aus der selbstgeschaffenen Enge zu entfliehen, erst in Urlauben, die allein verbracht wurden, dann zehn Jahre Trennung und zuletzt im Sterben, und immer blieb eine völlig hilflose und zunehmend verwirrte Mutter zurück, die nun in der Demenz alles vergessen kann – darf – will.

Das ist, kurz gesagt, das was ich davon halte. Ihre Demenz ist eine Folge ihres Lebens. Es hat sie möglicherweise nur wenig interessiert. Nur wir Töchter sind ihr ein und alles und sie versteht gar nicht, wie belastend das ist. Hat es nie verstanden, für sie ist es wahrscheinlich ein Kompliment an uns. Ist es aber gleichzusetzen mit Liebe? Dudi fragt sich oft, was sie für diese Frau empfindet – sie nennt es Mitleid. Im besten Fall. Ich hingegen versuche, Mitgefühl und Geduld zu üben, so als wäre meine Mutter ein Studienobjekt meines spirituellen Handels. Meine ich dann wirklich sie?

Man sagt, alles in der Welt sei miteinander verbunden. Und trotzdem wird es als wichtig erachtet sich abgrenzen zu können, um die eigene Kaft zu erhalten. Eine perfekte Zwickmühle für mich Grüblerin. So eine Art koan. Manchmal bin ich nah dran, manchmal verzweifele ich. Was vielleicht auf das Gleiche drauf raus kommt am Ende.




Freitag, 27. Januar 2017
Es müsste hier mal wieder geputzt werden. Vielleicht kommt Dudi nächste Woche, die muss ja nicht in Staubflusen waten. Die vielen Wollobjekte des Haushaltes atmen überall hin und an einigen Stellen sammeln sie sich, vor der Badezimmerschwelle, da kommen sie nicht rüber oder unter der Heizung dort. So allgemein von Süd nach Nord. Es gibt auch einige Spinnen von jenen zarten kleinen, die dürfen gern bleiben, aber in der Küche gibt es schon feine Berührungen von Weben, am nackten Arm, den ich nach dem großen Glas mit Reis recke.

Es tut gut, die Aufmerksamkeit auf solche Dinge zu richten. Es gab eine Art overflow zu aufregender Gedanken an früher oder später, lange Telefonate mit Dudi über unsere Kindheit und Jugend, über die Eltern. Eine Weile neigte ich dazu, sie zu idealisieren, der Zweck möglichwerweise eine Art Versuch Frieden zu schließen – zu verzeihen. Dieses wunderbare Buch von Svenja Flaßpöhler, Verzeihen – Vom Umgang mit Schuld, verhalf mir zu Einsichten, die tatsächlich Frieden in mir auslösen konnten, ohne diesen Blick zurück, einfach in der Erkenntnis, dass ich keine Schuld habe. An nichts. Dass niemand Schuld hat. Dass Schuld ein Konzept ist, welches sich bei näherer Betrachtung in nichts auflöst. Da war dieser Moment, letzte Woche Montag, als ich nach einer schweren Nacht, da das Herz mit allen drängenden Gedanken dieser Welt gefüllt ward, aufsprang mit dem klarsten Satz ich muss dies alles gar nicht denken, und die Welt besteht nur aus unseren Gedanken!

Und ebenso plötzlich, das Herz war leer! Es war nicht einfach nur ein intellektuelles Erkennen der Nutzlosigkeit dieser Art des Denkens, sondern ein echtes, so zartes und trotzdem deutliches Gefühl in der Herzgegend, dass diese leer sei. Der gesamte Brustkorb sei leer. Wie nach einem Gewitter der Himmel wieder leer von Wolken ist, trotzdem gefüllt mit Bläue, so war das Herz, es war leer –

Den ganzen Tag verbrachte ich damit, die Aufmerksamkeit dorthin zu lenken, verbunden mit einem großen Staunen. Da war nichts, keine Sorgen, keines der Bilder über die siechende Mutter, die mich so quälen, nichts darüber, wie die Zukunft sein würde/könnte/sollte/müsste … so leicht hatte ich mich seit Jahren nicht gefühlt! Frei von Schwere! Nach all der Zeit!

