Samstag, 5. Oktober 2013


Das ist jetzt das soundsovielte Bild vom See, ich weiß. Ich brauchte Weite um mich herum, nachdem ich am Nachmittag vom buddhistischen Retreat mehr oder weniger geflüchtet bin, mit dem Fahrrad war ich am Morgen ins südliche Industriegebiet zum vietnamesischen Kloster gefahren, die ganze Strecke, der Morgen war noch neu, die Buddhistin sagte für den Freitag ab, nachdem sie die Nacht migränekotzend keine Ruhe finden konnte. Sie hatte vorgeschlagen, gemeinsam das Retreat zu besuchen, der Mittwochabend war einem Vortrag gewidmet und ab Donnerstag bis Sonntag sollte viel geübt werden, Sitz- und Gehmeditationen, unterbrochen von Mittags-, Tee- und Abendbrotpausen.

Ich bin erschüttert über die Welle der Ablehnung, die mich von innen überschwemmte, während wir so etwas Simples taten wie rumsitzen. Ich mag diese Menschen nicht. Nach kürzester Zeit fühlte ich mich in dem für 30 Leute viel zu kleinen Raum eingesperrt und mit dem Zwang belegt, bewegungslos sitzen zu müssen. Wie schwer fiel mir das, umgeben von rasselnden Atemzügen von rechts, pestartigem Mundgeruch direkt von hinten, Töne aus nicht abgeschalteten Smartphones, dummen oder aggressiven Fragen von seitlich, besserwisserischen Statements aus der letzten Reihe und allgemeinen Geräuschen, die Menschen nun mal so machen. Achtsamkeit. Wie in einem Käfig saß ich in meinen unheilsamen Gedanken und Fassungslosigkeit über die menschliche Natur (meine eingeschlossen) kroch in mir empor. Die Buddhistin berichtet später, sie hätte sangha nervt gegoogelt. Haha.

Ich versuchte, mich an den Lehrer zu halten. Ein Mönch aus Wien, Heimat Sri Lanka, gekleidet in eine dieser braunroten Roben, deren genaue Umwicklung ich zu ergründen suchte, wann immer der Mann sich bewegte und sie zurechtzupfte. Eine schöne Farbe, ebenso das Rot der großen Vase, gefüllt mit duftfreudigen Lilien, auf die am Vormittag ein Sonnenstrahl schien – ein Sonnenstrahl fiel, ein Sonnenstrahl lag. Verschobene Achtsamkeit.

Der kleine Raum unterm Dach ist Teil einer übertrieben verwinkelten architektonischen Idee, die hier in Beton ihre 70er-Jahre-Ausführung verbringt, um eine recht imposante Kapelle herumgebaut, die von großen goldenen Buddhas und Bodhisattvas nur so funkelt, unterstützt von extrem kitschigem Zubehör, Lampenbäumen zum Beispiel, auf Altären liegen Apfel- und Orangenpyramiden, Kinderschokolade, Rocher und diese schrecklichen weißen, viel zu süßen Kugeln der gleichen Firma. Man findet sogar eine Tüte Chipsfrisch und ab einem gewissen Zeitpunkt (meiner Genervtheit) frage mich mich, was genau passieren würde, wenn ich einen Riegel entnehmen würde. Würde der böse Buddha dort hinten in der Ecke auf mich springen, mir seine rote lange Zunge um den Hals legen und mit seinem Schwert den Kopf abhacken? Oder würde die gütige Version mir voller Mitgefühl zuraunen, sie wisse genau wie Zuckersucht sich anfühlt.

Anfangs noch wohlwollend, fiel uns die Lieblosigkeit im Kloster erst langsam ins Auge. Das Grundstück mitten im Industriegebiet wurde sicher äußerst günstig erworben, trotzdem würde der geneigte Besucher vielleicht einen kleinen Garten ersehnen, statt dessen ist das gesamte Areal mit diesen zickzackförmigen Betonsteinen gepflastert und als Parkplatz ausgewiesen, in den Pausen sitzen die Buddhistin und ich auf Waschbetonbänken zwischen Autos in der Sonne, schauen auf eine große goldene Figur, in gleicher Fluchtlinie ein fetter Mobilfunkmast mit rotem Lichtpunkt, oder ergehen uns in die nahe Umgebung Richtung Bahnlinien, komm, lass uns mal den Müll anschauen, schlägt die Buddhistin vor, da liegen Styroporplatten und verwitterte Möbel schon seit Jahrzehnten. Oder wir laufen durch die nahe Plattenbausiedlung und sie erzählt mir von ihrer Jugend in ebensoeiner.

