Mittwoch, 8. November 2017
Könnte man auch Vereinfachungen nennen. Die Wiederholungen. Durch einen festen Wochenplan sich arbeiten, um dann –
Zweimal die Woche Besuch bei dem Mütterlein, das auch durch wiederholtes Zu- und Einreden nichts mehr von der Mutterschaft weiß. Kusine U hat mir das Fotoalbum meiner Tante Ch, Mamas ältester Schwester, überlassen, jene schon seit dreißig tot, der Mann dazu, Onkel H, möglicherweise seit 20 Jahren oder so. Mein Lieblingsbild dieses Albums zeigt Mama mit ihrer Schwester vor einem Gebüsch stehend, lachend, Mama beinahe prustend, mit einem seltsamen Kleidungsstück, dessen Muster mir sehr vertraut ist, ähnlich dem der kleinen Küchengardine im Elternhaus, das den Jalusienkasten verdeckte. Vielleicht habe ich beim Versteckspielen im Kleiderschrank gehockt und es wartend studieren können. Mama wirkt sehr jung, vielleicht war ich noch gar nicht geboren, und sie hat das kasakartige Teil lange aufbewart. Obwohl sowieso nicht übermäßig groß, ragt sie einen halben Kopf über den von Ch.

In diesen Zeitgefilden mag die Mutter stecken. Natürlich kann ich ihr dorthin nicht folgen, sie lebt ein Leben, in dem es mich nicht gibt. Sie versteht wohl nicht, dass ich so viel später geboren bin und ihr aus meiner Erinnerung nicht mehr antworten kann, nur aus ihren Erzählungen. Und so entfernt sie sich von mir. Längst bin ich nicht mehr so ängstlich, was ihr Wohlbefinden betrifft. Vor zwei Besuchen berichtet sie, wie sehr sie geweint hätte. Weil doch Weihnachten sei und niemand mehr käme. Ob ich nicht bemerkt hätte, wie verheult ihr Gesicht ausgesehen habe. Nein, ja, wir weinen alle, manchmal.

Die Fotos mit den falschen Erinnerungen bringen zurück, mit welcher Wut mein Neffe reagiert hatte: Und wo war ich da? Wir Schwestern selbst noch Kinder, im Garten spielend, oder vor Rosen posierend. Es gelingt mir nicht, sein Gefühl des Ausgeschlossenseins zu zerstreuen (ich glaube, ich schrieb davon schon einmal). Wo war ich vorher? Wo komme ich her?
Fragt das Kind wieder und wieder.

Solches versuche ich seit meinem Abschied von spirituellen Lehrern allein zu erforschen. Das gute Dutzend an Jahren, die ich mit dem Studium der Schriften und der Übung verbracht habe, soll mir dabei nicht wertlos sein. Ich kenne Begriffe des Körpers und des Geistes, Merkmale dieses oder jenes Zustandes. Ich weiß seit jeher, dass es sie gibt, früher namenlos. Zusammenfassend möchte ich gern behaupten, gern ausrufend es jemand an den Kopf werfen, dass man einen Berg auch besteigen kann, ohne seine Etappen, Vorsprünge und Aussichten namentlich zu kennen, man geht einfach diesen oder jeden Weg. Ihn gehen, dabei schlichtweg (von) Sachen wissen, das ist alles, was es braucht.




Sonntag, 1. Oktober 2017


Klaubt ein kleines rostiges Eisenteil vom Wegesrand und drängt es mir auf. Neben dem auseinandergebrochenen Wacholderstrauch mit dem Findling davor eines der letzten authentischen Objekte auf dem Hof, behauptet er. Dem Hof meiner Vorfahren in St.. Der Bildhauer begeleitet mich auf dem Weg in meine Familiengeschichte. Auf dem, wie ich nachlese, 110 ha (früher 250 ha) großen Gelände befindet sich nun ein Gestüt. Das Haupthaus wurde im Jahre 2002 komplett saniert, das alte offensichtlich abgerissen und genauso nachgebaut – ein langes Fachwerkhaus mit Querhaus am Ende. Sogar das Fundament aus Sandstein könnte neu sein, er ist hell und die Kanten der Quader kein bisschen gerundet. Über dem Haupttor der Balken mit der Inschrift, den Namen meiner Vorfahren, Jahreszahl und ein christlicher Spruch darunter. Auch der Balken ist neu, nur an den Enden erkennt man noch ein Stück angesetztes, verrottetes rauhes Eichenholz mit Eichenlaubschnitzerei. Der jetzige Inhaber muss ein Vermögen in den Neubau gesteckt haben! Niemand ist auf dem Gelände, irgendwann aber kommen nacheinander eine junge Frau und ein älterer, bäuerlich aussehender Mann mit ihren Autos zurück, ich stelle mich vor als eine späte Nachfahrin der Sch. und ob wir ein wenig herumspazieren dürften. Man lächelt und gibt uns Erlaubnis. Alle anderen seien auf Turnieren unterwegs, es wäre niemand zu Hause. Ich hatte schon scheu geklingelt.