Nun, war es wieder fortgegangen. Ich konnte es nicht halten. Nicht durch das Imaginieren der Leere im Herzen ließ es sich wieder herstellen, nicht durch Erinnern der Sorglosigkeit, nicht mit so tun als ob. Wieder kamen belastende Bilder zurück, Sorgen um die Zukunft – 
Allein, das Grübeln über die Mutter ist im Moment nicht (mehr) da.




Donnerstag, 12. Januar 2017
Angst hab' ich. Hier im Herzen kann ich sie fühlen. Sie tut nicht weh, und doch ist sie unerträglicher noch als Schmerz. Hatte sich versteckt. Ist jetzt voll da. Szenen werden lebendig: Das Kind zwischen den streitenden Eltern, ein Wort gibt das nächste, Vorwürfe und Gehässigkeiten wechseln hin und her. Wechseln sie? Ist es nicht bloß die eine, die Böse, die nicht aufhören kann, dem anderen Unaussprechliches ins Gesicht zu schreien? Ist nicht der andere der, der sich bloß wehrt, der körperlich werden muss und gewalttätig, als einzige Möglichkeit, sich zur Wehr zu setzen. Hatte er Angst? Seine Angst ist jetzt die meine.

So könnte es gewesen sein. Genau anders als wir dachten. Was kann es sein, das jemand bloß sagen muss, dass es weh tut? Wie ist es möglich, dass Worte überhaupt eine Macht haben? Ich verstehe das nicht, und doch sehe ich es überall, Worte können uns töten.

Später begannen sie, Sachen kaputt zu machen, und irgendwann warfen sie mit Sachen um sich. Sie hätten sich töten können. Aber warum? Was genau war zwischen ihnen vorgefallen?

Ich habe Mama oft danach gefragt, aber sie hatte keine Antwort. Ist es sinnvoll, das zu wissen? Oder ist es nur ein ganz normales menschliches Drama, das sich überall auf der Welt wiederholt. Grundlos. Vielleicht gibt es keinen Grund. Grundlosigkeit scheint mir am meisten Angst zu machen, das Irrationale, das Unerklärliche. Das Große Geheimnis. Da ist nichts zu verzeihen – weil ich nichts verstehe.

Die Angst hier im Herzen ist stark, und geheim – the cave of the heart ist ein höchst geheimer Ort. Und ich erzähl' euch davon. Hier ist noch alles ohne Sprache. Es ist der unschuldigste Ort. Es ist das Herz des Kindes, das nichts Böses kennt. Mein Herz.




Dienstag, 10. Januar 2017
1.2 Yoga ist jener innere Zustand, in dem die seelisch-geistigen Vorgänge [Gedankenwellen] zur Ruhe kommen. … 1.5 Es gibt fünferlei seelisch-geistige Vorgänge, (und sie sind entweder) leidvoll oder leidlos. 1.6. (Und zwar die folgenden:) Gültiges Wissen, Irrtum, Vorstellung, Schlafbewusstsein und Erinnerung. … 1.8 Irrtum ist eine verkehrte Erkenntnis, die sich auf etwas gründet, was dem Wesen der Sache nicht entspricht. … 1.9 Vorstellung ist eine Erkenntnis, die bloß auf Worten beruht, die bar jeder Wirklichkeit sind. … 1.11 Die Erinnerung ist das Nicht-Abhandenkommen von (früher) erfahrenen (Sinnes-)Gegenständen. …

Die spirituelle Tradition, der ich mich zugehörig fühle, empfiehlt Mantra-Meditation als eine Möglichkeit, die vrittis, die Gedankenwellen, zu kontrollieren. Diesem Weg folge ich seit 12 Jahren. Mit folgen ist der Versuch gemeint. Es ist ein steter Versuch, ein stetes Üben. Es gibt Momente – in inneren Räumen der Meditation – die dem Ruhigwerden sehr nahekommen. Diese sind meine heiligsten Erfahrungen. Und es gibt Phasen vollkommener Unruhe im Geist.