Am Ende eines anderen steinigen Brachgeländes direkt neben dem Kloster finden wir plötzlich einen Palettengarten mit Salat, Kräutern, Kürbissen und einer riesigen Zucchini, die jemand auf zwei Styroporstückchen gelegt hat, damit sie trocken bleibt. Hinterm Stahlcontainer eine Hängematte mit Stockflecken und wir fragen uns, ob dieses winzige Bisschen Natur wohl zum Kloster gehört, ein Übergangslager für vietnamesische Kriegskinder, immer noch auf der Flucht wie unsere Elten.

Im Gebäude selbst begegnen uns gelangweilte Mönche und dieser typisch asiatische Schmutz, der üblicherweise per Wischmob von einer Ecke zur anderen transportiert wird und im Laufe der Jahre eine unansehnliche Speckschicht in bodennahen Ecken hinterlassen hat. Durch die Baderäume zieht ein blöder Geruch und die Türen quietschen bis in die hintersten Winkel, überhaupt diese ganzen Winkel, ich brauche eine Weile, bis ich mich zurechtfinde, zum Essraum geht man durch komische Flure ohne Funktion, die mit Kram vollgestellt sind, und der fensterlose Essraum selbst erstaunt mit fleckigen Plastiktischdecken in Neonlicht – allein die zubereiteten Gerichte sind lecker, soßiges Gemüse, Reis, frischer Salat und kleine Frühlingsrollen mit süß-saurer Chilisoße, deren Behältnisse wir zusammen mit Maggiflaschen in einer Kiste neben dem Gelände finden.

Soviel Hässlichkeit, der ich schlichtweg Unachtsamkeit unsterstelle, zerrt zusätzlich an meinen Nerven. Beim Sitzen spüre ich jetzt auch den linken Ischiasnerv und die Idee, das Retreat bald zu verlassen, gewinnt an Farbigkeit. Zum Mittag rufe ich die Buddhistin an, frage nach ihrer Migräne und deute an, dass ich heute beenden werde, weil ich von äußerst unschönen Gefühlen geplagt mich außerstande sehe, konzentriert dem Geschehen zu folgen und was das Ganze überhaupt soll. Ich sehne mich nach friedlichem Yoga, nach etwas Hatha für die steifen Gelenke, nach ayurvedischem Essen ohne Chemiesoße und nach profunder Philosophie, die meinem Wissensstand entspricht. Und ich sehne mich nach Erhabenheit, die aber will mir der Buddhismus ohnehin nicht schenken, kommt er doch ohne eine Gottesvorstellung aus, grübelt doch die Vipassana-Mediation in eigenem Gedanken- und Gefühlssud ohne Ausweg und die Samata-Meditation über dem Atem. Den bindu finde ich hier nicht.

Als ich ich mich am Nachmittag davonstehle, empfinde ich Scham. Die Perle dieses Geschehens werde ich aber sicherlich zu finden wissen. Einen Umweg fahre ich, zum See, der Blick auf sieben Hektar Wasserfläche soll mich trösten mit der Erinnerung an einen schönen Sommer unter einem luftigen Himmel.




