Dienstag, 2. Mai 2017
Ich dachte vorhin erst, da kommt ein Kerl, ruft der Nackte mir zu, als ich mich schon wieder ankleide. Mein erstes Sonnenbad am See, vor dem Wind versteckt im Gras. Was, ich? ruf ich zurück. Ja, so mit dem Rad und der Jacke und den kurzen Haaren. Und dann kommt da plötzlich ein wunderschönes Mädchen zum Vorschein! Ich lache über wunderschön und Mädchen. Auf jeden Fall bin ich die jüngste von den fünf oder sechs FKKlern, die sich eingefunden haben. Ich erzähle dem Bildhauer von dem Geschmeichel, das fände er ja auch immer, sagt er, weiterschmeichelnd.

Diese (anderen) Erlebnisse sind leicht. An einem Tag sind wir plötzlich zu siebt und fahren zum Bärlauchwald, um zu spazieren und ernten und dann in meiner kleinen Küche zu landen, schnell einen Topf Nudeln aufsetzen, die Gäste mit flinker Hand bedienen. Rotwein ist noch da und Kaffee, alle kennen sich und plaudern aufs erfreulichste. Oder, mein großer Patensohn hat einigen Aufenthalt am hiesigen Bahnhof, ich fahre schnell hin und lade ihn zu einer Asianudel ein, dazu gibt’s buddhistische Weisheiten – von ihm an mich. Dass er das Spirituelle so ernst nimmt; was für ein erstaunlich schöner Mann er geworden ist!

Und die Ausflüge mit dem Bildhauer. Wir lassen uns zu Plätzen treiben, die wir im Laufe der zweidreiviertel Jahre gefunden haben, zu jeder Zeit erscheinen sie uns freundlicher und bedeutender. Sogar dieser seltsame Ort Grohnde: Vom Fährhaus zu sehen, ragen die Kühltürme des AKW aus den Fluss-Auen. Wir beoachten Ruderer und Menschen in Schnellboten, hinter uns tönt eine Blaskapelle, und die Weser, trüb und still, macht mir Heimatgefühle.




Jede Unternehmung, die die Mutter betrifft, erscheint mir als eine kaum zu bewältigende Herausforderung. Zum morgen anstehenden Zahnarzttermin muss allerlei Papierkram erledigt werden, Transportscheine, aktuelle Versichertenkarte, Überweisungen, Zahlungen – der Arzt sagt, zum Zahnziehen schicken wir solch betagte Menschen (lieber) ins Krankenhaus. Dazu rattern weitere Überlegungen: Soll ich Windeleinladen mitnehmen, und gleich noch eine Garnitur Wäsche, falls diesem betagten Mütterlein (dement, inkontinent, im Rollstuhl sitzend) ein Malheur passiert? Ich habe im Heim nicht gefragt, wer sich um all dies kümmern würde, wenn es mich nicht gäbe. Weil es mich ja gibt. Und so erledige ich all dies.

Die Weigerung, die Situation als gegeben hinzunehmen, kostet mich mehr Kraft, als die Dinge entschlossen anzugehen. Die Weigerung ist immer noch die: Ich möchte Mama so in ihrer Hilflosigkeit nicht erleben. Ich wünschte, alles wäre anders. Entweder Mama kregel und halbwegs gesund oder gar nicht mehr da. Ich wünschte, ich wäre frei. Und alles Denken dreht sich herum und herum, jeder Gedanke schon hunderte Male gedacht, jedes Bedauern tausendfach erörtert. Die Welt sei gefällligst so, wie ich (oder Mama, oder Dudi) es will! Und dies ist letzlich die größte spirituelle Herausforderung: Die Geschehnisse so anzunehmen, gar zu lieben, wie sie sind.

Am Ende wird sich jede Bemühung herausstellen als – was? Sinnlos? Darf man sowas überhaupt andeuten? Nochmal eine Serie von physiotherapeutischen Behandlungen – für was? Um der Mutter endgültig klarzumachen, dass sie nicht mehr alleine leben kann? Vielleicht ist es richtiger, sie in der Hoffnung zu lassen, da ginge noch was. Sie übt ja nicht mal für sich, sie vergisst es, natürlich, sie möchte, dass jemand kommt und sie gefälligst wieder auf die Füße stellt. Die Hausärztin weist sie sanft aber wahrheitsgemäß auf die muskelreduzierten Beinchen hin. Hinterher fragt mich Mama, wie ich die Ärztin fand. Sie glaubt ihr nicht und hält sie womöglich für inkompetent.