Bei dem Ansinnen, zusätzlich zu den eigenen die Gedankenwellen meiner Mutter zu kontrollieren, habe ich mich verausgabt. Immer noch versuche ich aus ihren irrtümlichen Gedankenwellen Wahres zu schöpfen, nützliche Erinnerungen, die sich noch verwerten ließen, um diese meine Geschichte abzuschließen, oder Liebes, das mich heil macht. Aber ihre irren Schlussfolgerungen zu allem und jedem machen mich fertig. Mein Versuch, ihr zu folgen, ist mein Irrtum schlechthin, und ich bin genauso in der Irre, wenn ich ihrer Wirrnis beistehe. Sie macht mir regelrecht Angst. Ich sollte damit aufhören.

Und – darunter entdecke ich wieder und wieder den emotionalen Missbrauch, dem ich ausgesetzt war. Eltern mit wirklichkeitsfremden Erwartungen an Kinder und Kindeskinder und die ganze Welt. Es sind ihre Erwartungen, die zu erfüllen ich mich bemühe, seit ich denken kann. Es sind kindliche Wünsche nach einer heilen und gesunden Welt und ich versuche immer noch, die kleine Mutter von leidvollen Erfahrungen abzuschirmen. Das macht mir Angst. Ich sollte mich davon lösen.

1.12 Das Zur-Ruhe-Kommen der seelisch-geistigen Vorgänge erlangt man durch „Übung“ und „Loslösung“. 1.13 Die intensive Bemühung um diesen Ruhezustand ist die Übung. …




Freitag, 6. Januar 2017
Im südlichen Hinterhof werden unter lärmenden Jungsstimmen noch die letzten Böller abgebrannt, ich guck raus, wer sich da so aufregt, ein Hund kläfft. Die Sonne ist jetzt hinter den Dächern. Sollte ich nochmal zu Mama wollen, dann jetzt bald los. Ich schwanke dauernd zwischen Nächstenliebe und Abgrenzung. Hab’ ich noch nicht raus. Was Gutes tun – wem zuerst?

Die Welt ist recht klein geworden. Mag mir keine Geschichten von Leuten mehr anhören, vieles schwächt mich, weil ich sofort mit großem Schwung mittendrin bin und Meinung habe. Die ich auch zum Ausdruck bringen möchte. Auch hier: Wieso eigentlich? Reines Zuhören kann ich meist nicht mehr, es ist doch immer dasselbe sich im Kreis drehen. Noch ein Pferd, noch ein/e Geliebte/e, noch ein Geldwunsch bzw. ein -nichthaben. Dudi sagt, sie könne solchen Erzählungen oft schon deren zukünften Verlauf voraussagen, genauso erschreckend wäre es, die anderen blind in ihre Voraussagbarkeit hineinleben zu sehen. Mir geht es ähnlich. Ich finde mich in der Rolle der Warnenden, zur Zustimmung müsste ich mich zwingen. Als würde mein Segen irgendetwas ändern.

Was kann ich mir denn selbst voraussagen? So zum Jahresbeginn. In der imaginären Glaskugel sehe ich, dass der Bildhauer und ich uns auch dieses Jahr noch gewogen sein werden. Dass sich das Thema Arbeit/Geld gravierend ändern wird. Dass ich die Mutter loslassen kann und Weggefährten wegfallen. Dass dass ich mich allgemein reduziere, sich meine spirituellen Erfahrungen verdichten und ich gesund bleibe. Ein neues Kunstprojekt mit dem Bildhauer beginne. Und dass ich hier bleibe, oder mal wegfahre für ein paar Tage. /Glaskugel ende




