Montag, 9. September 2019
Im Traum von letzter Nacht bin ich ein etwa 12-jähriger englischer Junge und trage diese kurzen Hosen. Meine Eltern sind reich und wir wohnen auf einem Gutshof. Ich kann mit den Jungen, die in der Nachbarschaft wohnen, nichts anfangen, auch sie meiden mich, ich besuche lieber ein anderes Kind, das mit seiner Familie in einem dunklen, schlossähnlichen Gebäude lebt. Seine Eltern möchten nicht, dass ich oder sonst jemand mit ihrem Sohn spielt, sie halten uns nicht für standesgemäß und es ist ein Geheimnis um ihn, das mich reizt, meine Anwesenheit im Haus ist ebenso geheim, vielleicht lässt mich eine Magd immer ungesehen zu ihm ins Zimmer. Der schwarzhaarige Junge kriecht wie ein Tier langsam in dem prächtig ausgestatteten Raum auf Teppichen herum, ich weiß es längst, er ist behindert. Gerade das Animalische, seine triebhaften Gebärden und sein rauer Atem erwecken in mir den äußerst körperlichen Wunsch, in seiner Nähe zu sein. Ich lege mich zu ihm, er wendet sich mir mit größter Aufmerksamkeit zu. Nie habe ich so etwas gespürt, nie solch eine neugierige Zugewandtheit erlebt, wie jene dieses Menschen, der mich vorbehaltlos in seine Arme lässt und ruhig ansieht. Ich liebe ihn, das weiß ich auch, im tiefsten Grund meiner Seele, für immer.
Wir werden durch Geräusche gestört, seine Mutter hat mich Eindringling entdeckt und unter ihren Beschimpfungen laufe ich aus dem Haus, durch den Park, über die Ländereien und das Glasfeld* zurück zum Gutshaus, hetze die Treppen hoch durch holzvertäfelte Räume mit langen Vorhängen, noch höher unters Dach, dort befindet sich eine kleine Bibliothek, in deren Mitte meine Schwester Dudi sitzt, ich falle mit wehem Herz in ihren Schoß, den sie mit Kleid und Schürze ausgebreitet hält, als hätte sie auf mich gewartet, und weine und weine.
Noch im Erwachen weine ich.

*Das Glasfeld ist eine geologische Besonderheit, möglicherweise vor Urzeiten durch große Hitze und Sand entstanden. Es liegt in umgedreht U-förmigen Schichten in diesem Landstrich, das Glas ist ultramarinblau und wird oberirdisch abgebaut. Wir Jungs spielen hier oft und es sieht wunderbar aus.




Samstag, 31. August 2019
Habe die Puppe von Mama dabei, sie ist mit roter Marmelade bekleckert und ich will sie waschen. Ivonne, so nennt Mama sie, guckt mit dem Kopf oben aus der für sie zu kleinen Tasche, die braunen Wollhaare wehen im Wind, als ich mit dem Rad vom Heim zum nahen Ausstellungsort fahre, um bei der Busenfreundin Kunst-Objekt haltzumachen und Geselligkeit zu erleben, meine Tasche mit Ivonne lege ich auf die Steinplatten, die die Busenfreundin kunsthalber verlegt hat, der, um jetzt den Bogen zu unserem Streit zu schlagen, als Gedächtnisort, letztlich der ihrer toten Mutter installiert ist. An den Bäumen die Hängematten, in denen schon die Freunde rumhängen. Man soll, so ihr Konzept, aus der entspannten Haltung heraus das Paradies ihrer verlorenen Kindheit kontemplieren, das durch die Steinplatten aus dem elterlichen Garten und einem dort ausgegrabenen Farn dargestellt wird. Sei's drum, heute aber soll hier getrunken werden und das Ensemble gefeiert.