Gefälligst. Da sind wir beide uns gleich. Wir wollen gefälligst – was ganz anderes. Aber zacki.




Donnerstag, 6. April 2017
Nun sitze ich in meiner kleinen Wohnung, friemele hier und da, räume auf, stelle um, ergehe mich in Feinheiten – wohin der Nagel, wohin die Lautsprecher, die sind viel zu groß, wohin mit dem Olivenbäumchen, wann ein zweiter Kaffee, ein neuer Lampenschirm in der Schlafkammer, ein Blick nach den Bienen, vorgestern fand ich eine von ihnen gestorben – manchmal hätte ich gern einen neuen Schreibtisch, so einen wie die grünen Lesertische in der Leibniz-Bibliothek, oder so einen langen schmalen, die vielleicht eine Ablagemöglichkeit in Buchbinderwerkstätten gewesen waren, aber ich arbeite zur Zeit ja nicht, es sind schon drei Monate meines freien Jahres vergangen. Was soll ich also am Tisch? Mir wird nicht langweilig, nur manchmal verdaddele ich etwas Zeit mit Patiencen legen, jetzt wo ich auch keinen richtigen Fernsehempfang mehr habe, schaue ich manches später in Mediatheken – es ist eine gute Zeit. Die Panikattacken, die mich mehrmals am Tag durchflutet hatten, sobald ich an die Mutter dachte, tauchen nicht mehr auf, die Schuldgefühle sind fort. Gestern bekam ich ein Gut-Ausseh-Kompliment der Sufi-Änhängerin, mit der ich mich mich wöchentlich zur Meditation treffe, meine Antwort überraschte mich selbst: Ich selbst habe ja keine Probleme, bin gesund, schlafe wieder gut, habe ein Dach über dem Kopf, genug zu Essen, einen netten Partner und gute Freunde, und wenn’s der kleinen Mutter gut geht, geht’s mir auch gut.

Sie sei zur Königin gekürt worden, erzählte jene. Ist doch schön, meinte ich. Aber nein, erwiderte sie weinerlich, ich würde das ja alles gar nicht verstehen, denn sie wollte den Mann nicht, den es dazu gab, er sei ihr zu dick und grob, lieber wollte sie den anderen, feineren, aber der sei nicht für sie. Ich musste doch sehr lachen über diese Geschichte, die sie für wahr, ich aber für einen Traum hielt. Wir nutzten den Tag für eine Ausfahrt, in Spaziernähe ist ein löcheriges Wegstück gepflastert worden, so kann ich Mama mit dem Rollstuhl leichthändig führen. Da ist ein Bachlauf mit Bank, auf der wir sitzen bis zum Mittag, Gänse fliegen mit den Wolken über uns, Zilpzalpe und andere Sänger in der Au sitzen in hellgrünen Büschen und sind sehr laut.




Mittwoch, 15. März 2017
Die Bienen sind geschlüpft und tummeln sich vor dem Fenster. Niedlich! Auch ist es wieder Zeit für ein wenig Heuschnupfen, es ist gar nicht der Hasel, sondern wohl die Erle. Mama kann noch den Erlkönig auswendig und sagt ihn mit reger Betonung auf. Da spürt man Angst und Eile, siehst, Vater, du den Erlkönig nicht? Wie der Vater dann mit ihrer Stimme beschwichtigt – wir finden diese Verse schön. Und vorher hatte ich noch gefragt, ob sie sich erinnern könne, dass sie seit dem Tod meines Vaters ein paar Jahre allein gelebt hat. Nein, weiß ich nicht mehr. Sie sagt diesen Satz oft, ganz ohne Bedauern und in vollem Vertrauen, dass sie sich für ihre Vergesslichkeit vor mir nicht schämen muss.

Anselm Grün beleuchtet in seinem Buch „Gut mit sich selbst umgehen“ Formen und Gründe von Grausamkeit gegen sich selbst. Diese mag z. B. als Abwertung des eigenen Bemühens, als strenge Askese oder auch als Hörigkeit auftauchen. In vielen finde ich mich wieder und oft genug höre ich nicht auf mein eigenes Gefühl, sondern versuche Erwartungen anderer zu erfüllen, der Eltern oder der Lehrer, welche möglicherweise in Besitz der absoluten Wahrheit sind. Hoffe ich zumindest. Wenn ich nur der absoluten Wahrheit folgte, würde ich nämlich Freiheit, moksha, erreichen.