Es ist eine seltsame Reise. Zwei Tage zuvor waren wir bei Kusine H. am Dümmersee zu Gast. Wir kennen uns nicht. Und wir sind neugierig aufeinander. Sie ist knapp 70 und wir entdecken jede Menge Gemeinsamkeiten in unseren Lebensentwürfen. Sogar mein lieber Bildhauer kann mitreden, hat H. doch auch Kunst studiert, zumindest in Beuys’ Nähe. Den Fotokoffer habe ich dabei und sie erzählt mir, während wir Bilder betrachten, von unseren Urgroßeltern und den Tanten, die Geschwister ihrer Großmutter und meines Großvaters, also eigentlich unsere Großtanten, zu neunt waren sie. Noch immer kann ich die Tanten nicht richtig auseinanderhalten. Anna, H.s Großmutter, erkenne ich mittlerweile an der besonders breiten Nase, die nächste hat ein schmales Gesicht und dunkle Augenringe und vielleicht mir am ähnlichsten, eine andere meist mit freundlich-breitem Lächeln, und jene Zurückhaltende, Hübsche, Vornehme, die seltener auf den Bildern zu finden ist. Und immer im Zentrum Urgroßmutter Henriette, mit straffem Mittelscheitel und eines der Kinder nah bei sich. Die Männer sind leichter zu erkennen, mein Großvater August, sein dicker Bruder und ganz selten dabei der Onkel, der nach Südamerika ausgewandert ist. Der Grund seiner Auswanderung, ein mögliches Zerwürfnis mit meinem Opa (der in der Partei), wie ich es mir ausgemalt hatte, war ein anderer: Er wollte mit seiner jüdischen Frau fort in eine bessere Zukunft. 1938 war das.

Wie H. mir, beinahe hinter vorgehaltener Hand, berichten konnte, hatte mein Opa, der zweitälteste der neun Geschwister, allerdings Anteil daran, was ich H. als ein Gefühl des Abgeschnittenseins von den Aktivitäten der Tanten bzw. dem Rest der Familie, beschrieb: Er lieh sich von einer der Schwestern 30.000 RM und zahlte sie nie zurück! Grund genug, von der Sippe ausgeschlossen zu werden. Die Nachfahren meines Opas August waren sich in der Folge genausowenig grün. (Und hier komme ich ins Spiel: Ich beabsichtige, so viele der Familienangehörigen wie möglich aufzusuchen, wenigstens zu kontaktieren, und mir ihre Geschichten anzuhören.) Eine andere Sachlage ist das vermehrte Auftreten von Homosexualität in unserer Familie, so etwa drückt H. das vorsichtig aus. Eine Freude überkommt mich. Ich versuche zu erklären, dass (fast) mein halber Freundeskreis aus lesbischen Pärchen besteht, und daher eine gewisse Affinität ähm, bei mir. Wir beleuchten die These, dass mein Onkel H. mit dem berühmten Sänger Freddy Q. nicht nur befreundet war, sondern richtig ‚befreundet’. H. ruft sogar einen ihrer Cousins an, um den Wahrheitsgehalt zu überprüfen, und H. wäre auch forsch genug, Freddy selbst anzurufen, um nachzufragen. Immerhin lebt er noch, wie wir mit einem schnellen Blick ins Interweb feststellen. Ich fühl mich mittendrin. Als wären wir eine große Familie. Wir sind ja auch eine große Familie. Es ist fast so als seien die Tanten auch dabei und sitzen mit uns über Apfeltarte mit Schuss und Chai nach einem tibetischen Originalrezept. H. zeigt noch Fotos von einem tibetisch-indianischen Powow in Kanada, an dem sie teilgenommen hat. Haben sich doch beide Stämme der gemeinsamen Wurzeln erinnert und das Widersehen zelebriert. Wiedersehen überall.

Irgendwann müssen wir aber los. Mein armer Bildhauer, der natürlich schon längst den Überblick über meine Verwandtschaft verloren hat, wird müde, und ich auch. Wir machen uns auf den Weg nach OS zu seiner Schwester. Ein wundervoller Sonnenuntergang begleitet unseren Weg durch gemeinsames Heimatland.

Auf der Rückfahrt Richtung St. (und dem alten Gut) kommen wir über D., wo die Tanten aufgewachsen sind und lange gewohnt haben. Die Tochter des dicken Onkels wohnt immer noch dort, ich habe ihre Telefonnummer dabei, aber ich rufe sie nicht an. Eine Ortskundige, die wir ansprechen, weiß noch über den dicken Onkel zu berichten, der besaß eine Kneipe und wenn der die Teufelsgeige herauskramte, gab es kein Halten mehr. Das Haus steht auch noch, aber es ist aufs Schlimmste renoviert, die Fensterbögen sind zugemauert, das große Wagentor zwei Fenstern gewichen, die früher ausladende Treppe nur noch ein blödes Stufendings, und überall weiße Kacheln! Die Ortskundige ermuntert mich, nebenan im Architekturbüro zu klingeln, dort arbeitet eine der Archivarinnen des Ortes. Als ich klingele und meinen Namen ausspreche, geht sofort der Summer und wir werden freundlichst empfangen. Dass mein Name in einer mir völlig fremden Stadt noch Türen öffnet, ist mir ein großer Schatz!