S. fragt nach dem Tascheninhalt, aus dem Ivonnes Haare wallen und ich erkläre das Entstehen von Ivonne, die ich als Demenzpuppe für Mama handgearbeitet habe und darüber gibt es interessierte Gesprächsmöglichkeit im Kreis. Das ruft die Busenfreundin auf den Plan, die es ekelig findet, die Puppe jetzt hier beim Essen (es gibt Brot, Käse und Oliven, auf Ivonne ist bloß Konfitüre) vorzuzeigen, sie sei da etwas empfindlich wegen ihrer Mutter. Ich kann das alles vestehen und S. steckt Ivonne zurück in meine Tasche, die ich wieder auf die Steinplatten lege. Indes der neue, überaus niedliche Cocker-Spaniel von S. ebenfalls Aufmerksamkeit erregt, die Busenfreundin blökt S. an, sie solle ihn nicht zu nah an die Nahrungsmittel lassen, die auf dem Boden liegen, das sei ekelig.

Ein Tag voller Ekel. Die Busenfreundin keift und zankt, stellt einige Details der Ausstellungsprobleme mit den Kollegen falsch dar, bei denen sie bei Richtigstellung ziemlich schlecht wegkommen würde. Und H. solle nicht so unsexy in der Matte liegen, er hatte sich aber das Knie schmerzlich verdreht und jeden Grund unsexy zu sein. Vor den anderen, die H. nicht kennen, breitet sie aus, dass sie mal ein Paar waren, was wiederum S., die jetzige Freundin von H., sowieso nicht hören mag, es ist eine echt schlimme Situation, die sicherlich nicht nur von mir so empfunden wird. Ich blicke betreten vor mich hin und sage nichts. Und sie dann weiter: im Übrigen solle ich meine Tasche wonders hinlegen und nicht an diesen heiligen Ort (der Bodenplatten, wahrscheinlich Sandstein aus Kirchbrak). Mir bricht vollends das Herz, ich stehe in der selben Sekunde auf und mit einem Zeit für mich zu gehen nehme ich die Tasche, ich will noch zum Bildhauer, dessen Ausstellung gleich beginnt, S. schaut mich an und berührt meinen Arm, und dann stapfe ich über die Wiese davon.

Ich will die Busenfreundin nicht mehr sehen, geht es mir immer wieder durch den Kopf, während ich mit dem Rad und Ivonne, die aus der Tasche schaut, zum Bildhauer fahre. Nie/nie mehr. Ich weiß das alles, ich weiß, wie sie sich fühlt, tote Mutter, Messihaushalt, ich befürchte, sie trinkt auch viel, alles echt furchtbar. Aber sie weiß nicht, wie ich mich fühle und setzt ihr Leid über das aller anderen. Ich weiß, dass sie mir die Intimität, die Zärtlichkeit, die ich mit Mama habe, stets geneidet hat, weil sie gleiches mit ihrer Mutter als eklig empfand. In ihren Augen konkurrieren unsere Mütter, begreife ich. Ich weiß, dass sie mir jede Aufmerksamkeit neidet, die ich anstatt ihrer bekomme. -- Und nun macht sich alles an der armen Ivonne fest, die mittlerweile in Olivenseife gebadet ist und auf der Fensterbank trocknet. Ich bin so traurig, ich könnte heulen.




Dienstag, 27. August 2019
Ich weiß jetzt, was die lauten Nachbarn gemacht haben, denn ich bin nun eine von ihnen. Dortselbst im Nachbarhaus allesamt verschwippt und verschwägert hat der junge Mann einen Lehmofen in den Hof gebaut. Man lässt mich großzügig über die schreckliche Kreischsäge monieren, entschuldigt sich und erklärt, man habe das falsche Sägeblatt gekauft und konnte es nicht umtauschen. Nun gibt es selbstgemachte Pizza, die die zwei Wochen Lärm beinahe ausgleichen, zudem bitte ich darum, zu weiteren Ofenbefeuerungen stets eingeladen zu werden. Das Schreikind entdecke ich auch, es sieht so rotzfrech aus, wie ich es mir vorgestellt habe, zwei Frauen sitzen abseits und quatschen, die eine offensichtlich die am Kind kaum interessierte, am Getöse bereits ertaubte Mutter.

Auch sitze ich bis zur Dämmerung mit neuen Freundinnen herum, rede sicher genauso laut wie sie durchs Carrée über Verflossene(s), trinke (die famose Gin-Mischerei mit den schönen Flaschen hat jetzt auch Likör!) und lache viel, vor allem mit der Gesprächpartnerin aus dem Schwäbischen, die so ihre Art hat. Es ist ein schöner Nachmittag. Wir thematisieren auch, ob und wann man sich (bei Kindergeschrei oder gar Gewalt, der man beiwohnt) einmischen sollte, ich als alarmiert, aber zurückhaltend Reagierende, die andere grundsätzlich dazwischengehend, auch in Männerstreits, wenn es beginnt, bedrohlich zu werden.