Das stresst mich grad. Am besten alles aufgeben. Dauernd rechtfertige ich mich. Ich tue so, als besäße ich unendliche Kräfte. Als könnte ich Mama vor unangenehmen Gefühlen retten, oder dafür sorgen, dass die nachtodlichen bardos sie nicht allzu grausam anfallen –

Und so weiter. In den letzten Monaten ist mir so vieles klar geworden. Wenn das Verstehen intellektuell geschieht, bleibt nicht so viel in Erinnerung, als würde ich es fühlend begreifen. Ich habe das Gefühl nun als eine Art Sinnesorgan erlebt, als ganzkörperliche Erfahrung der Wahrheit. Dauert oft länger als sehen oder hören und geht mit weiteren Erscheinungen einher, wie z. B. Grübeln, das sich allerdings als Markstein von Unwahrheit herausstellt. Denn was genau hatte ich bisher durch Grübeln klären können?

Oder so. Die Aussage dieses Textes ist mir jetzt entwischt. So wie manchmal, wenn die Gedanken sehr nervig um ein Thema kreisen, ich mir befehle, denke jetzt daran! Wenn ich dann versuche, richtig und effektiv darüber nachzudenken, hört das Denken sofort auf. Denk jetzt an Mama, geht dann nicht mehr. Ich mache dann statt dessen was anderes.




Dienstag, 7. März 2017
Indien? Swami ruft an und fragt, ob ich im Herbst mitkomme. Nach Indien. Mein übliches ich kann hier nicht weg und wenn was passiert, kann ich nicht so schnell aus Indien weg wird mit einem na und, dann kannst du eben nicht weg zum schnellen Einsturz gebracht. Und wenn Mama stirbt und ich nicht zur Beerdigung kommen kann? Wird ebenso weggewischt wie eine schon halb vertrocknete Träne.

Tatsächlich wirkt die Idee, einfach wegzufahren wie eine plötzliche Erfrischung nach langem Durst und bringt mich aufgeregt und voller neuer Hoffnung durch den Sonntag. Um dann am Montag unter einer Last von ohgott, was für ein Frevel, eine mögliche Beisetzung zu verpassen zusammenfällt und sowieso, einfach abhauen aus der Verantwortung? Ich kann nicht.

Jenes ich kann nicht – ganz langsam dämmert es auch mir, ist eine selbst angelegte Fessel. In der Meditation versuche ich, das eherne Band zurückzuverfolgen, wo es sich als Irrtum herausstellt und letztlich aus keiner besonderen Substanz bestehend. Da ist nichts.

Nichts. Im Treppenhaus treffe ich G., eine der Betreuerinnen von Mama. Auch sie ist sofort dabei: Indien, mach das! Du musst dein eigenes Leben leben. Beerdigung? Na und? Und Dudi, die eine Beerdigung allein ausrichten müsste, was wird die sagen? Auch na, und?

Im Frühjahr 2012 war ich das letzte Mal in Indien und damit auch das letzte Mal auf großer Reise. Ich konnte ja nicht weg. Unsere kleine Gruppe bestand aus reiner Unbeschwertheit. Versaute Witzen beim Spaziergang am Ganges, leckeres Essen, abendliches Zusammensein bei indischem Tee. Vorträge, Konzerte, Meditationen. Feuer und Sonne. Das Holi-Fest. Die Vorberge des Himalaya, der Oberlauf des Ganges.
Der gebliebte Lehrer.

Nach Hause kommen, zu Hause sein.




Mittwoch, 1. März 2017
Sie denke darüber nach, wieder nach M. zu ziehen, sagt die Mutter. Und wie immer staune ich, wie wenig sie ihre körperliche (und geistige) Situation begreift. Sie ist schwerst pflegebedürftig, sitzt im Rollstuhl, kann nicht mal allein aus dem Bett steigen oder aufs Klo gehen, ist orientierungslos, was körperliche Bedürfnisse oder Tageszeiten betrifft, ganz zu schweigen von den Finanzen, danach fragt sie manchmal und erwidert anschließend gut, dass es mir mal jemand erklärt hat. Und wie immer argumentieren Dudi und ich fröhlich drauf los, was gegen einen Umzug spräche, als gäb’s Preise dabei zu gewinnen. Fröhlich. Natürlich nicht. Es spricht alles dagegen, aber ihre Gründe sind natürlich verständlich, wer möchte schon mit einem Haufen fremder alter Leute zusammen wohnen, und so geraten wir, wie immer, in das Dilemma, ihr vollkommen irrationales Weltbild bedienen zu müssen, denn wir müssen doch reden, oder? Es laugt uns aus.