Daheim wühle ich wieder durch die Fotos und versuche sie zu ordnen. Mit einigen davon möchte ich ein halbwegs aussagekräftiges Album zusammenstellen. Vielleicht nehme ich auch H.s Bilder von der CD dazu und mache eine digitale Version. Die kleine (meine) Mutter indes erinnert sich nicht mehr an Ehe oder Kinderaufzucht. Das gehörte ja sowieso nie richtig zu ihr, sagt sie. Das Angeheiratetsein meint sie bestimmt. Sei’s drum. Ich träume, dass ich meinen Cousin J. in der Firma besuche, die Pförtnerin findet ihn nicht an seinem Platz und der Bildhauer und ich laufen durch ein lichtvolles Firmengebäude im Bauhaus-Stil mit kunstvollen dreifachen Baumsilhouetten-Spiegelungen, um ihn zu suchen.




Donnerstag, 21. September 2017
Air Berlin ist pleite und meine Tickets nach Indien verfallen ersatzlos. Swami versucht mich zu überreden, neue Buchungen zu machen, z. B. mit Swiss Air oder über Moskau. Meine Güte. Ich hab’s satt zu reisen, ehrlich. Was finde ich dort, das es hier nicht gibt? Die Argumente, die Swami für die Reise vorbringt, gefallen mir nur zum Teil nicht. Vielleicht ist es auch die Art, wie er sie mir vermitteln will, die mich endgülig abschreckt. Meine Entscheidung, auf die Reise zu verzichten, fällt in wenigen Augenblicken, ohne den geringsten Zweifel und so will ich sie auch lassen. Als ein Zeichen, nicht zu fahren. Ob man denn überhaupt fähig sei, Zeichen richtig zu deuten, fällt Swami mir auch dazu ins Wort. Tja, wenn ich so daran ginge, könnte ich gleich alles in Zweifel ziehen. Was ich auch tue.

Ein Abschied, oder? Mit aller gebührenden Trauer während des ernüchternden Rückblicks auf die letzten 13 Jahre. Eine andere Art von Zweifel befällt mich – an Swamis Vorbildfunktion, an der Wissbegier, die auch nur eine Art von Gier ist, ein Zweifel am spirituellen Ziel, das im Licht der Ewigkeit albern erscheint. Meditationstechniken? Braucht es wirklich eine Technik, um sich mit dem Absoluten eins zu fühlen? Ob mein natürliches Drängen nach Wahrheit unter all dem theoretischen Wissen und den Techniken verloren ging? Ich fürchte wohl.




Montag, 28. August 2017
Ich vertreibe mir die Zeit mit der Herstellung diverser Sirup-Sorten, heute gibt es welchen von der Holunderbeere. Außerdem vertreibe ich mir die Zeit mit Ahnenrecherche. Eine Frau mit meinem Nachnamen hatte ich schon 2010 über fb angeschrieben und jetzt meldet sie sich, ob es for real wäre. Wir beide sind gleich erfreut, als wir Dank alter Unterlagen (u. a. in den Papieren meines Vaters) herausfinden, dass wir die gleichen Urgroßeltern haben. Ihr Opa ist 1938 nach Venezuela ausgewandert und seine Nachfahren bestehen aus vier Kindern mit ein paar wenigen Enkeln. Jene Kusine wohnt heute in Equador. Mein Vater hatte es uns vor Jahren schon erzählen wollen – seine Vorfahren besaßen einen Hof in Westfalen, der bereits im Jahr 1147 beschrieben wurde und über 800 Jahre im Besitz der Familie Sch. gewesen war, bis er in den Kriegsjahren mangels rechter Bewirtschaftung verkauft werden musste. In späteren Jahrzehnten wurde dort Geflügelwurst hergestellt und nun befindet sich am selben Ort ein Gestüt.

Die Stengel der Holunderbeeren sehen aus wie rote Adern, die jemand aus Körpern herausgezogen und zum Trocknen aufgehängt hat. Oder wie Zweige von Stammbäumen. Der Chronist der Sch.’schen Ahnen hatte mit bestem Wissen und Gewissen noch 1940 von Blut und Boden geschrieben, dem er sich eher zugehörig fühlt als seine Vettern, die als Stadtmenschen kaum mehr an der Scholle hingen. Ein anderer entfernter Vetter, heute 70-jährig, hat den Stammbaum in den letzten zehn Jahren weitergeführt, digital erfasst und auf seiner Website zugänglich gemacht. 22.858 Personen in 8.625 Familien. Natürlich ist mein Familienname dabei und ich bitte Herrn Sch. per Mail, noch ein paar Daten meiner Familie hinzuzufügen. Auch von meiner Mutter finde ich Abschriften von Heiratsurkunden ihrer Vorfahren, die als Abstammungsnachweis in den 40ern angefertigt wurden, und nun kenne ich auch die Namen der Ur- und Urgroßeltern der mütterlichen Linie.