Am nächsten Tag, oh Wunder, das Kind schreit wieder so herum, höre ich erstmalig in diesem Sommer ein nun schrei doch nicht so! Worauf das Kind tatsächlich still ist.




Montag, 19. August 2019
Am Ort der Ausstellung, zu der der Bildhauer und ich ein environment beigetragen haben, regnete es gestern. Zuvor ward das Gras vertrocknet und im Gelände, das sich vom erhöhten Gut zu einem Bachlauf senkt, war es heiß gewesen. Allein am ersten Wochenende wurden tausend Gäste gezählt, das möchte niemand unerwähnt lassen. Wir wenigen sitzen nun fast alle regengeschützt unterm Glasdach der Terrasse, von der man einen weiten Blick in den Garten des Rittergutes hat. Es ist beinahe das Paradies, inmitten der Stadt, und die Vertreibung aus solchem ist Thema der Ausstellung. Der Bildhauer läuft mit dem Sohn der Adligen durchs Gebüsch und bastelt mit ihm einen schönen Holzhammer, ähnlich dem, mit dem wir die gespitzten Pflöcke, die die Leinen unseres Refugiums halten, in den Boden gehauen haben, nur kleiner. Am Tisch sitzt die Tätowiererin und sticht der Kuratorin das gewünschte Motiv in den Unterarm, einer älteren Dame mit haubenhaft verstrohtem, schwarzem Haar; früher in den 70ern war jene ein heißer Feger, wie ich Dudi zuraune, mit Absicht einen Begriff nutzend, der gleich direkt aus jener Zeit stammt.

Am meisten schätze ich die Gespräche mit den Besuchern der Ausstellung, die nach einer Runde durch den Park bei uns ankommen. Es ist mir sonderbar wichtig, dass sie unser Konzept verstehen, eben nicht bloß rational, und die meisten gehen mit und teilen berührende Erinnerungen. Eine alte Frau erzählt, wie sie als kleines Mädchen mit ihren Freunden in den Ruinen der zerstörten Stadt gespielt hatte, in keinster Weise sich darüber im Klaren, wie gefährlich das kletternde und suchende Spiel war, tatsächlich empfand sie es als paradiesisch, sorgenlos. Das Herzstück meines Teils der Arbeit ist eine Schatzkiste, in der ich Wundersames aufbewahre, u. a. eine schöne blaue Murmel, ein Stück Strickliesel-Strippe, glänzende Aufkleber, Münzen aus aller Herren Länder, eine Tube orangener Acrylfarbe, eine Schere für Wellenschnitt, selbstgeschnitzte Häkelnadeln, ein Foto meines Großvaters, dem Konditor, der meinem, in eine Minikonditorenkluft gekleideten, ungefähr fünf- oder sechsjährigen Vater in der Backstube über einen niedrigen Tisch gebeugt etwas zeigt. Die Betrachter meiner Schätze sind nun ebenso gebeugt und ihnen reiche ich selbstgebackene Plätzchen (sind das Haschkekse, fragen sie) aus der goldenen Blechdose aus fernen Zeiten. -- Und hier schließen sich genau die Stränge, die ich beabsichtigt habe zu schließen.




