Donnerstag, 20. Juli 2017
Na, hast du dir Fotos angesehen, frage ich, als ich das Album auf dem Tisch liegen sehe. Ja, antwortet sie mit kleiner Stimme, und meiner Nachfrage, ob es ihr gefallen habe, stimmt sie zu, ja, und sie habe jetzt auch herausgefunden, wer ich denn sei, nämlich die kleine Niedliche, die immer so süß aussah und die Nachbarskinder wären vorbeigekommen und hätten mit mir gespielt. Kein Name, kein weiteres Attribut –

Das Rote Album, Bilder aus den späten 60ern. Nochmal das Hin- und Her, wer Mutter, wer Tochter, wer überhaupt wer. Bilder von ihr hätte sie nicht gesehen, nein. Ich erinnere mich, dass unser Vater uns Schwestern für eine Gartenserie vor Teich, Rose und Beet drapiert hatte, so wie Objekte, in Badeanzügen in dunkel- und hellblau, die den Garten verschönern, und dann knips –

Die Mutter ist sehr still und wir gehen am besten raus, einmal um die große Wiese rolle ich sie, wir sehen das Storchenpaar ganz nah und ich trage den Rest des Tages eine diffuse Traurigkeit in mir. Ich weiß ja, dass sie mich für verschiedene Menschen hält, neulich sogar für ihren kleinen Bruder (wieso siehst du eigentlich aus wie ein Junge), wir hatten auf dem Sommerfest im Pflegeheim ein bisschen getanzt, dazu hatte sie die Betreuerin beispielhaft aus dem Rollstuhl ins Stehen gewuppt, ich hab’s nachgemacht und hatte die kleine Mutter im Arm, einfach ein bisschen mit dem Po wackeln, rate ich, wo doch die Beine nicht mehr, ja sagt sie das Rechte und so weiter, es ist ein bittersüßer Tanz zu Hammondorgelschlagern, die sie alle auswendig kann, dieses ganze Bittersüße will nicht aufhören, ich frage mich, wie lange sie das noch macht, morgen gehen Dudi und ich zum Notar, um das Elternhaus zu verkaufen, und Dudi weint ins Telefon, ob nicht ihr Sohn vielleicht drogenabhängig sei, sie mache sich Sorgen, aber eigentlich sind es Selbstvorwürfe, sie hätte so vieles falsch gemacht, meine Güte, wer soll diese Menschen bloß trösten –

Und die Busenfreundin springt von Thema zu Thema, sie stellt langwierig ausformulierte Fragen, in denen eine mögliche Antwort schon mitschwingt und hört dann meiner schon nicht mehr zu. Und die Bestefreundin verrennt sich in ihrem Vegansein, die nachgemachte Chorizo aus Gluten liegt genauso schwer im Magen wie ihre Filmrecherche über den nahenden Weltuntergang per Polsprung, ich glaube, die Welt ist auch ohne den schon nah am Untergang, völlig selbstgemacht, während ich darauf hoffe, dass mich das Geld aus dem Hausverkauf durch die nächsten fünf bis zehn Jahre bringt, ach, das ist alles so verdammt zukunftszentriert und angstbesetzt, das bin ich doch gar nicht –




Montag, 17. Juli 2017
Obwohl statistisch bereits im letzten Drittel des Lebens, würde ich mich eher am Anfang der zweiten Hälfte einordnen. Dass ich 100 Jahre werden würde, war klar. Und so ist mir anscheinend dafür auch genügend Kraft und Gesundheit zuteil. Wir werden sehen. Mir scheint, es gibt immer noch viele offene Enden. Der Bildhauer hat eine Plastik in einem Park inmitten anderer; eine Gemeinschaftsausstellung, die mich teils begeistert, teils aber ratlos zurücklässt, haben doch einige Teilnehmer das Rahmenthema sehr eng ausgelegt. Ich begreife, dass unter allen tausend Ideen, die ein Künstler zu Beginn hat, irgendwann eine Auswahl geschehen muss, die weiterhin auf die eine reduziert wird, und dann einfach machen. Genausogut hätte es einen anderen Einfall treffen können realisiert zu werden. Mit diesem Gefühl stapfe ich in Gummistifeln über die durchnässte Wiese von Objekt zu Objekt. An jenem des Bildhauers habe ich selbst Hand angelegt und bin anfangs gespannt, wie das Urteil darüber ausfallen mag, später aber weiß ich, dass es nur so ausehen kann, es besteht kein Zweifel. Eine andere Idee hingegen hätte anders ausgesehen. Natürlich.