Das ist sicher nicht so gedacht. Mittlerweile habe ich Unmengen über Demenz gelesen, gehört und angesehen. Wenn ich Mama beobachte, kann ich mitempfinden, wie sie sich fühlt und auf welche Weise hakelige Gedanken durch ein löcheriges Hirn kriechen, uneinholbar, wenn sie davoneilen und verwirrend, wenn das Ende eines Satzes nichts mehr mit seinem Anfang zu tun hat. Sie hat auch, eher selten, aggressive Phasen, beschimpft dann, beleidigt und schlägt Pflegerinnen, zweimal hatte man mich gebeten zu kommen, um sie zu beruhigen, mittlerweile habe ich Angst vorm Telefonläuten, und wie immer, wenn jemand vom Stift anruft, wird keine Sorge, es ist nichts Schlimmes vorausgeschickt. Aber ich finde es schlimm, die Mutter völlig aufgelöst vorzufinden und mir ihre bösen Tiraden gegen alles und jeden anzuhören. Die eindringlichen Gespräche, die ich dann mit ihr führe, kommen mir so vergeblich vor bei diesem rückwärts gerichteten Gang, wieder Kind zu werden, um endlich im völligen Vergessen zu enden. Aber so weit ist es noch nicht. Sie beklagt sich bei Dudi, ich hätte ihr gesagt, sie solle endlich sterben.

Das ist es wohl, was ich denke, aber natürlich habe ich es anders formuliert, dass sie nicht wegen uns diesen ganzen traurigen Weg gehen muss, sondern sich jederzeit verabschieden darf, wenn sie nicht mehr kann.

Ich schaffe es (noch) nicht, die Dinge irgendwie positiv zu sehen. Dabei gibt es Besuche, die sehr lustig sind, wir können über die unsinnigsten Sachen lachen, und gerne nehme ich von ihr Behauptetes und verdrehe es in absurde Richtungen, der Sinn für diese Art von Humor ist ihr noch nicht abhanden gekommen und ihr in tausend Lachfalten geworfenes Gesicht finde ich überaus entzückend. Da ist dann diese große Nähe, vielbeschworen bei allen Angehörigen dementer Leute, eine seltsame Art später Freude, für mich ist sie zu spät, ich will sie jetzt nicht mehr, wo sie nicht mehr echt und klar ist, von einem vernebelten Hirn produziert, überdies erinnernd die klebrige Nähe und Bedürftigkeit früherer Zeiten. Es ist alles zu spät und vergeblich.

Vergeblich auch mein Versuch, aus dem Leben der Mutter zu lesen, es zu begreifen als ein Vorspiel für das eigene Leben. Ihre Kindheit und halbe Jugend im Krieg, die Angst verlassen oder in Kellern verschüttet zu werden oder zu sterben. Die Angst, die Eltern zu verlieren als ständiger Quell dieser lähmenden Bedürftigkeit, die dazu geführt hat, die eigenen Wünsche und Lebenspläne aufzugeben (oder gar nicht erst zu entwickeln) und sich denen des Ehemannes und der Schwiegermutter anzupassen. Deshalb auch die immense Wut auf meinen Vater, der wiederum versucht hat, aus der selbstgeschaffenen Enge zu entfliehen, erst in Urlauben, die allein verbracht wurden, dann zehn Jahre Trennung und zuletzt im Sterben, und immer blieb eine völlig hilflose und zunehmend verwirrte Mutter zurück, die nun in der Demenz alles vergessen kann – darf – will.

Das ist, kurz gesagt, das was ich davon halte. Ihre Demenz ist eine Folge ihres Lebens. Es hat sie möglicherweise nur wenig interessiert. Nur wir Töchter sind ihr ein und alles und sie versteht gar nicht, wie belastend das ist. Hat es nie verstanden, für sie ist es wahrscheinlich ein Kompliment an uns. Ist es aber gleichzusetzen mit Liebe? Dudi fragt sich oft, was sie für diese Frau empfindet – sie nennt es Mitleid. Im besten Fall. Ich hingegen versuche, Mitgefühl und Geduld zu üben, so als wäre meine Mutter ein Studienobjekt meines spirituellen Handels. Meine ich dann wirklich sie?