Sonntag, 11. August 2019
Es ist ein Drama mit den Geräten, wieder einmal ist das Grafikboard durchgeschmort, eine Fehlkonstruktion des 11er-Jahrgangs, einfach zu heiß. Ersatzteil gibt es nicht mehr, die Reparatur dauert, das Suchtverhalten aber lässt sich nicht so einfach abstellen, das neun Jahre alte Netbook ist zu langsam fürs flotte Surfen (Ladezeit von wetteronline ca. fünf Minuten), und jetzt sitze ich an einer Art Kindergerät mit Windows 10, angenehmer Tastatur, Touchscreen, Fingerkuppenerkennung und langer Batterielaufzeit für 200 Euro. Irgendwie toll. Wenn der Mac zurückkommt, werde ich ihn ausschließlich fürs Arbeiten nutzen und mit dem Kleingerät hier daddeln. So kann ich vielleicht noch ein paar Jahre hinauszögern, was mich ansonsten tausende Euro an soft- und hardware kosten würde. Der Browser edge ist natürlich quatsch und das windows erlaubt keine Installation von Fremdprogrammen, zu Ihrer Sicherheit, es sei denn, man löste diesen blöden Modus auf, und das ließe sich aber nicht rückgängig machen, alles klar. Ich tendiere sowieso zu Linux, aber dann geht die Garantie flöten.
Dann frag ich mich, warum muss ich auch dauernd online sein und alle fünf Minuten nach dem Wetter schauen? Wieso lauf' ich nicht durch den Rest-Sommer, schaue in den Himmel, wahlweise von einer Hängematte aus oder durch hochgewachsenes Gras, aus dem Grillen zirpen und Tautropfen perlen … und so weiter mit romantischen Vorstellungen einer rein analogen Zeit, die erst wieder zurückkommt, wenn der Strom ausfällt. Übrigens eine meiner Lieblingsvorstellungen von einer richtigen Apokalypse: Stromausfall. Noch vor Vulkanausbruch, Erdbeben, Meteroiteneinschlag oder Hochwasser.




Montag, 5. August 2019

Der Bildhauer hat einige der Stecken erneut überstrichen, mittlerweile die vierte Schicht von schwarz über weiß und senfgelb zu diesem Blauton, heute beginnt der Aufbau der Ausstellung, die Busenfreundin ist auch dabei mit einem Objekt, das sie selbst nicht so richtig versteht, das finde ich irgendwie sehr lustig, auch kunsttheoretisch, und der Bildhauer und ich machen was Kindliches, als Künstler sind wir frei und müssen überhaupt nichts erklären, ich stelle mir jetzt schon wehende Stoffe unter Bäumen vor, man kann reinkriechen und sich verstecken, das ist doch toll. Gerade nach dem gestrigen, sehr bedrückenden Tag der Kindheitserinnerung brauche ich heute einen solchen Ort. Und E. hat uns angeboten, ihren Garten weiterhin als unser Refugium zu nutzen, welch angenehme Wendung.




Sonntag, 4. August 2019
Neuerdings finde ich die Nachbarn sehr laut. Das Vorschulkind im Hof Richtung nordwest, aus dessen Mund, sobald es ihn öffnet, Laute herausströmen, also eigentlich immer; im Fünf-Minuten-Takt weint und schreit es auf mit dieser Kopfstimme, zankt sich mit Schwester und Eltern, und jedesmal bleibt mir das Herz stehen, und ich möchte aufspringen, hinlaufen und befehlen, das Kind doch mal nachhaltig zu beruhigen und nicht stundenlang auf Hochtouren laufen zu lassen. Aber wie ich’s auch drehe, ich wäre die intolerante Nachbarin, die Kindern keinen Spaß gönnt, wo sollen sie denn sonst spielen, wenn nicht im beschützten Hinterhof der architekturverwöhnten Mittelschicht, ihr Gartenteil hat sicher einen Preis gewonnen, ich solle doch bitte aufs Land ziehen, wenn’s mir zu laut ist in der Stadt, und wieso ich mich überhaupt einmischte in ihre Erziehung. Ach, ich hätte gar keine Kinder?

Des Nachts gegen zwei werde ich von weiblichem Aufgekreische und Gerumpel aus südwest geweckt, lass mich in Ruhe, kann ich nur raushören aus den schrillen Tönen, die den Hof füllen, es steigt und fällt das Gezanke, wie ich es nur zu gut kenne von damals, wieder rumpelt es, es werden Türen geschlagen, man hört große Verzeiflung heraus, die andere, leisere, ebenfalls weibliche Stimme versucht zu reden, zu beschwichtigen, das nährt nur weiter das Schreckliche der Situation, in einem anderen Haus erwacht weinend ein Kind, die Nachbarin unter mir im ersten Stock schließt ihr Fenster und rollt die Läden herunter, und so geht es eine halbe Stunde, bis alles wieder, genauso abrupt wie es begonnen hat, still ist.