Mittwoch, 2. Oktober 2013
  • wie die Sonne durch die immer noch grünen Blätter des Waldes fällt, und wie die Buddhistin und ich dort gehen, und wie uns in der Gaststätte des Aussichtsturms Gesprächslärm entgegenknallt,
  • wie die Lieblingschefin mir Fotos von meinem Blumenstrauß zeigt, den einzigen, den sie mit nach Hause genommen hat nach der Einweihungsfeier,
  • wie ich mit einem (mir unbekannten) guten Freund der Gärtnerin in lebhaftes Gespräch komme, und wie seine Partnerin ihn mit einem Kuss (als den Ihren) markiert,
  • wie buntes Licht durch die Glasfenster des Doms auf Mama und mich zeigt, wie wir dableiben für eine Weile,
  • wie mir im Taxi beinahe Tränen kommen bei I really wanna see you, really wanna be with you, really wanna see you lord, but it takes so long my lord, um uns der Abendhimmel,
  • wie sich der selbst gestrickte (und sofort Lieblings-)Pullover von innen anfühlt,
  • wie ich eineinhalb Stunden in der Stille sitze und wie ich das genieße,
  • wie die frisch gekochte Ghee duftet.
  • Und Nachtrag: Wie Julian und Sean Lennon heute aussehen.




Samstag, 28. September 2013


Später klart es auf und ich fahre zum See. Das Wasser wird zu kalt sein zum Schwimmen, aber ich nehme trotzdem ein winziges Handtuch mit, das in die Jackentasche passt. Es ist alles still dort, ein beinahe getrockneter Fußabdruck auf dem Holzsteg, das Gras der Wiese wieder grün, Abendfarben liegen auf den westlichen Bäumen, aber die Sonne schafft es nicht mehr ganz über den Wolkenrand.




Donnerstag, 26. September 2013
Langsam wieder aus dem Dunklen auftauchen und wenn ich mich ruhig verhalte, lässt auch das Herzstolpern nach. Jeder sattvische Gedanke löste Schuldgefühle aus – warum zufrieden sein (wollen), wenn es anderen Menschen schlecht geht. Nach einer Erlaubnis zum Glücklichsein fragen, wie absurd. Die Beschäftigung mit den Kriegskindern und den Kriegsenkeln hat mich mehr belastet als ich dachte. In Träumen der letzten Nächte habe ich weinen müssen. Jetzt aufhören, die Welt retten zu wollen. Lange Gespräche mit meiner Schwester Dudi über Vergangenes. Sie redet von moralischer Verpflichtung, während ich in größeren Zeiträumen denke, und trotzdem zeitweilig die Beobachterposition verliere. Das symbiotische Verlangen dieser Familie (dieses Lebens) ist sehr stark, Wahres und Falsches vermischen sich in äußerst irritierender Weise mit undurchschaubaren Spielchen, die wir nur langsam entwirren. Der Herzmuskel nimmt jede Feinheit war, auf jeden meiner Atemzüge und Gedanken reagiert er, jede Ungerechtigkeit registriert er mit einem brennenden Gefühl.




Samstag, 21. September 2013
  • Den Kleiderschrank ausgemistet, fünf 20-Liter-Beutel mit Klamotten, Schuhen und Stoffresten stehen bereit. Die drei Lieblings-T-Shirts behalte ich noch: Cutie 2002 von Paul Frank aus HK, Mind The Gap aus London, und das mit dem völlig aufgelösten Blütenaufdruck, mindestens 13 Jahre alt. Dafür gibt es neue T-Shirts und ein Hoodie.
  • Stefan S. auf dem Markt gesehen und sogar von ihm gegrüßt worden, er ist der Kanditat für äh, Moment, ich muss nachschauen – achso, er will Oberbürgermeister werden. Wieso, der andere war doch gerade erst gewählt. Mir gefällt Stefans Anwesenheit im Viertel, jemand der sich kümmert und fremde Leute grüßt. Wählen tu ich ihn deshalb trotzdem nicht. T. und ich hatten damals, als er noch Gewerkschafter war, für ihn Grafik-Design gemacht. Ein leiser, zurückhaltender Mann, jetzt leibhaftig auf dem Markplatz, Flyer verteilend.
  • Selbstgemachtes Popcorn
  • Wieder angefangen zu Stricken. Aus naturbelassener Wolle vom Bio-Schaf wird langsam ein dicker Winterpullover, einen Rollkragen soll er haben. Finger flutschen noch, sogar das Stricken mit fünf Nadeln geht.
  • Ein Tag mit Mama. Zum Tee lese ich ihr aus dem Buch "Kriegsenkel" vor. Wir sind beide berührt. Ich finde Sinnvolles zum Thema schlagende Väter.
  • Ich träume von H., meinem frühen Kollegen aus Praktikumszeiten. Wir hatten damals eine heimliche Affäre. Er war ein aufregender und kreativer Liebhaber. Wie wir im Traum vertraut sind und auf diese besondere Art miteinander reden, mit etwas verschlafenen Stimmen. Hand in Hand spazieren wir durch die Heimatstadt, ohne uns zu verstellen. Gestern, während Mama beim Friseur sitzt, gehe ich durch ein Treppenhaus hoch zu seinem Büro und klingele, das Herz schlägt mir buchstäblich im Hals vor Aufregung, ich würde einfach behaupten, ich sei aus der Puste vom Treppensteigen, wenn das Herz sich nicht beruhigt. Niemand macht auf und ich sehe durch geschliffenes Bleiglas einen leeren Kleiderständer und links durch die Tür auf dem Tisch einen bunten Stapel Arbeitsunterlagen. Mir fällt ein, dass ich hier schon mal so stand, ebenso aufgeregt. Ich würde ihm erzählen, was ich von ihm geträumt habe und er würde mich ins Herz nehmen. Er besitzt noch all unsere Nacktfotos.