Man sagt, alles in der Welt sei miteinander verbunden. Und trotzdem wird es als wichtig erachtet sich abgrenzen zu können, um die eigene Kaft zu erhalten. Eine perfekte Zwickmühle für mich Grüblerin. So eine Art koan. Manchmal bin ich nah dran, manchmal verzweifele ich. Was vielleicht auf das Gleiche drauf raus kommt am Ende.




Freitag, 27. Januar 2017
Es müsste hier mal wieder geputzt werden. Vielleicht kommt Dudi nächste Woche, die muss ja nicht in Staubflusen waten. Die vielen Wollobjekte des Haushaltes atmen überall hin und an einigen Stellen sammeln sie sich, vor der Badezimmerschwelle, da kommen sie nicht rüber oder unter der Heizung dort. So allgemein von Süd nach Nord. Es gibt auch einige Spinnen von jenen zarten kleinen, die dürfen gern bleiben, aber in der Küche gibt es schon feine Berührungen von Weben, am nackten Arm, den ich nach dem großen Glas mit Reis recke.

Es tut gut, die Aufmerksamkeit auf solche Dinge zu richten. Es gab eine Art overflow zu aufregender Gedanken an früher oder später, lange Telefonate mit Dudi über unsere Kindheit und Jugend, über die Eltern. Eine Weile neigte ich dazu, sie zu idealisieren, der Zweck möglichwerweise eine Art Versuch Frieden zu schließen – zu verzeihen. Dieses wunderbare Buch von Svenja Flaßpöhler, Verzeihen – Vom Umgang mit Schuld, verhalf mir zu Einsichten, die tatsächlich Frieden in mir auslösen konnten, ohne diesen Blick zurück, einfach in der Erkenntnis, dass ich keine Schuld habe. An nichts. Dass niemand Schuld hat. Dass Schuld ein Konzept ist, welches sich bei näherer Betrachtung in nichts auflöst. Da war dieser Moment, letzte Woche Montag, als ich nach einer schweren Nacht, da das Herz mit allen drängenden Gedanken dieser Welt gefüllt ward, aufsprang mit dem klarsten Satz ich muss dies alles gar nicht denken, und die Welt besteht nur aus unseren Gedanken!

Und ebenso plötzlich, das Herz war leer! Es war nicht einfach nur ein intellektuelles Erkennen der Nutzlosigkeit dieser Art des Denkens, sondern ein echtes, so zartes und trotzdem deutliches Gefühl in der Herzgegend, dass diese leer sei. Der gesamte Brustkorb sei leer. Wie nach einem Gewitter der Himmel wieder leer von Wolken ist, trotzdem gefüllt mit Bläue, so war das Herz, es war leer –

Den ganzen Tag verbrachte ich damit, die Aufmerksamkeit dorthin zu lenken, verbunden mit einem großen Staunen. Da war nichts, keine Sorgen, keines der Bilder über die siechende Mutter, die mich so quälen, nichts darüber, wie die Zukunft sein würde/könnte/sollte/müsste … so leicht hatte ich mich seit Jahren nicht gefühlt! Frei von Schwere! Nach all der Zeit!

Nun, war es wieder fortgegangen. Ich konnte es nicht halten. Nicht durch das Imaginieren der Leere im Herzen ließ es sich wieder herstellen, nicht durch Erinnern der Sorglosigkeit, nicht mit so tun als ob. Wieder kamen belastende Bilder zurück, Sorgen um die Zukunft – 
Allein, das Grübeln über die Mutter ist im Moment nicht (mehr) da.




Donnerstag, 12. Januar 2017
Angst hab' ich. Hier im Herzen kann ich sie fühlen. Sie tut nicht weh, und doch ist sie unerträglicher noch als Schmerz. Hatte sich versteckt. Ist jetzt voll da. Szenen werden lebendig: Das Kind zwischen den streitenden Eltern, ein Wort gibt das nächste, Vorwürfe und Gehässigkeiten wechseln hin und her. Wechseln sie? Ist es nicht bloß die eine, die Böse, die nicht aufhören kann, dem anderen Unaussprechliches ins Gesicht zu schreien? Ist nicht der andere der, der sich bloß wehrt, der körperlich werden muss und gewalttätig, als einzige Möglichkeit, sich zur Wehr zu setzen. Hatte er Angst? Seine Angst ist jetzt die meine.