Donnerstag, 5. Januar 2017
Ich bin jetzt mehr oder weniger entschlossen, das Jahr 2017 freizumachen, ich will es jetzt nicht großartig sabbatical nennen, und natürlich könnte man behaupten, ich hätte schon letzten Herbst damit angefangen. Ein bisschen. Vor ein paar Tagen habe ich nach neuen Jobs geschaut, und auch etwas gefunden, das ich immerhin so interessant fand, um eine Bewerbung zu erwägen. Gestern aber ist die kleine Mutter durchgedreht, sie war so wütend auf alles und jeden und schimpfte und schlug um sich. Ich war ein paar Stunden bei ihr, um sie zu beruhigen und mit ihr zu reden, es wurde eine echte Standpauke über Mitgefühl und Freundlichkeit, und sie jammerte, das kann ich nicht, das kann ich nicht, heute morgen musste ich schon drüber lachen. Gestern aber war ich mit den Nerven fertig und dachte, wie soll ich bei all den Ablenkungen arbeiten? An was denn überhaupt, was wichtiger ist als dies: Im Frieden mit sich und den Menschen sein, mit der Vergangenheit und den Feinheiten der aufsteigenden samskaras, herausfinden, was ich wirklich tun möchte in dieser aufregenden Welt. Stefan Sagmeister, der große Grafik-Designer, den ich bis jetzt gar nicht so ausführlich kannte, ist mit seinem Film in aller Munde und hat auch ein Jahr nicht gearbeitet. Letztlich hat er doch gearbeitet, aber eben für sich, das musste ich jetzt mal kursiv setzen, der hat das auch gemacht – als würde ein Kleinkind sprechen.

Tatsächlich, es gibt immer noch diesen kindlichen Rechtfertigungszwang, da hinten in der Ecke des Geistes, auf jeden Fall was tun müssen, produktiv sein. Verflixt. Und vielleicht bin ich auch keine so große Designerin, der eine Schaffenspause gebührt.

Aber vielleicht sollte ich einfach mal die Klappe halten und machen.
Am besten gleich alles kursiv.




Samstag, 19. November 2016
"Ich weiß manchmal nicht mehr, wie viele Kinder ich eigentlich habe", sagt sie. Bei sowas zerspringt mir fast jedesmal das Herz. Na, sage ich, zwei Töchter – Dudi und mich. Noch immer lege ich jedes ihrer Worte auf die Goldwaage, und für mich ist sie beides, meine Mama und gleichzeitig eine völlig unbekannte Frau, die wirr vor sich hinredet. Ich suche nach Wahrem, zwischendrin, das hört nicht auf. Bist du traurig, wenn ich sterbe, fragt sie und schaut ein bisschen an mir vorbei, obwohl ich ihr beinah in der Nase sitze, um sie ganz nah zu haben.

Swami sagt, es gäbe keine dementen Yogis, als ich ihm meine Befürchtungen mitteile, die Krankheit erben zu können. Manchmal fallen mir Wörter nicht ein. Mir auch nicht, lacht er. Als visueller Mensch habe ich aber neben dem Abbild des Objektes das Schriftbild eines Wortes vor Augen, so lese ich es zur Not einfach ab. Trick 17.

In der letzten Zeit haben die Buddhistin und ich oft anstrengende Diskussionen, die sich wie kurz vor Streit anfühlen. Diese Entwicklung gefällt mir nicht. Wir versuchen einander noble Freunde zu sein, mit jederzeit abrufbaren philosophischen Empfehlungen für alle Notfälle, deren es genug gibt: meine kleine Mutter, ihre 20 Jahre jüngere Geliebte etc., da ich aber dem Vedantischen fröhne und sie dem Buddhistischen anhängt, gibt es weltanschauliche gaps. Mir ist aufgefallen, dass mich der Buddhismus mit Leben ist Leiden auf Dauer echt runterzieht. Jaja, ich weiß doch, Vergänglichkeit ist unschön, und jeder Wunsch zieht weitere Wünsche nach sich, und am Ende springt man irgendwo runter, damit das Ganze aufhören möge. Oder man beginnt zu meditieren und dann weiß man noch genauer, wie unschön eigentlich. Vedanta und Co. hingegen scheinen mir aus dem Schönen zu sprechen, vom Schönen, man ist sozusagen schon in Sicherheit und kann halbwegs gelassen auf das Leid schauen. Das genau scheint mir der Punkt in unseren verzweifelten Disputen zu sein, die Buddhistin erlaubt sich das Gelassensein (noch) nicht, während ich es schon bin. Jedenfalls des öfteren. Was ich mir aber nicht traue zu sagen, um ihr Leid nicht zu schmälern, oder ihr Ego – welches das Leid erst macht. Und so weiter. Das ist alles intellektuelle Kacke, während wir so reden, werden da Ebenen vermischt, die nicht zusammen gehen, und das erkennen wir im Gefecht nicht, erst hinterher liege ich die halbe Nacht wach und versuche, das Knäuel zu lösen; bin viel zu nah dran. Ich habe mir vorgenommen, mich nicht mehr drauf einzulassen, ich werde ihr weiterhin zuhören, die noble Freundin bleiben, aber meinen Kram behalte ich für mich. Es wäre am schönsten, wenn ich einfach gar keine Meinung mehr haben müsste. So direkt zur Synthese leiten, und dann nach mir die Sinntflut.