Diesmal ist es schlimmer denn je. Ich fühl mich wie das Häschen in der Grube, das saß und schlief. Streit mit der Busenfreundin, der mich zurückführt in die Jugendzeit – zwischen den regelmäßig aufkommenden Wutanfällen meines Vaters, nach denen die Welt sich für ein paar Tage anfühlte wie untergegangen, wieder Wochen des halben Frohsinns mit vorsichtigem Vertrauen, dass das Schlimme nicht wieder passieren würde. Dann plötzlich aus heiterem Himmel, ich ein Kind und ein Mädchen, das Liebes will, seine Wut, seine verheerende Zerstörung des mühsam wieder Aufgebauten. Schreib ich dies, kommen wieder Tränen, so weh tat es. Die Busenfreundin, selbst mit einem cholerischen Vater – wegen eines Witzes, den ich danach noch dreimal extra als Witz ausgezeichnet hatte, aber sie hört nicht auf mich, gerät sie so in Wut, dass einige bitterböse Mails zwischen uns hergehen, die ihren lang mit unsinigen Argumenten und Rechtfertigungen, in der Erregung gespickt mit Fehlern, senden ohne nochmal drüberzulesen, meine Antworten kurz und auf dem Punkt ihrer diesmaligen Schuld, innerlich wütend über die Unterstellung einer bösen Absicht, und dann zum ersten Mal sage, schreibe ich: Du tust mir weh!

Ich brauchte die ganze Woche oder noch mehr, um mich halbwegs von der Attacke zu erholen. Es ist mir unmöglich, ihre Annäherungen zu akzeptieren, sind wir wieder gut, ruft sie mich an, ich bin gerade beim Frühstück und möchte jetzt nicht sprechen, eine SMS zum gemeinsamen Abendbrot, ich komme nicht, schreibe ich zurück, sie auf der Mailbox, sie führe jetzt zum Dalai Lama, was soll ich antworten, der Dalai Lama ist mir egal.

Ich schlafe viel und bemühe mich zu fühlen. Wenn ich davon erzähle, wird mir schlecht, ich träume, dass ich ihr ins Gesicht schlage, immer wieder, sie grinst nur und merkt nichts, wie oft hatte ich diesen Traum mit meinem Vater, unzählige Male drischt meine Faust auf seine Nase, seine Stirn, seine Augen, seine Lippen ein, treten meine Füße in seinen Bauch. Er bleibt bewegungslos.

Ich habe ihm nie gesagt, dass er mir weh tut. Du kannst mir gar nichts, sollte ein Zeichen von Überlegenheit sein. Die es nie gab. Sein Handeln war ungerecht, unangemessen und blieb unverständlich. Ja, die Ungerechtigkeit und die Grundlosigkeit seiner Wut waren am schlimmsten, ich habe doch gar nichts getan! Sieh mich an, ich bin dein Kind, wie kannst du so wütend sein, wenn du mich angeblich liebst?