Ein anderes Leben hätte auch anders ausgesehen. Eine heimliche Neigung zur Mathematik hätte ausgebaut werden können, und ich hätte mich, von Zahlen und Definitionen umgeben, darin eingerichtet. Zahlen und Gleichungen sind wohl aber fast das gleiche wie bildliche Ideen, die im Geist reifen und am Ende Gestalt annehmen. Oder auch nicht. Diesen Sommer trage ich viele Gestaltungen in mir herum, viele Themen, auch stelle ich mir vor, wie ich sie realisiere, welche Materialen ich einsetze, welche Techniken – und an einem Punkt innehalte, um das innerlich bereits fertiggestellte Objekt dann eben nicht fertigzustellen. Was ich davon halten soll, weiß ich noch nicht. Es gibt zu viele schöne oder interessante Design- und Kunstobjekte auf der Welt, und ich kenne mich nicht gut genug aus, um in der eigenen Schöpfung nicht doch nur bei Zitat oder Nachahmung zu enden. Und trotzdem erfreue ich mich an meinem regen Geist, der mich nachts über Stunden wachhält – vorgestern habe ich eine geraume Zeit an der Trauerkarte der Mutter gearbeitet, bin aber zu keinem fertigen Ergebnis gekommen. Außerdem lebt die Mutter ja noch. Gegrüßet seist du, Maria, … beten wir oft zusammen. Manchmal weiß ich nicht, ob sie noch weiß, wer Maria eigentlich ist. Eine Freundin?

Die Vorstellung, das Leben (ebenso wie jede kleine Kreatividee) hätte auch ganz anders verlaufen können, ist aufregend. Zunehmend sehe ich mich imstande, auf Vorfälle unterschiedlich zu reagieren – es sind eben keine reinen Reaktionen mehr, sondern ich treffe eine Auswahl unter möglichen Reaktionen. Es gibt keine natürliche Reaktion, so wie man auf Aggression automatisch mit Wut kontern möge oder was die Vita eben sonst so hergibt. Hingegen kann ich nun innerhalb weniger Sekunden bewusst entscheiden, welche Beantwortung geeignet ist. Für welchen Zweck geeignet? Auch den entscheide ich in den Sekunden des Innehaltens. Wo da noch Platz ist für Spontaneität, würde die Busenfreundin jetzt sicherlich einwenden, womöglich sehr aufgeregt. Genau, würde ich antworten.

Die Errungenschaften, auf die die Shiva-Sutras zielen, gehen noch weit über die der Yoga-Sutras hinaus, und während es dort beim in der eigenen Natur ruhen bleibt, machen die Shiva-Sutras weiter bis zur absoluten Wahrheit/Einssein, was auch immer das heißen mag. Swami hebt die Möglichkeit des Erschaffens von eigenen Universen heraus, und ich frage, was man dann mit so’nem eigenen Universum macht? Was machst du denn mit dem Universum, welches dein eigener Körper ist, kontert er – und Stille legt sich über mich, vielleicht isses auch bloß Sprachlosigkeit.

Welten erschaffen. Das gefällt mir. Es ist jetzt auch nicht mehr schlimm, nachts wachzuliegen, sich was vorzustellen und es nicht zu erschaffen. Es ist alles gleich. Ich muss nicht mehr. Nicht mal mehr notieren. Das ist auf eine seltsame Art sehr befriedigend.




Montag, 29. Mai 2017
Manchmal möchte man sich gern die Unfähigkeit vertreiben lassen, es mit sich auszuhalten. Solche Tage gibt es. Da fahren wir mit dem Rad durch die Stadt und können uns nirgends zum Bleiben entscheiden, wir vertreiben zum Beispiel SMSse von Kindsmüttern, wahrscheinlich während einer ebensolchen Phase bei Alkohol getippt wie geht es dir? Das löst im Bildhauer eine Bilderflut hervor, die kann ich ihm nicht nehmen. Ich selbst bin damit beschäftigt zu entscheiden, ob ich dem Auftritt meiner Ex-Band beiwohnen sollte, auch meinerseits angestrengtes Erwägen der möglichen Folgen: diffuse Sehnsucht nach was, oder Klänge, die was anderes auslösen. Ich entscheide, nicht zu gehen, da aber das Ereignis in möglicher Hörnähe stattfindet, lausche ich, halte gar den Kopf zum Fenster hinaus, aber es sind nur die Nachbarn, die etwas Härteres aufgelegt haben. Der Bildhauer backt auf meinen Wunsch eine ziemlich perfekte Pizza mit Lachs und Spargel. Ich esse mich satt.