Ahnenverehrung gibt es auf der Welt anscheinend bei allen Völkern, nur nicht bei uns. Wen sollte man auch verehren können, über den nicht geredet wurde oder der selbst nichts mehr erzählt hat, weil er unter schauerlichen Kriegserlebnissen verstummt war oder anderes zu verbergen hatte, vielleicht als Täter oder Mitwisser. Dass mein Opa in der Partei war, sieht man auf Fotos am stolz präsentierten Abzeichen am Revers. Und Mama konnte sich an Onkel H. (den Venezulaner, es war der Onkel meines Vaters, sie ist ihm nie begegnet) nur in sofern erinnern, dass nicht über ihn gesprochen wurde. Was es bedeutet, wenn sich 1938 jemand vom Acker macht, könnte man sich denken. Ich hoffe, dass meine Kusine mir mehr dazu erzählen wird. Die Großelterngeneration bestand aus neun Geschwistern, drei Männer und sechs Frauen, einige ledig, andere verheiratet und deshalb fremden Namens. Auch ihre Gesichter erkenne ich nun auf den vergilbten Fotos wieder.

Jede/r meiner Ahnen hatte ein Leben, sei es glücklich gelebt oder vertan. Mein eigenes verliert durch meine Nachforschungen und Erkenntnisse an Wichtigkeit, trotzdem aber stellt es mich vor alle anderen 22.858, weil ich derzeit am Leben bin. Ich werde das Beste draus machen.

Nachtrag: Seltsamerweise existieren von meiner Großmutter väterlicherseits kaum Familiendaten. Ich habe sie natürlich noch kennengelernt, immerhin wohnten wir über 20 Jahre mit ihr nicht besonders glücklich zusammen im Eineinhalbfamilienhaus. Ich mochte sie nicht besonders, und ich habe sie kaum je etwas Persönliches gefragt. Sie war die zweite Frau meines Großvaters, und zuerst als Kinderfrau für seine vier halbwaisen Kinder eingestellt. Praktischerweise heirateten sie später und zeugten meinen Vater. Gestern fiel mir ein kleines Gebetbuch in die Hand, ein Andenken an Omas erste hl. Kommunion, ihr Name ist eingedruckt. Im Büchlein liegen zwei Sterbekarten. Solche Karten wurden wohl anlässlich der Beerdigung unter den Trauernden verteilt. Es gibt vorn ein Heiligenbild und auf der Rückseite einen Sinnspruch, gefolgt vom Namen der/s Verstorbenen und die Geburts- und Sterbedaten. Auf jeden Fall hatten beide Personen einen christlich-frommen Lebenswandel geführt und waren durch die hl. Sterbesakramente wohl gestärkt. Es handelt sich bei den Toten um ihren Vater und ihre Großmutter, nach deren Namen ich vergeblich gesucht hatte. Ich weiß, dass meine Oma bei ihren Großeltern aufwuchs, die näheren Gründe kenne ich auch hier nicht. Vielleicht war die Mutter früh gestorben und der Vater hatte sie zu den Großeltern gegeben. Mir scheint, die Familie ist durchzogen von früh gestorbenen Erstfrauen mit gemeinsamen Kindern, von Zweitehen mit weiteren Kindern. Auch der venezuelanische Onkel H. wies diese Konstellation auf.




Donnerstag, 20. Juli 2017
Na, hast du dir Fotos angesehen, frage ich, als ich das Album auf dem Tisch liegen sehe. Ja, antwortet sie mit kleiner Stimme, und meiner Nachfrage, ob es ihr gefallen habe, stimmt sie zu, ja, und sie habe jetzt auch herausgefunden, wer ich denn sei, nämlich die kleine Niedliche, die immer so süß aussah und die Nachbarskinder wären vorbeigekommen und hätten mit mir gespielt. Kein Name, kein weiteres Attribut –

Das Rote Album, Bilder aus den späten 60ern. Nochmal das Hin- und Her, wer Mutter, wer Tochter, wer überhaupt wer. Bilder von ihr hätte sie nicht gesehen, nein. Ich erinnere mich, dass unser Vater uns Schwestern für eine Gartenserie vor Teich, Rose und Beet drapiert hatte, so wie Objekte, in Badeanzügen in dunkel- und hellblau, die den Garten verschönern, und dann knips –

Die Mutter ist sehr still und wir gehen am besten raus, einmal um die große Wiese rolle ich sie, wir sehen das Storchenpaar ganz nah und ich trage den Rest des Tages eine diffuse Traurigkeit in mir. Ich weiß ja, dass sie mich für verschiedene Menschen hält, neulich sogar für ihren kleinen Bruder (wieso siehst du eigentlich aus wie ein Junge), wir hatten auf dem Sommerfest im Pflegeheim ein bisschen getanzt, dazu hatte sie die Betreuerin beispielhaft aus dem Rollstuhl ins Stehen gewuppt, ich hab’s nachgemacht und hatte die kleine Mutter im Arm, einfach ein bisschen mit dem Po wackeln, rate ich, wo doch die Beine nicht mehr, ja sagt sie das Rechte und so weiter, es ist ein bittersüßer Tanz zu Hammondorgelschlagern, die sie alle auswendig kann, dieses ganze Bittersüße will nicht aufhören, ich frage mich, wie lange sie das noch macht, morgen gehen Dudi und ich zum Notar, um das Elternhaus zu verkaufen, und Dudi weint ins Telefon, ob nicht ihr Sohn vielleicht drogenabhängig sei, sie mache sich Sorgen, aber eigentlich sind es Selbstvorwürfe, sie hätte so vieles falsch gemacht, meine Güte, wer soll diese Menschen bloß trösten –