Die Busenfreundin hat sicher Ähnliches erfahren mit ihrem Vater und möglicherweise ist genau dies, was uns verbindet. Ein grundlos wütender und um sich schlagender Vater, verbal oder tätlich. Umso schlimmer, dass wir uns ebenso verhalten. Dieses Mal hat sie seine Rolle eingenommen, perfekter denn je, und genau deshalb endlich durchschaubar.

Wir werden miteinander reden (müssen), aber jetzt kann ich das nicht.




Freitag, 13. September 2013
Nun ist es soweit: Heute hat auch dieser Blog einjähriges Bestehen. Zeit für einen Rückblick, der nicht allzu sentimental ausfallen wird, denn in einem Jahr kann nicht viel Schicksal geschehen sein. Oder doch?

Die Blumen sind für mich.

Vor einem Jahr also, da musste mehr Freiheit rein ins Leben. Gebeutelt von einer der seltsamsten Beziehungen, der ich je beiwohnte, beschloss ich jene aufzulösen und mich wieder anderen Dingen zu widmen, als stundenlang zu telefonieren und über verkorkste Esoterik zu lamentieren. Ein guter Neubeginn, wie stets mit Graham Coxon, den ich sechseinhalb Jahre zuvor in Köln gesehen hatte und nun wieder letztes Jahr. Danach zur Entspannung und Vertiefung der Trennung eine Reise an den See zu Frl. Montez, gemeinsam hatten wir das Blogschreiben ausgeheckt, geplant und erneuert, nachdem wir uns eine gute Dekade zuvor in einem Literaturforum kennengelernt hatten.

Eine Jugendfreundschaft wieder aufgenommen und altes Karma besprochen, der darin erwähnte very good man ist bisher aber noch nicht aufgetaucht. Ab und an über die Busenfreundin gelästert, mit der Buddhistin ins Innere der Seele und mit der Bestenfreundin an die Baltische See gereist, irgendwann vorher auch Weihnachten, Weltuntergang und Neujahr, und ein Bild von mir. Und immer mal wieder Liebeskummer. Erinnerungen an Cornwall stiegen ebenfalls auf, und Ende März zog ich von twoday.net zu blogger.de.

Schönes und Nerviges von der Familie, die zwischendurch Aufmerksamkeit begehrt, zarte Verliebtheiten von Ferne. Das ganze Bloggen mit Stromvergeuden und -bezahlen wäre nicht möglich, wenn ich nicht auch etwas arbeiten würde, und obwohl ich die Sinnhaftigkeit des und die Qualität meines Schreibens oft bezweifele, nimmt mich Marbach in sein Literaturarchiv auf. Das (und nicht nur das) feiern die Frau Montez und ich mit einer Reise nach Lissabon und schönem Wetter daselbst, und nach diesem Kackwinter rufe ich offiziell meinen spirituellen Sommer aus, denn ohne die Gewissheit, dass da noch mehr ist, wär mein Leben öd. Allerdings verkrache ich mich mit meiner spirituellen Freundin und Ärztin, was mir einiges Herzklopfen bereitet.

Wieder mehr lesen und noch mehr schwimmen und endlich ist auch der Rücken wieder heil, der seit Monaten meine Beweglichkeit eingeschränkt hatte.

Das erste Jahr des Schreibens endet nun mit einem kühlen Herbstgefühl mitten im September. Mögen wir immer genug zu erzählen haben, immer genug Zuhörer und Leser und Strom für's Internet.




Dienstag, 10. September 2013

September

Gestern zwischen zwei Schauern nochmal raus zum See (Teich), vielleicht schon ein vorläufiger Abschied. Mit mir noch ein zweiter unerschrockener Schwimmer, und auf der Wiese sitzen nur der Dünne und sein langbeiniger Kumpel, beide mit warmen Jacken. Die Blaualgen, die sich breit gemacht hatten, und auch die Schwebstoffe sind fort – kühl, klar und dunkel das Wasser, in dem sich die im Westen schon abgeregneten Wolken spiegeln.