So könnte es gewesen sein. Genau anders als wir dachten. Was kann es sein, das jemand bloß sagen muss, dass es weh tut? Wie ist es möglich, dass Worte überhaupt eine Macht haben? Ich verstehe das nicht, und doch sehe ich es überall, Worte können uns töten.

Später begannen sie, Sachen kaputt zu machen, und irgendwann warfen sie mit Sachen um sich. Sie hätten sich töten können. Aber warum? Was genau war zwischen ihnen vorgefallen?

Ich habe Mama oft danach gefragt, aber sie hatte keine Antwort. Ist es sinnvoll, das zu wissen? Oder ist es nur ein ganz normales menschliches Drama, das sich überall auf der Welt wiederholt. Grundlos. Vielleicht gibt es keinen Grund. Grundlosigkeit scheint mir am meisten Angst zu machen, das Irrationale, das Unerklärliche. Das Große Geheimnis. Da ist nichts zu verzeihen – weil ich nichts verstehe.

Die Angst hier im Herzen ist stark, und geheim – the cave of the heart ist ein höchst geheimer Ort. Und ich erzähl' euch davon. Hier ist noch alles ohne Sprache. Es ist der unschuldigste Ort. Es ist das Herz des Kindes, das nichts Böses kennt. Mein Herz.




Dienstag, 10. Januar 2017
1.2 Yoga ist jener innere Zustand, in dem die seelisch-geistigen Vorgänge [Gedankenwellen] zur Ruhe kommen. … 1.5 Es gibt fünferlei seelisch-geistige Vorgänge, (und sie sind entweder) leidvoll oder leidlos. 1.6. (Und zwar die folgenden:) Gültiges Wissen, Irrtum, Vorstellung, Schlafbewusstsein und Erinnerung. … 1.8 Irrtum ist eine verkehrte Erkenntnis, die sich auf etwas gründet, was dem Wesen der Sache nicht entspricht. … 1.9 Vorstellung ist eine Erkenntnis, die bloß auf Worten beruht, die bar jeder Wirklichkeit sind. … 1.11 Die Erinnerung ist das Nicht-Abhandenkommen von (früher) erfahrenen (Sinnes-)Gegenständen. …

Die spirituelle Tradition, der ich mich zugehörig fühle, empfiehlt Mantra-Meditation als eine Möglichkeit, die vrittis, die Gedankenwellen, zu kontrollieren. Diesem Weg folge ich seit 12 Jahren. Mit folgen ist der Versuch gemeint. Es ist ein steter Versuch, ein stetes Üben. Es gibt Momente – in inneren Räumen der Meditation – die dem Ruhigwerden sehr nahekommen. Diese sind meine heiligsten Erfahrungen. Und es gibt Phasen vollkommener Unruhe im Geist.

Bei dem Ansinnen, zusätzlich zu den eigenen die Gedankenwellen meiner Mutter zu kontrollieren, habe ich mich verausgabt. Immer noch versuche ich aus ihren irrtümlichen Gedankenwellen Wahres zu schöpfen, nützliche Erinnerungen, die sich noch verwerten ließen, um diese meine Geschichte abzuschließen, oder Liebes, das mich heil macht. Aber ihre irren Schlussfolgerungen zu allem und jedem machen mich fertig. Mein Versuch, ihr zu folgen, ist mein Irrtum schlechthin, und ich bin genauso in der Irre, wenn ich ihrer Wirrnis beistehe. Sie macht mir regelrecht Angst. Ich sollte damit aufhören.

Und – darunter entdecke ich wieder und wieder den emotionalen Missbrauch, dem ich ausgesetzt war. Eltern mit wirklichkeitsfremden Erwartungen an Kinder und Kindeskinder und die ganze Welt. Es sind ihre Erwartungen, die zu erfüllen ich mich bemühe, seit ich denken kann. Es sind kindliche Wünsche nach einer heilen und gesunden Welt und ich versuche immer noch, die kleine Mutter von leidvollen Erfahrungen abzuschirmen. Das macht mir Angst. Ich sollte mich davon lösen.