Und die Busenfreundin springt von Thema zu Thema, sie stellt langwierig ausformulierte Fragen, in denen eine mögliche Antwort schon mitschwingt und hört dann meiner schon nicht mehr zu. Und die Bestefreundin verrennt sich in ihrem Vegansein, die nachgemachte Chorizo aus Gluten liegt genauso schwer im Magen wie ihre Filmrecherche über den nahenden Weltuntergang per Polsprung, ich glaube, die Welt ist auch ohne den schon nah am Untergang, völlig selbstgemacht, während ich darauf hoffe, dass mich das Geld aus dem Hausverkauf durch die nächsten fünf bis zehn Jahre bringt, ach, das ist alles so verdammt zukunftszentriert und angstbesetzt, das bin ich doch gar nicht –




Montag, 17. Juli 2017
Obwohl statistisch bereits im letzten Drittel des Lebens, würde ich mich eher am Anfang der zweiten Hälfte einordnen. Dass ich 100 Jahre werden würde, war klar. Und so ist mir anscheinend dafür auch genügend Kraft und Gesundheit zuteil. Wir werden sehen. Mir scheint, es gibt immer noch viele offene Enden. Der Bildhauer hat eine Plastik in einem Park inmitten anderer; eine Gemeinschaftsausstellung, die mich teils begeistert, teils aber ratlos zurücklässt, haben doch einige Teilnehmer das Rahmenthema sehr eng ausgelegt. Ich begreife, dass unter allen tausend Ideen, die ein Künstler zu Beginn hat, irgendwann eine Auswahl geschehen muss, die weiterhin auf die eine reduziert wird, und dann einfach machen. Genausogut hätte es einen anderen Einfall treffen können realisiert zu werden. Mit diesem Gefühl stapfe ich in Gummistifeln über die durchnässte Wiese von Objekt zu Objekt. An jenem des Bildhauers habe ich selbst Hand angelegt und bin anfangs gespannt, wie das Urteil darüber ausfallen mag, später aber weiß ich, dass es nur so ausehen kann, es besteht kein Zweifel. Eine andere Idee hingegen hätte anders ausgesehen. Natürlich.

Ein anderes Leben hätte auch anders ausgesehen. Eine heimliche Neigung zur Mathematik hätte ausgebaut werden können, und ich hätte mich, von Zahlen und Definitionen umgeben, darin eingerichtet. Zahlen und Gleichungen sind wohl aber fast das gleiche wie bildliche Ideen, die im Geist reifen und am Ende Gestalt annehmen. Oder auch nicht. Diesen Sommer trage ich viele Gestaltungen in mir herum, viele Themen, auch stelle ich mir vor, wie ich sie realisiere, welche Materialen ich einsetze, welche Techniken – und an einem Punkt innehalte, um das innerlich bereits fertiggestellte Objekt dann eben nicht fertigzustellen. Was ich davon halten soll, weiß ich noch nicht. Es gibt zu viele schöne oder interessante Design- und Kunstobjekte auf der Welt, und ich kenne mich nicht gut genug aus, um in der eigenen Schöpfung nicht doch nur bei Zitat oder Nachahmung zu enden. Und trotzdem erfreue ich mich an meinem regen Geist, der mich nachts über Stunden wachhält – vorgestern habe ich eine geraume Zeit an der Trauerkarte der Mutter gearbeitet, bin aber zu keinem fertigen Ergebnis gekommen. Außerdem lebt die Mutter ja noch. Gegrüßet seist du, Maria, … beten wir oft zusammen. Manchmal weiß ich nicht, ob sie noch weiß, wer Maria eigentlich ist. Eine Freundin?

Die Vorstellung, das Leben (ebenso wie jede kleine Kreatividee) hätte auch ganz anders verlaufen können, ist aufregend. Zunehmend sehe ich mich imstande, auf Vorfälle unterschiedlich zu reagieren – es sind eben keine reinen Reaktionen mehr, sondern ich treffe eine Auswahl unter möglichen Reaktionen. Es gibt keine natürliche Reaktion, so wie man auf Aggression automatisch mit Wut kontern möge oder was die Vita eben sonst so hergibt. Hingegen kann ich nun innerhalb weniger Sekunden bewusst entscheiden, welche Beantwortung geeignet ist. Für welchen Zweck geeignet? Auch den entscheide ich in den Sekunden des Innehaltens. Wo da noch Platz ist für Spontaneität, würde die Busenfreundin jetzt sicherlich einwenden, womöglich sehr aufgeregt. Genau, würde ich antworten.