Samstag, 7. September 2013

Heruntergefallenes Gurkenstück auf Pflastersteinen (von mir selbst persönlich fotografiert)

Jetzt ist sie endlich, endlich gewesen, die Vernissage, auf der die Busenfreundin gemeinsam mit anderen ehemaligen Studenten zum Gedenken an unseren Herrn Professor Fotos ausstellt. Die Busenfreundin war seit Wochen aufgeregt und ich habe mich in den letzten Tagen anstecken lassen, weil ja auch noch ihre Website fertig sein musste und dann die nimmerendenen Diskussionen um Passepartous und Bilderrahmen. Viele Freunde und Bekannte und Bekannte von Bekannten aus Studienzeiten wiedergesehen, mit manchen gesprochen, mit manchen freundliche Blicke ausgetauscht. Die Halle ist voll mit Kunsteifrigen, die Fenster nur sehr klein, deshalb die Luft zum Schneiden und die Bilder allesamt irgendwie ziemlich gut, untereinander trotz Verschiedenheit in Sujet, Größe und Anordnung homogen – das bringt ein Gefühl von Zusammengehörigkeit der 16 Ausstellenden.

Und natürlich M., der Großformatiges hängen hat (das war nun ein ganz großartiger Nebensatz, der, weil ich ihn jetzt noch kommentiere, jegliche Zweideutigkeit verliert), auch wegen ihm aufgeregt gewesen. Wir hatten vor – ich hab's ausrechnen müssen – 26 Jahren eine, äh, Liebschaft über einige Monate, die mir ein Gefühl von Versagen gebracht hatte – wie ich mich sowas von angeboten hatte und er mich sowas von verschmäht hatte, und ich trotz der kurzen Angelegenheit zwischen uns, die nie zu echter Nähe führte, sowas von gelitten hatte, das Tagebuch vollgeschrieben mit meinem Liebesleid, irgendwie peinlich jetzt, aber das musste wohl so sein. Ich hielt ihn für einen Wichtigtuer und auch jetzt läuft er genauso zwischen den Leuten herum, geht 50 cm an mir vorbei, ohne seinen Blick von der imaginären Linie zu nehmen, auf der zum nächsten Grüppchen eilt. Erst später, aus ca. zehn Metern ein kurzes Kopfnicken, bei ihm von diesem Lächeln begleitet, ich selbst komme zu keiner besonderen Mimik in der Kürze des Augenkontakts (auch das ist ein wirklich toller Satz).

Damals hatte ich die Bestefreundin gefragt, sag mal, M. war doch eigentlich in dich verliebt anstatt in mich, oder? Als ich nämlich eines Spätabends mit M. nach Hause in die gemeinsame Wohnung mit der Bestenfreundin trat, lief sie gerade mit ihren hübschen nackten Beinen durch den Flur, zähnegeputzt und fertig zur Nacht, und später, als ich in der Bestenfreundin Schrank nach irgendwas suchte – und das habe ich noch nie erzählt, auch ihr nicht, weil es natürlich sehr peinlich ist zuzugeben, in fremden Schränken rumzuwühlen – fand ich einen Brief von M. an sie, in dem er von seiner Verliebtheit sprach, die ihn just erfasste, als er des Nachts in meinem Schlepptau ihre schönen braunen Beine erblickte, die unter ihrem Hemdchen durchlugten, wahrscheinlich schrieb er wirklich Hemdchen, das würde zu ihm passen.

Ich hatte derweil nichts gemerkt und wunderte mich auch nicht, dass er viel zu oft im Zimmer der Bestenfreundin rumlungerte, um mit ihr zu reden oder zu scherzen, während ich in meiner Kammer nebenan auf ihn wartete, um zu tun, was meiner Meinung nach zu tun sein müsste.