1.12 Das Zur-Ruhe-Kommen der seelisch-geistigen Vorgänge erlangt man durch „Übung“ und „Loslösung“. 1.13 Die intensive Bemühung um diesen Ruhezustand ist die Übung. …




Freitag, 6. Januar 2017
Im südlichen Hinterhof werden unter lärmenden Jungsstimmen noch die letzten Böller abgebrannt, ich guck raus, wer sich da so aufregt, ein Hund kläfft. Die Sonne ist jetzt hinter den Dächern. Sollte ich nochmal zu Mama wollen, dann jetzt bald los. Ich schwanke dauernd zwischen Nächstenliebe und Abgrenzung. Hab’ ich noch nicht raus. Was Gutes tun – wem zuerst?

Die Welt ist recht klein geworden. Mag mir keine Geschichten von Leuten mehr anhören, vieles schwächt mich, weil ich sofort mit großem Schwung mittendrin bin und Meinung habe. Die ich auch zum Ausdruck bringen möchte. Auch hier: Wieso eigentlich? Reines Zuhören kann ich meist nicht mehr, es ist doch immer dasselbe sich im Kreis drehen. Noch ein Pferd, noch ein/e Geliebte/e, noch ein Geldwunsch bzw. ein -nichthaben. Dudi sagt, sie könne solchen Erzählungen oft schon deren zukünften Verlauf voraussagen, genauso erschreckend wäre es, die anderen blind in ihre Voraussagbarkeit hineinleben zu sehen. Mir geht es ähnlich. Ich finde mich in der Rolle der Warnenden, zur Zustimmung müsste ich mich zwingen. Als würde mein Segen irgendetwas ändern.

Was kann ich mir denn selbst voraussagen? So zum Jahresbeginn. In der imaginären Glaskugel sehe ich, dass der Bildhauer und ich uns auch dieses Jahr noch gewogen sein werden. Dass sich das Thema Arbeit/Geld gravierend ändern wird. Dass ich die Mutter loslassen kann und Weggefährten wegfallen. Dass dass ich mich allgemein reduziere, sich meine spirituellen Erfahrungen verdichten und ich gesund bleibe. Ein neues Kunstprojekt mit dem Bildhauer beginne. Und dass ich hier bleibe, oder mal wegfahre für ein paar Tage. /Glaskugel ende




Donnerstag, 5. Januar 2017
Ich bin jetzt mehr oder weniger entschlossen, das Jahr 2017 freizumachen, ich will es jetzt nicht großartig sabbatical nennen, und natürlich könnte man behaupten, ich hätte schon letzten Herbst damit angefangen. Ein bisschen. Vor ein paar Tagen habe ich nach neuen Jobs geschaut, und auch etwas gefunden, das ich immerhin so interessant fand, um eine Bewerbung zu erwägen. Gestern aber ist die kleine Mutter durchgedreht, sie war so wütend auf alles und jeden und schimpfte und schlug um sich. Ich war ein paar Stunden bei ihr, um sie zu beruhigen und mit ihr zu reden, es wurde eine echte Standpauke über Mitgefühl und Freundlichkeit, und sie jammerte, das kann ich nicht, das kann ich nicht, heute morgen musste ich schon drüber lachen. Gestern aber war ich mit den Nerven fertig und dachte, wie soll ich bei all den Ablenkungen arbeiten? An was denn überhaupt, was wichtiger ist als dies: Im Frieden mit sich und den Menschen sein, mit der Vergangenheit und den Feinheiten der aufsteigenden samskaras, herausfinden, was ich wirklich tun möchte in dieser aufregenden Welt. Stefan Sagmeister, der große Grafik-Designer, den ich bis jetzt gar nicht so ausführlich kannte, ist mit seinem Film in aller Munde und hat auch ein Jahr nicht gearbeitet. Letztlich hat er doch gearbeitet, aber eben für sich, das musste ich jetzt mal kursiv setzen, der hat das auch gemacht – als würde ein Kleinkind sprechen.

Tatsächlich, es gibt immer noch diesen kindlichen Rechtfertigungszwang, da hinten in der Ecke des Geistes, auf jeden Fall was tun müssen, produktiv sein. Verflixt. Und vielleicht bin ich auch keine so große Designerin, der eine Schaffenspause gebührt.

Aber vielleicht sollte ich einfach mal die Klappe halten und machen.
Am besten gleich alles kursiv.