Die Errungenschaften, auf die die Shiva-Sutras zielen, gehen noch weit über die der Yoga-Sutras hinaus, und während es dort beim in der eigenen Natur ruhen bleibt, machen die Shiva-Sutras weiter bis zur absoluten Wahrheit/Einssein, was auch immer das heißen mag. Swami hebt die Möglichkeit des Erschaffens von eigenen Universen heraus, und ich frage, was man dann mit so’nem eigenen Universum macht? Was machst du denn mit dem Universum, welches dein eigener Körper ist, kontert er – und Stille legt sich über mich, vielleicht isses auch bloß Sprachlosigkeit.

Welten erschaffen. Das gefällt mir. Es ist jetzt auch nicht mehr schlimm, nachts wachzuliegen, sich was vorzustellen und es nicht zu erschaffen. Es ist alles gleich. Ich muss nicht mehr. Nicht mal mehr notieren. Das ist auf eine seltsame Art sehr befriedigend.




Montag, 29. Mai 2017
Manchmal möchte man sich gern die Unfähigkeit vertreiben lassen, es mit sich auszuhalten. Solche Tage gibt es. Da fahren wir mit dem Rad durch die Stadt und können uns nirgends zum Bleiben entscheiden, wir vertreiben zum Beispiel SMSse von Kindsmüttern, wahrscheinlich während einer ebensolchen Phase bei Alkohol getippt wie geht es dir? Das löst im Bildhauer eine Bilderflut hervor, die kann ich ihm nicht nehmen. Ich selbst bin damit beschäftigt zu entscheiden, ob ich dem Auftritt meiner Ex-Band beiwohnen sollte, auch meinerseits angestrengtes Erwägen der möglichen Folgen: diffuse Sehnsucht nach was, oder Klänge, die was anderes auslösen. Ich entscheide, nicht zu gehen, da aber das Ereignis in möglicher Hörnähe stattfindet, lausche ich, halte gar den Kopf zum Fenster hinaus, aber es sind nur die Nachbarn, die etwas Härteres aufgelegt haben. Der Bildhauer backt auf meinen Wunsch eine ziemlich perfekte Pizza mit Lachs und Spargel. Ich esse mich satt.

Wir gehen ab Nachmittag eigene Wege, meine pendeln zwischen Der Kleine Hobbit und Nichtstun, wie kann man diese magere Geschichte nur auf drei Stunden auswalzen, bildgewaltig, ja, aber. Zufällig entdecke ich Moriarty in einem anderen Film und in einer Nebenrolle Sherlocks Bruder Mycroft, beide nicht gut gewählt oder einfach nicht gut spielend, aber wahrscheinlich gehören sie der BBC.

Und trotzdem; es gibt viel Erfreuliches. Ich verbringe Zeit mit dem jüngsten Patenkind, das schon fast lesen kann, ich habe einige Jahre verpasst, weil die eigene Mutter mir auf der Seele lag. Die wundert sich, dass sie so etwas wichtiges wie Mutterschaft bzw. Geburt ihrer Töchter vergessen konnte. Ob ich wirklich aus ihrem Bauch gekrochen sei? Na, sage ich, nicht gerade gekrochen, eher rausgeflutscht, so mit viel Blut und Schleim. Buargh, macht sie und schüttelt sich. Ich lache.

Das Patenkind und ich bringen uns auch zum Lachen. Wir versuchen, Urmel aus dem Eis zu schauen, aber es findet es langweilig. Trotzdem kann es sich kaum lösen von der Betrachtung des Bildschirms, und ich necke es ein bisschen und kitzele es. Urmel aus dem Eis ist wirklich witzig, ich schaue die vier Filme später allein. Alles sehr langsam, 1969 hatte man noch Zeit, die Puppen gehen halt da so lang und das dauert. Urmel ist niedlich, Wutz dreckig, der Professor vergesslich, der Seelöwe nervt mit seinem Gesang. Wahrscheinlich waren alle bekifft und hatten unglaublichen Spaß beim Dreh, die Idee mit den verschiedenen Sprachfehlern trägt. Mupfel.

Eine gesellige Zeit. Halbwegs spontan kommt G. zur Kaffeezeit, und da sie auch Hunger hat, ist es eher ein spätes Mittagessen. Trotz ihres eher männlichen, fast verwüsteten Aussehens, das sie noch mit dunkler Schminke und extremem Haarschnitt verstärkt, ist sie der sanfteste Mensch, den ich kenne. Sie ist schlau, warmherzig und weltoffen und unser Gespräch klingt gut an. Am Donnerstag habe ich sie, die Busenfreundin und L. zum Abend bei mir. Alle werden rauchen und trinken, ich kann mich noch nicht entscheiden, ob ich Risotto reiche oder Nudeln mit selbstgemachtem Pesto.