Wir gehen ab Nachmittag eigene Wege, meine pendeln zwischen Der Kleine Hobbit und Nichtstun, wie kann man diese magere Geschichte nur auf drei Stunden auswalzen, bildgewaltig, ja, aber. Zufällig entdecke ich Moriarty in einem anderen Film und in einer Nebenrolle Sherlocks Bruder Mycroft, beide nicht gut gewählt oder einfach nicht gut spielend, aber wahrscheinlich gehören sie der BBC.

Und trotzdem; es gibt viel Erfreuliches. Ich verbringe Zeit mit dem jüngsten Patenkind, das schon fast lesen kann, ich habe einige Jahre verpasst, weil die eigene Mutter mir auf der Seele lag. Die wundert sich, dass sie so etwas wichtiges wie Mutterschaft bzw. Geburt ihrer Töchter vergessen konnte. Ob ich wirklich aus ihrem Bauch gekrochen sei? Na, sage ich, nicht gerade gekrochen, eher rausgeflutscht, so mit viel Blut und Schleim. Buargh, macht sie und schüttelt sich. Ich lache.

Das Patenkind und ich bringen uns auch zum Lachen. Wir versuchen, Urmel aus dem Eis zu schauen, aber es findet es langweilig. Trotzdem kann es sich kaum lösen von der Betrachtung des Bildschirms, und ich necke es ein bisschen und kitzele es. Urmel aus dem Eis ist wirklich witzig, ich schaue die vier Filme später allein. Alles sehr langsam, 1969 hatte man noch Zeit, die Puppen gehen halt da so lang und das dauert. Urmel ist niedlich, Wutz dreckig, der Professor vergesslich, der Seelöwe nervt mit seinem Gesang. Wahrscheinlich waren alle bekifft und hatten unglaublichen Spaß beim Dreh, die Idee mit den verschiedenen Sprachfehlern trägt. Mupfel.

Eine gesellige Zeit. Halbwegs spontan kommt G. zur Kaffeezeit, und da sie auch Hunger hat, ist es eher ein spätes Mittagessen. Trotz ihres eher männlichen, fast verwüsteten Aussehens, das sie noch mit dunkler Schminke und extremem Haarschnitt verstärkt, ist sie der sanfteste Mensch, den ich kenne. Sie ist schlau, warmherzig und weltoffen und unser Gespräch klingt gut an. Am Donnerstag habe ich sie, die Busenfreundin und L. zum Abend bei mir. Alle werden rauchen und trinken, ich kann mich noch nicht entscheiden, ob ich Risotto reiche oder Nudeln mit selbstgemachtem Pesto.

Zudem tanze ich auf einer kreativen Welle – ein selbst erdachtes Projekt, das mit dementen Menschen zu tun hat, Zielgruppe: Mama, mehr sei noch nicht gesagt. Ich bündele alle zur Verfügung stehenden gestalterischen Käfte, d. h. Menschen, Kolleginnen, die etwas beisteuern könnten und mache mich bereit, gegen Ende Juni etwas zum Vorzeigen zu haben, damit es finanziert werde. Allen, denen ich davon berichte, sind begeistert. Es könnte groß werden. Lustigerweise spart die dauerpleitene Bürokollegin nicht mit Ratschlägen zur Vermarktung. Warum nicht in großen Maßstäben denken, skandiert sie. Warum nicht erstmal in überschaubaren Dimensionen, wehre ich ab. Es ist eher ein Herzensprojekt als ein kommerzielles. Also dann.

Es geht gut grad.