Hätte ich mir gewünscht, dass die Nachbarn, alarmiert vom allmonatlichen Streiten meiner Eltern, die Polizei rufen? Hätte ich gewollt, dass ein Amt uns Schwestern herausnimmt? Wie ich als Kind zwischen meinen Eltern stand und aufhören, hört doch auf schrie, auch sie beide in ihren Grundfesten verzweifelt, zerrüttet, verhasst, und ich wusste nicht warum. Ich weiß es auch heute nicht. Ich kann nur annehmen, was aus ihren enggewordenen Herzen als Schrei entweicht, und wenn ich heute die kleine Mutter sehe, wie lieb sie ist, wie lieb die Pflegerinnen sie behandeln, Küsschen hier und ein zärtliches Streicheln da – sie ist jetzt eine vollständig andere Person und nichts erinnert mehr an die ausgestandenen Dramen, an ihr hexengleiches Gezeter und die Schläge ihres Mannes, die Dudi und mich trafen und alles blieb geheim, man durfte nicht drüber reden, das Nest nicht beschmutzen, was war das für ein Nest, das schon beschmutzt war, ehe es gebaut ward, ich weiß es ehrlich nicht –




Sonntag, 28. Juli 2019
Was für eine Gnade, zwischendurch alles abwerfen zu können. Den Körper in eine aufrechte entspannte Haltung bringen und aufhören anzuhängen. Den Philosophen Jochen Kirchhoff – und durch Nennung seines Namens am Anfang des zweiten Satzes dieses Blogeintrages bekommt er eine Wichtigkeit, die er nicht haben sollte – habe ich am vierten Jahrestages des mahasamadhi des geliebten Lehrers zu hören und zu lesen begonnen. Mein Privatstudium – endlich ein Begriff, mit dem man die Vita auffrischen kann – hatte mich erst durch weltliche Themen getragen, auf einem Boot von Interesse, Ablehnung, dann wieder Wissbegierde treibend, wo ist rechts, wo links, und das weniger im politischen Sinn, backbord, steuerboard, eine Reise ins All, und der Philosoph hatte dazu die Landkarte. Und Sprache! Möglichst weit/fern von abgelutscht-esoterischen Begriffen versucht er eine Kosmologie des Geistes, des Bewusstseins. Hier wieder meine Freude an der Muttersprache, die das recht einfache Englisch des indischen Lehrers durch den Philosophen zu transzendieren scheint. (Ist das überhaupt ein sinnvoller Satz?) Der megatechnische Pharao als Widersacher des kosmischen Anthropos. Meine Güte. Ein Weltgefühl, das eine Verantwortung trägt/birgt. Während die vedantische Sicht die prakriti als maya, als Täuschung sieht, wertet sie sie ab, oder? Der Philosoph hingegen beschreibt den Kosmos als unendlich komplexes, ja bewusstes Gebilde. Und plötzlich wird aus Angst vor Leere Anbetung der Fülle – eine äußerst geschmeidige Umkehr des Blickes auf die Dinge, ein shift, aber dies ist auch schon wieder so ein durchgenudeltes Wort. (Swami antwortete auf meine Frage, ob man nicht auch in Betrachtung der Natur Erleuchtung erlangen könnte, das würde bedeuten, die Schöpfung über den Schöpfer zu stellen. Ich habe nicht antworten können, dass doch beides eines sei. Wir befanden uns inmitten des großen Disputes zwischen vedanta und samkhya.)

Und so ist dieser Sommer in vieler Hinsicht besonders. Endlich wieder normales Wetter, beschwört wetter-online, geil auf Drama. Ich weiß eigentlich nicht, was normales Wetter sein soll. Erinnerungen an heiße Nächte unter Laken, die die Mutter statt der Bettdecken bereitgelegt hat und trotzdem jammerten Dudi und ich im erhitzen Dunkel des Kinderzimmers. Straßen und Wege, vor denen unsere nacktgewohnten Füße zurückschreckten, die einzige Abkühlung vom Sprengding, unter dessen Regenbogen wir herumhopsten, und das Gras war eine große Pfütze nach Stunden der Freude. Die gemäßigten Zonen verschöben sich nach Norden. All diese Nachrichten – was für eine Gnade, zwischendurch alles abwerfen zu können. Den Körper in eine aufrechte entspannte Haltung bringen und aufhören anzuhängen.