Zudem tanze ich auf einer kreativen Welle – ein selbst erdachtes Projekt, das mit dementen Menschen zu tun hat, Zielgruppe: Mama, mehr sei noch nicht gesagt. Ich bündele alle zur Verfügung stehenden gestalterischen Käfte, d. h. Menschen, Kolleginnen, die etwas beisteuern könnten und mache mich bereit, gegen Ende Juni etwas zum Vorzeigen zu haben, damit es finanziert werde. Allen, denen ich davon berichte, sind begeistert. Es könnte groß werden. Lustigerweise spart die dauerpleitene Bürokollegin nicht mit Ratschlägen zur Vermarktung. Warum nicht in großen Maßstäben denken, skandiert sie. Warum nicht erstmal in überschaubaren Dimensionen, wehre ich ab. Es ist eher ein Herzensprojekt als ein kommerzielles. Also dann.

Es geht gut grad.




Mittwoch, 24. Mai 2017
Die Fischer-Technik-Sammlung wollte der Bildhauer eigentlich verkaufen. Wir besuchten dazu eine Ausstellung in einer Schule auf dem Lande. Ganz wundersame Menschen, eigentlich fast nur Männer und Söhne, Mütter wegen der Stullen, begegneten uns, ohn’ Unterlass miteinander über die Technik dikutierend, man kann förmlich spüren, wie in ihren Hirnen Zahnräder ineinander greifen, Schalter umgelegt und Verbindungen auf Dauerhaftigkeit geprüft werden: Es rattert am Ort. Fischer-Technik hat aktuell ein Bauset für Kugelbahnen herausgebracht, folglich gibt es an fast allen Tischen jetzt Kugelbahnen zu bewundern und auszuprobieren. Ja tatsächlich, die Kugeln rollen dorthin, wo sie sollen, nebst Kippdingsbums in unterschiedliche Richtungen (rechts oder links). Jemand hat eine vier Meter lange Brückenkonstruktion zur Betrachtung mitgebracht, ein anderer lenkt mit dem Atomium (zu Brüssel) die Aufmerksamkeit auf sich, die Augenbälle rollen praktisch in Kugelbahnen dorthin, aber eigentlich ist das alles langweilig. Einen Bagger, eine Seilbahn oder 3D-Drucker nach Anleitung bauen? Mich reizt Wertigeres, zum Beispiel mechanische Objekte ohne besonderen Sinn, statt dessen wunderlich nach irgendetwas aussehend, das es (noch) nicht gibt (Kunst).

Wir bringen es nicht übers Herz, die Steine, Räder, Motoren und das alles unter Preis zu verscherbeln und nehmen unsere Kiste wieder mit nach Hause (zu mir). Da ich in meiner Jugend ohne Fischer-Technik aufwachsen musste, habe ich einen Dachschaden sehe ich endlich Gelegenheit, einiges nachzuholen: Ich baue gerade an einer Zeitmaschine.

*Gideon und Aspen hingegen verbringen ihre Zeit (versteckt) auf Samstagsmärkten, lassen Eltern laut nach sich rufen, reflexhaft schaue ich mich nach den Namensinhabern um, und auch nach den -gebern. Gideon. Aspen. Der eine die Kugelbahn, der andere den 3D-Drucker. Langweilig.




Mittwoch, 17. Mai 2017
Als ich in ihr Zimmer komme, sitzt die Mutter still und traurig vor sich hin, ich setze mich nah dazu. Sie beginnt zu weinen, als sie mir erzählt, dass beim Frühstück ein sehr berührender Text über das Muttersein vorgelesen wurde. Von wem? Sie kann sich nicht erinnern, aber, und außerdem, sie sei ja gar kein Mütterlein. Na, du bist doch meine Mutter, rufe ich, und versichere ihr, dass das Schöne des Textes auch für sie gelte. Aus ihren hellen Augen quellen weiterhin dicke Tränen, die vor dem Fallen das Augenlid wie einen winzigen Brunnen oder ein kleines Becken nach vorn ausdehnen. Ich küsse sie, und versuche sie zu trösten.

Ich hätte ihr doch gesagt, wir seien Schwestern – sie klingt ein bisschen verzweifelt. Und dann erkläre ich ihr wieder einmal ausgiebig die Familienverhältnisse; ein großes Durcheinander, bestätige ich, und irgendwie auch egal, Schwester oder Mutter. Sie lacht. Wir laufen den schönen Weg durchs kleine Deichtor, einmal um die große Wiese, sitzen am See. Du muss mir das alles nochmal erklären, sagt sie. Wie Mama gestorben war. Ich erkläre gern und mit großer Geduld. Ja, tatsächlich, Geduld habe ich gelernt in dieser Zeit, nicht dass dies alles hier ganz umsonst ist.

Schon letzten Freitag beim Warten aufs Zahnziehen im Krankenhaus sollte ich ihr nochmal erzählen, wie Papa gestorben sei. Wieder diese großen klaren Tränen, die erst einen See bilden. Später dann rollt die Assistentin sie zu mir zurück ins Wartezimmer, Mama den Mund weit auf, die Winkel blutig, lacht sie, weint sie? Ich kann es nicht genau erkennen, denn ohne Prothese hat sie nur noch die zwei vorderen Schneidezähne und sieht aus wie eine irgendwie sehr liebe Hexe, falls es das gibt. Später fragt sie, wie ich es fand, dass sie so strahlend aus der OP kam (also sollte das ein Lächeln sein, gut). Ich finde das so niedlich, sie hat sich viel mehr Sorgen um mich gemacht, die lange Wartezeit, das wollte sie doch nicht.