Mittwoch, 24. Mai 2017
Die Fischer-Technik-Sammlung wollte der Bildhauer eigentlich verkaufen. Wir besuchten dazu eine Ausstellung in einer Schule auf dem Lande. Ganz wundersame Menschen, eigentlich fast nur Männer und Söhne, Mütter wegen der Stullen, begegneten uns, ohn’ Unterlass miteinander über die Technik dikutierend, man kann förmlich spüren, wie in ihren Hirnen Zahnräder ineinander greifen, Schalter umgelegt und Verbindungen auf Dauerhaftigkeit geprüft werden: Es rattert am Ort. Fischer-Technik hat aktuell ein Bauset für Kugelbahnen herausgebracht, folglich gibt es an fast allen Tischen jetzt Kugelbahnen zu bewundern und auszuprobieren. Ja tatsächlich, die Kugeln rollen dorthin, wo sie sollen, nebst Kippdingsbums in unterschiedliche Richtungen (rechts oder links). Jemand hat eine vier Meter lange Brückenkonstruktion zur Betrachtung mitgebracht, ein anderer lenkt mit dem Atomium (zu Brüssel) die Aufmerksamkeit auf sich, die Augenbälle rollen praktisch in Kugelbahnen dorthin, aber eigentlich ist das alles langweilig. Einen Bagger, eine Seilbahn oder 3D-Drucker nach Anleitung bauen? Mich reizt Wertigeres, zum Beispiel mechanische Objekte ohne besonderen Sinn, statt dessen wunderlich nach irgendetwas aussehend, das es (noch) nicht gibt (Kunst).

Wir bringen es nicht übers Herz, die Steine, Räder, Motoren und das alles unter Preis zu verscherbeln und nehmen unsere Kiste wieder mit nach Hause (zu mir). Da ich in meiner Jugend ohne Fischer-Technik aufwachsen musste, habe ich einen Dachschaden sehe ich endlich Gelegenheit, einiges nachzuholen: Ich baue gerade an einer Zeitmaschine.

*Gideon und Aspen hingegen verbringen ihre Zeit (versteckt) auf Samstagsmärkten, lassen Eltern laut nach sich rufen, reflexhaft schaue ich mich nach den Namensinhabern um, und auch nach den -gebern. Gideon. Aspen. Der eine die Kugelbahn, der andere den 3D-Drucker. Langweilig.




Mittwoch, 17. Mai 2017
Als ich in ihr Zimmer komme, sitzt die Mutter still und traurig vor sich hin, ich setze mich nah dazu. Sie beginnt zu weinen, als sie mir erzählt, dass beim Frühstück ein sehr berührender Text über das Muttersein vorgelesen wurde. Von wem? Sie kann sich nicht erinnern, aber, und außerdem, sie sei ja gar kein Mütterlein. Na, du bist doch meine Mutter, rufe ich, und versichere ihr, dass das Schöne des Textes auch für sie gelte. Aus ihren hellen Augen quellen weiterhin dicke Tränen, die vor dem Fallen das Augenlid wie einen winzigen Brunnen oder ein kleines Becken nach vorn ausdehnen. Ich küsse sie, und versuche sie zu trösten.

Ich hätte ihr doch gesagt, wir seien Schwestern – sie klingt ein bisschen verzweifelt. Und dann erkläre ich ihr wieder einmal ausgiebig die Familienverhältnisse; ein großes Durcheinander, bestätige ich, und irgendwie auch egal, Schwester oder Mutter. Sie lacht. Wir laufen den schönen Weg durchs kleine Deichtor, einmal um die große Wiese, sitzen am See. Du muss mir das alles nochmal erklären, sagt sie. Wie Mama gestorben war. Ich erkläre gern und mit großer Geduld. Ja, tatsächlich, Geduld habe ich gelernt in dieser Zeit, nicht dass dies alles hier ganz umsonst ist.

Schon letzten Freitag beim Warten aufs Zahnziehen im Krankenhaus sollte ich ihr nochmal erzählen, wie Papa gestorben sei. Wieder diese großen klaren Tränen, die erst einen See bilden. Später dann rollt die Assistentin sie zu mir zurück ins Wartezimmer, Mama den Mund weit auf, die Winkel blutig, lacht sie, weint sie? Ich kann es nicht genau erkennen, denn ohne Prothese hat sie nur noch die zwei vorderen Schneidezähne und sieht aus wie eine irgendwie sehr liebe Hexe, falls es das gibt. Später fragt sie, wie ich es fand, dass sie so strahlend aus der OP kam (also sollte das ein Lächeln sein, gut). Ich finde das so niedlich, sie hat sich viel mehr Sorgen um mich gemacht, die lange Wartezeit, das wollte sie doch nicht.

Also einen Zahn weniger. Auch das irgendwie geschafft.




Dienstag, 2. Mai 2017
Ich dachte vorhin erst, da kommt ein Kerl, ruft der Nackte mir zu, als ich mich schon wieder ankleide. Mein erstes Sonnenbad am See, vor dem Wind versteckt im Gras. Was, ich? ruf ich zurück. Ja, so mit dem Rad und der Jacke und den kurzen Haaren. Und dann kommt da plötzlich ein wunderschönes Mädchen zum Vorschein! Ich lache über wunderschön und Mädchen. Auf jeden Fall bin ich die jüngste von den fünf oder sechs FKKlern, die sich eingefunden haben. Ich erzähle dem Bildhauer von dem Geschmeichel, das fände er ja auch immer, sagt er, weiterschmeichelnd.