Sonntag, 13. November 2016
Das erste Mal seit langer Zeit kränklich, lustlos, halsschmerzend und langsam im Kopf. Auf einer 40jahr-Firmenfeier am Samstag wurde sich über Burnout ausgetauscht, vielleicht wäre das auch eine Option für mich. Eine ereignislose Kur fernab von telefonischer Bereitschaft, und etwas Geld ohne zu arbeiten. Das ohne zu arbeiten praktiziere ich auch so, das bedeutet natürlich auch keine Einkünfte. Den fehlenden Geldzuwachs könnte man durch den Verkauf des Elternhauses abfedern, wenn der denn genehmigt würde. Die Betreuerin, die das Gericht als Bevollmächtigte der Mutter bestimmte, empfinde ich als voller Vorwürfe gegen mich. Es sei nicht rechtens gewesen, das Sparguthaben meines Vaters durch drei zu teilen, ob die Mutter denn auf ihre Hälfte verzichtet hätte? Erst später wird mir klar, dass man einfach davon ausgeht, dass die Mutter vor sechs Jahren schon dement war. In einem langen Brief berichte ich der Betreuerin und dem Gericht von dem, was ich beim Vorsprechen aus Stress unfähig war zu sagen. Vor Gericht also, verdammt! Ob diese Schuldgefühle irgendwann endlich aufhören? Das beste an dieser Auseinandersetzung ist, dass ich mir selbst klar werde, was für eine Menge Gutes ich für die Mutter getan und geregelt habe. Vielleicht wird das die Schuldgefühle vertreiben können. Wir werden das Haus außerdem nicht für einen Preis verkaufen dürfen, sagt die Betreuerin, der um so viele Tausend unter dem Gutachten liegt. Ich würde sie als Rockerbraut bezeichnen, optisch, und wenig empatisch, ob Rechtanwältinnen darin auch geschult werden? Jedenfalls bringt sie mich zum Weinen und wahrscheinlich hält sie meine Tränen für falsch, ein weiterer Grund, unfreundlich zu mir zu sein.

In der Nacht träume ich von einem metergroßen mumifizierten Embryo mit schwarzen Augenhöhlen, den ich aus dem matschigen Grund ziehe, zusammen mit anderen Hindernissen, die unserem holzberäderten Wagen im Weg liegen. Sehr ekelig, doch später sehe ich das Kind, das in diesem sich als Film entpuppenden Szenario mitmacht, auf der Wiese spielen, selbstvergessen und fröhlich, mit dickem schwarzen Kurzhaar, zu früh seine Mumienrolle vergessend, obwohl die Kamera noch läuft. Wir lachen und werden das nochmal drehen müssen. Ein in der Nachschau poetischer Traum mit guten Zeichen, aber trotzdem erst noch ein bisschen krank sein und jammern. Nachher rufe ich Dudi an, die soll mich trösten, die kleine Mutter selbst braucht eigenen Trost, auch das ein Grund zum Weinen, ich habe keine Mama mehr die mich trösten kann, rufe ich dem Bildhauer zu, nicht ohne gespielte Dramatik, die er mir natürlich verzeiht. Er vermag nicht so viel tun, außer die Stimmung mit ein paar Niedlichkeiten zu wenden und mich zum Lachen zu bringen.