Also einen Zahn weniger. Auch das irgendwie geschafft.




Dienstag, 2. Mai 2017
Ich dachte vorhin erst, da kommt ein Kerl, ruft der Nackte mir zu, als ich mich schon wieder ankleide. Mein erstes Sonnenbad am See, vor dem Wind versteckt im Gras. Was, ich? ruf ich zurück. Ja, so mit dem Rad und der Jacke und den kurzen Haaren. Und dann kommt da plötzlich ein wunderschönes Mädchen zum Vorschein! Ich lache über wunderschön und Mädchen. Auf jeden Fall bin ich die jüngste von den fünf oder sechs FKKlern, die sich eingefunden haben. Ich erzähle dem Bildhauer von dem Geschmeichel, das fände er ja auch immer, sagt er, weiterschmeichelnd.

Diese (anderen) Erlebnisse sind leicht. An einem Tag sind wir plötzlich zu siebt und fahren zum Bärlauchwald, um zu spazieren und ernten und dann in meiner kleinen Küche zu landen, schnell einen Topf Nudeln aufsetzen, die Gäste mit flinker Hand bedienen. Rotwein ist noch da und Kaffee, alle kennen sich und plaudern aufs erfreulichste. Oder, mein großer Patensohn hat einigen Aufenthalt am hiesigen Bahnhof, ich fahre schnell hin und lade ihn zu einer Asianudel ein, dazu gibt’s buddhistische Weisheiten – von ihm an mich. Dass er das Spirituelle so ernst nimmt; was für ein erstaunlich schöner Mann er geworden ist!

Und die Ausflüge mit dem Bildhauer. Wir lassen uns zu Plätzen treiben, die wir im Laufe der zweidreiviertel Jahre gefunden haben, zu jeder Zeit erscheinen sie uns freundlicher und bedeutender. Sogar dieser seltsame Ort Grohnde: Vom Fährhaus zu sehen, ragen die Kühltürme des AKW aus den Fluss-Auen. Wir beoachten Ruderer und Menschen in Schnellboten, hinter uns tönt eine Blaskapelle, und die Weser, trüb und still, macht mir Heimatgefühle.




Jede Unternehmung, die die Mutter betrifft, erscheint mir als eine kaum zu bewältigende Herausforderung. Zum morgen anstehenden Zahnarzttermin muss allerlei Papierkram erledigt werden, Transportscheine, aktuelle Versichertenkarte, Überweisungen, Zahlungen – der Arzt sagt, zum Zahnziehen schicken wir solch betagte Menschen (lieber) ins Krankenhaus. Dazu rattern weitere Überlegungen: Soll ich Windeleinladen mitnehmen, und gleich noch eine Garnitur Wäsche, falls diesem betagten Mütterlein (dement, inkontinent, im Rollstuhl sitzend) ein Malheur passiert? Ich habe im Heim nicht gefragt, wer sich um all dies kümmern würde, wenn es mich nicht gäbe. Weil es mich ja gibt. Und so erledige ich all dies.

Die Weigerung, die Situation als gegeben hinzunehmen, kostet mich mehr Kraft, als die Dinge entschlossen anzugehen. Die Weigerung ist immer noch die: Ich möchte Mama so in ihrer Hilflosigkeit nicht erleben. Ich wünschte, alles wäre anders. Entweder Mama kregel und halbwegs gesund oder gar nicht mehr da. Ich wünschte, ich wäre frei. Und alles Denken dreht sich herum und herum, jeder Gedanke schon hunderte Male gedacht, jedes Bedauern tausendfach erörtert. Die Welt sei gefällligst so, wie ich (oder Mama, oder Dudi) es will! Und dies ist letzlich die größte spirituelle Herausforderung: Die Geschehnisse so anzunehmen, gar zu lieben, wie sie sind.

Am Ende wird sich jede Bemühung herausstellen als – was? Sinnlos? Darf man sowas überhaupt andeuten? Nochmal eine Serie von physiotherapeutischen Behandlungen – für was? Um der Mutter endgültig klarzumachen, dass sie nicht mehr alleine leben kann? Vielleicht ist es richtiger, sie in der Hoffnung zu lassen, da ginge noch was. Sie übt ja nicht mal für sich, sie vergisst es, natürlich, sie möchte, dass jemand kommt und sie gefälligst wieder auf die Füße stellt. Die Hausärztin weist sie sanft aber wahrheitsgemäß auf die muskelreduzierten Beinchen hin. Hinterher fragt mich Mama, wie ich die Ärztin fand. Sie glaubt ihr nicht und hält sie womöglich für inkompetent.

Gefälligst. Da sind wir beide uns gleich. Wir wollen gefälligst – was ganz anderes. Aber zacki.