Freitag, 26. Juli 2019
Für ein paar Wochen überlässt uns E., eine Künstlerkollegin des Bildhauers, ihren Schrebergarten. Wir sollen uns wie zu Hause fühlen. Aus einer Albernheit heraus planen wir, ihr jeden Tag mehrere dubiose Textnachrichten den Garten betreffend nach Schottland zu schicken. … man kann trotzdem noch drin wohnen. Oder mach dir jetzt bloß keine Gedanken, aber… Statt dessen erfreuen wir uns an dem Unperfekten ihres Gartenlebens, in das wir uns geschmeidig einfügen, wir finden alles wohlgeordnet und zur Hand, machen Feuer in der Schale, grillen Zucchini, rösten Kartoffeln und zupfen Mangold und Ruccola, und schlafen später dort, im kleinen Steinhaus. Für Stunden liege ich unterm Apfelbaum und schaue durch seine Zweige in den Himmel, ist es nicht ein Wunder, dass wir atmen und dass der Himmel blau ist, der Bildhauer streicht die Stecken senfgelb über (später rosa) für ein Kunstprojekt, das im August startet, ich darf allein über die Form entscheiden, das Konzept hat sich aus unseren jeweiligen Handgelenken schütteln lassen und ich kann mir nichts Schöneres vorstellen, als weiter und weiter mit dem geliebten Mann zu gehen, zu sehen, wohin sich unsere Ideen entwickeln.

Als Ganzes ist der Garten ein perfektes Kunstobjekt, es ist stimmig, von den fleckigen Gartenhandschuhen, die auf der Fensterbank liegen bis zum zerbrochenen Brett des mittigen Tisches, von den zentimeterdicken Brettchen, die das Besteck im Kasten voneinander trennen über den Kloverschlag, auf dessen vorliegende Kiesdecke man pinkelt und duscht, dorthin wird auch das Abwasser geschüttet, das Große aber kommt ins Plumsklo und wird mit einer Handvoll Streu bedeckt, in der Küchenecke gibt es einen Tresen, aus dessen grob von Hand ausgesägter Rundung heraus man Dinge beschickt. Verteilt ums Haus sind Sitzecken, eine entzieht sich vollständig den Blicken der Vorbeigehenden, eine andere schmiegt ein simples Brett neben den Anbau, während der große Tisch mitten im Garten unter den Bäumen allen Erscheinungen offen steht.

Im Detail ist die Anlage unordentlich und nicht sauber. Wir reden über das Nicht-Perfekte und wie viel wir davon aushalten können, auch in unseren Wohnungen. Ich denke an meinen vor Jahrzehnten schon zerfressenen Holzboden, noch immer verdächtige ich einige überlebende Tierchen unterm vom Vater geerbten Perserteppich, man möchte vielleicht auch mal ebene Wände haben, in denen ein Schräubchen hält, um ein Objekt ansehnlich zu drapieren, und hier im Garten wird ebenfalls keiner dieser Wünsche erfüllt, es ist alles irgendwie provisorisch, die 50er-Jahre-Steckdose wackelt in ihrer Befestigung und die Vierkanthölzchen, auf denen die Glasscheiben ruhen, auf denen wiederum die Ölflaschen und schöne Gläser stehen, sind grob mit weißer Farbe bestrichen und stehen über. Es ist schön hier. Wir halten es gut aus, das Nicht-Perfekte. Wir denken an Schöner-Wohnen, wo jedes Kissen und jedes andere Dings genauestens derart entworfen wurde, dass man damit angeben kann, da fällt mir ein, dass der stinkreiche Stiefvater des Bildhauersohnes uns eingeladen hat, seinen Stinkreichtum (Haus, Auto, Boot oder so) zu bewundern, dazu müssten wir nach Stuttgart fahren, was wir sofort dankend ablehnen, denn I don’t want to socialize with this people wie schon seinerzeit die Prinzessin erklärte, als wir eingeladen wurden, nach der Vernissage des Exmannes der Bestenfreundin noch zu bleiben, was für ein Gedankenschwenk nach HK, wo alle diese Leute–usw, ich bewunderte die Prinzessin für diesen selbstbewussten Entscheid, den ich ein klein bisschen bedauerte, denn gern hätte ich mit ihr händchenhaltend dem socializing beigewohnt.