Wie gehen wir vor. Ich weiß es nicht. Ich lese viel – in den alten Schriften des Vedanta, mache weiter mit der großen Mantraübung, vertiefe mein Englisch anhand Phil Collins’ Biografie, schaue Filme, die mir gut tun und denke mir Kunst aus, oder Design oder wie man das nennt. Es ist trotz des Gefühls von Stillstand eine kreative und äußerst erkenntnisreiche Zeit. Die Mutter hat möglicherweise die letzten 50 Jahre vergessen, auch auf den alten Fotos kein Erkennen des hinfortgewünschten Hauses, eine kleine Erinnerung nur an die Wickenhecke, von der Besucher je ein Sträußchen mitbekamen, das ist aber auch schon fast die gleiche Zeit her. Aber sie berichtet lebhaft von Alltäglichkeiten im Heim, die ihre gesamte Aufmerksamkeit einnehmen. Fast jedes Mal erzähle ich ihr von der Hüft-OP und warum sie nicht mehr gehen kann, was sie jedes Mal erstaunt quittiert und – wahrscheinlich sofort wieder vergisst. Es gibt aber auch viel zu lachen, über Schabernack, mit niedlich gefälteltem Mund vorgetragen, und kleinen Frechheiten. Stets freut sie sich über die mitgebrachten Blumen oder eine Süßigkeit – ihr Leben ist sehr einfach geworden. Mich animiert das wiederum ebenso zu Simplifizierungen meines lifes, hinfort auch alles zu Komplizierte. Ich sollte nun endlich auch anfangen, die letzten 50 Jahre zu vergessen. Das würde mir gut tun.




Freitag, 15. Juli 2016
Und weil die Buddhistin und ich überhaupt nicht im Training sind, fühlen wir uns nach je eineinhalb Gläsern feinstem Rotwein aus Portugal als hätten wir ordentlich einen im Kahn. Sie hat ihr Fernstudium mit 2 abgeschlossen, ein Anlass zur Freude, und auch zum Grundsatzcheck des Geistes, der ja immer so mitläuft, als wäre er ebenfalls besoffen. Wir haben viel zu reden, am schönsten sind die Phasen, in denen wir uns mit unseren Eltern versöhnt fühlen. Ich erzähle von der kleinen Mutter, wie immer mit großer Rührung, wir kramen unserer Mütter Erinnerungen aus, wie jung sie waren, und wie toll die Kerle, mit denen sie irgendwie gezwungenermaßen eine Familie gegründet haben. Der Wein macht, dass wir ihre Beweggründe er- äh, gründen, und wir halten unsere Hände und postulieren, dass man sich auch liebhaben kann, ohne sich sexuell zu vereinen und so weiter, es ist alles so ganz wunderbar und so muss es auch nach dem zweiten gut eingegossenen Getränk sein, wir kommen doch wohl je auf 350 ml, was ja zusammen schon fast eine ganze Flasche macht und so, und morgen trinken wir zum Frühstück je zwei Ramazotti, was wir noch nie gemacht haben, weil wir je zwei schwierige Gespräche vor uns haben, ich über das Ende meiner diakonischen Beziehung und sie über zu leistende Wochenstunden. Ich habe mit den Teilnehmerinnen ein verdammt cooles Alphabet, auch genannt Font, aus Kartoffeln zusammengeschnitzt, jeder sollte übrigens ein eigenes Alphabet haben, vielleicht eines aus den Gesten des Lehrers der Buddhistin und nicht bloß aus Kartoffeln, das wären dann die höheren Weihen.
the quick brown fox jumps over the lazy dog
Wo auch sonst rüber?

Morgen werde ich die kleine Mutter nach Papa ausfragen und wie sie sich kennengelernt haben, vielleicht erinnert sie sich ja noch. Jegliche Konzepte von Ehe und so sind ihr schon in Vergessenheit geraten und mit der Buddhistin bewundere ich die Schönheit der sogenannten Krankheit Demenz. Ganz im Hier und Jetzt, das wollen wir doch alle, oder?