Als ich nach Jahren also die Bestefreundin darauf ansprach, lächelte sie etwas unsicher und antwortete wahrscheinlich irgendwas Vorsichtiges und Liebes, ich kann mich nicht mehr erinnern, aber hatte ja den heimlichen Beweis. Immerhin erwiderte sie seine Gefühle nicht, obschon sie zugab, geschmeichelt gewesen zu sein. Irgendwie war das Tradition unter uns jungen Frauen, einer eingeschworenen Gruppe von drei Studentinnen, die so manches Psychodrama durcharbeitet hatte, sich gegenseitig die Männer zu nehmen. M. also eher in sie verliebt und ich später mit D. im Bett, mit dem sie mal kurz zusammen war – erzählt habe ich ihr auch das nie. Sie dafür mit X. knutschend auf einer Party direkt vor St.s Nase, die monatelang schmachtend von ihrer heimlichen Verliebheit zu X. geredet und geredet und geredet hatte. Wer weiß, welche Kombinationen es noch gab, ich selber hatte eine Interessante, von der ich jetzt aber nicht schreiben möchte. Im Zusammenhang mit der Busenfreundin. Wo sich der Kreis wieder schließt.

Jene läuft immer noch aufgeregt zwischen ihren Freunden herum, die sich im ganzen Saal verstreut aufhalten, man bekommt uns nicht zusammen und am Ende, als ich mit der Gärtnerin und ihrem Freund draußen auf der Mauer sitze, entscheide ich, nicht gemeinsam mit allen essen zu gehen, sondern auf der Mauer zu bleiben; auf der Mauer vermeiden, uralte Gefühle wieder aufleben zu lassen, wozu auch.

Der Gärtnerin Freund holt uns Eis und wir führen ein angeregtes Gespräch über die berühmten Söhne berühmter Männer, die in Serien wie Forsthaus Falkenau und Der Landarzt mitspielen. Das ist viel schöner, als alles was ich mir heute noch vorstellen kann.




Sonntag, 1. September 2013
Ich weiß gar nicht, ob ich lieber lesen oder schreiben will, habe Bücher der halbindianischen Schriftstellerin Louise Erdrich überall herumliegen und bin nun bei "Der Club der singenden Metzger". Alles Lesen und Filmschauen heuer immer noch im Zeichen der amerikanischen Ureinwohner. Obwohl deren Geschichte, wie Jede ausgerotteter Kulturen, todtraurig ist, schöpfe ich Kraft daraus, dass es eine Art heiler Welt (wie ich sie verstehe) gegeben hat und geben kann. Die Dokumentarreihe "500 Nations" über das Leben der Völker im vorkolumbianischen Amerika, beginnt Herausgeber Kevin Costner mit der Feststellung, dass für die Christen der Garten Eden, aus dem die ersten Menschen vertrieben wurden, für immer vergangen war, während dagegen die Indianer seit jeher in diesem ihrem Garten gelebt haben, aufs engste verbunden mit Tieren, Pflanzen und Mineralien, und einer Unendlichkeit, die auf alles schaut (und sieht, dass es gut ist).

Louise Erdrich erzählt mit lebendiger Wucht und feinem Blick von Menschen, die sich, ihrer Entwurzelung bewusst, zunehmend auf alte Kräfte und Rituale besinnen, während sie noch an den hässlichen Strukturen leiden, die die Weißen ihnen im Laufe der wenigen Jahrhunderte mit größter Brutalität aufgezwungen haben.




Samstag, 31. August 2013
Etwas Kühles und Unabhängiges ist Teil dieser Persönlichkeit. Er gefällt mir, und er verstärkt sich, wenn mir vieles zu viel wird. Die Entscheidungen, die ich dann treffe, sind echt, distanziert und bar jeder Freundlichkeit oder Schuld. Dann wird mir klar, wie viel Macht ich über mein Leben habe und dass ich jederzeit sämtliche Verstrickungen aufzulösen vermag. Welche, die sinnlos geworden sind und jene, die gerade beginnen, keinen Sinn zu machen. Die wichtigen Entschlüsse in meinem Leben habe ich aus diesem Persönlichkeitsanteil heraus gefällt – und sie nicht bereut. Knappe, zielgerichtete Handlungen von einer Notwendigkeit, die fast körperlich spürbar ist wie eine Krankheit. Ein Feld, auf dem niemand mich erreicht, eine leere, einsame Prärie, deren Teil ich bin, unvermeidliche Jahreszeiten, die über das Grasland ziehen, es bilden und deren Rhythmus mit meinem Atem verwoben ist, langsam, gleichmäßig und leis'.