In allem freigelassenen Nicht-Perfekten wohnt die Vergänglichkeit. Hier wird nicht gegenangeputzt, -gebastelt und -gefriemelt, hier werden einfach zwei Blecheimer unter den Wasserhahn gestellt und staubige Schuhe übereinander und wir laufen hin und her und machen Kräutertee oder Kaffee, und sitzen hier oder da und sehen ihr zu.




Freitag, 12. Juli 2019
Ich bin jederzeit für eine gute Geschichte zu haben, denn ich bin ein neugieriger Mensch. Vielleicht erzählt man mir deshalb gern etwas. Allerdings behalte ich wenig davon für längere Zeit. Vielleicht merkt man das ebenfalls und muss um so intensiver auf mich einreden. Es scheint sich etwas Vertracktes herauszubilden – ich leide nämlich mit. Jedenfalls für eine Weile, ein paar Tage, mit uferlosen Grübeleien, manchmal auch Schuldgefühlen, vielleicht weil ich gegen Probleme nichts auszurichten vermag. Ich hab’ aber halt Meinung. Und die sag’ ich. Ich bin parteilich, vornehmlich auf der Seite der Schwachen.

Inside des Vertrackten erreicht mich gerade die Erkenntnis, dass die Schwachen gar nicht so schwach sind wie sie tun oder selbst glauben zu sein. Sie drehen sich bloß um sich selbst, und weil Gedrehe eine Art Gravitation erzeugt, ziehen sie jede Menge Krempel an – Probleme, Ansichten, Abneigungen – der naturgemäß schwächen muss.

Seit dem Wachwerden heute morgen bin ich damit beschäftigt, Freunde einzusortieren. Grob gesagt in zwei Schubladen, das ist erstmal übersichtlicher und dient dem einzigen Zweck, meine Grübeleien abzustellen, die sich mit deren Problemen beschäftigen, von denen ich glaube, sie selbst seien zu schwach sie zu bewältigen. Ein großer Quatsch, ich schreibe hier jetzt ins Unreine. Die Schubladen sind egozentrisch und selbstlos. Super. Die Egozentrischen passen wegen der Drehung und die Selbstlosen haben keinen Mittelpunkt. Ob das stimmt?

Natürlich nicht. Der Mittelpunkt jeder Selbstlosigkeit muss bindu sein, der Punkt, an dem alles entsteht und wieder zurückgeht. Eigentlich ist dieser Punkt der einzige, der mich interessiert, nicht der Punkt der Meinung, nicht der Punkt, den jemand macht, um zu überzeugen, nicht die ausufernde Geschichte eines ertragenden Leides. Vielleicht vergesse ich deshalb alle Geschichten so schnell, weil ich deren Punkt nicht begreifen kann. All diese ausführlichsten Dauergeschichten, denen ich Gehör schenke… Was ist der Punkt der Gärtnerin, die jedes Jahr mehrmals ihren Garten umgestaltet und dazu alle Pflanzen umsetzt? Was ist der Punkt von Dudi, die nun nochmal unsägliche Wohngemeinschaft eingeht? Was ist der Punkt der Kollegin, die seit einem Jahr den Ex-Partner in die Narzisstenschublade steckt und steckt und erläutert und Gelder ausgibt, die sie nicht hat? Was kann der Punkt der Busenfreundin sein, die in ihrer Messiewohnung feststeckt? Und wieso muss die Lieblingsgestalterin sich dauernd besaufen?

Worum geht es da?
Ich sollte aufhören, es herausfinden zu wollen. Ist nicht meine Angelegenheit. Ich weiß ja nicht mal, warum ich seit Tagen wieder um die Besuchszeit fürs Mütterlein feilsche, nach fünf Tagen, nach sechs oder sieben, da ist der Sonntag dazwischen, der Montag wäre schon der achte Tag, ist das denn so schlimm, wo sie mir doch sowieso kaum mehr Beachtung schenkt. Wo ist da der Punkt?