Diese (anderen) Erlebnisse sind leicht. An einem Tag sind wir plötzlich zu siebt und fahren zum Bärlauchwald, um zu spazieren und ernten und dann in meiner kleinen Küche zu landen, schnell einen Topf Nudeln aufsetzen, die Gäste mit flinker Hand bedienen. Rotwein ist noch da und Kaffee, alle kennen sich und plaudern aufs erfreulichste. Oder, mein großer Patensohn hat einigen Aufenthalt am hiesigen Bahnhof, ich fahre schnell hin und lade ihn zu einer Asianudel ein, dazu gibt’s buddhistische Weisheiten – von ihm an mich. Dass er das Spirituelle so ernst nimmt; was für ein erstaunlich schöner Mann er geworden ist!

Und die Ausflüge mit dem Bildhauer. Wir lassen uns zu Plätzen treiben, die wir im Laufe der zweidreiviertel Jahre gefunden haben, zu jeder Zeit erscheinen sie uns freundlicher und bedeutender. Sogar dieser seltsame Ort Grohnde: Vom Fährhaus zu sehen, ragen die Kühltürme des AKW aus den Fluss-Auen. Wir beoachten Ruderer und Menschen in Schnellboten, hinter uns tönt eine Blaskapelle, und die Weser, trüb und still, macht mir Heimatgefühle.




Jede Unternehmung, die die Mutter betrifft, erscheint mir als eine kaum zu bewältigende Herausforderung. Zum morgen anstehenden Zahnarzttermin muss allerlei Papierkram erledigt werden, Transportscheine, aktuelle Versichertenkarte, Überweisungen, Zahlungen – der Arzt sagt, zum Zahnziehen schicken wir solch betagte Menschen (lieber) ins Krankenhaus. Dazu rattern weitere Überlegungen: Soll ich Windeleinladen mitnehmen, und gleich noch eine Garnitur Wäsche, falls diesem betagten Mütterlein (dement, inkontinent, im Rollstuhl sitzend) ein Malheur passiert? Ich habe im Heim nicht gefragt, wer sich um all dies kümmern würde, wenn es mich nicht gäbe. Weil es mich ja gibt. Und so erledige ich all dies.

Die Weigerung, die Situation als gegeben hinzunehmen, kostet mich mehr Kraft, als die Dinge entschlossen anzugehen. Die Weigerung ist immer noch die: Ich möchte Mama so in ihrer Hilflosigkeit nicht erleben. Ich wünschte, alles wäre anders. Entweder Mama kregel und halbwegs gesund oder gar nicht mehr da. Ich wünschte, ich wäre frei. Und alles Denken dreht sich herum und herum, jeder Gedanke schon hunderte Male gedacht, jedes Bedauern tausendfach erörtert. Die Welt sei gefällligst so, wie ich (oder Mama, oder Dudi) es will! Und dies ist letzlich die größte spirituelle Herausforderung: Die Geschehnisse so anzunehmen, gar zu lieben, wie sie sind.

Am Ende wird sich jede Bemühung herausstellen als – was? Sinnlos? Darf man sowas überhaupt andeuten? Nochmal eine Serie von physiotherapeutischen Behandlungen – für was? Um der Mutter endgültig klarzumachen, dass sie nicht mehr alleine leben kann? Vielleicht ist es richtiger, sie in der Hoffnung zu lassen, da ginge noch was. Sie übt ja nicht mal für sich, sie vergisst es, natürlich, sie möchte, dass jemand kommt und sie gefälligst wieder auf die Füße stellt. Die Hausärztin weist sie sanft aber wahrheitsgemäß auf die muskelreduzierten Beinchen hin. Hinterher fragt mich Mama, wie ich die Ärztin fand. Sie glaubt ihr nicht und hält sie womöglich für inkompetent.

Gefälligst. Da sind wir beide uns gleich. Wir wollen gefälligst – was ganz anderes. Aber zacki.




Donnerstag, 6. April 2017
Nun sitze ich in meiner kleinen Wohnung, friemele hier und da, räume auf, stelle um, ergehe mich in Feinheiten – wohin der Nagel, wohin die Lautsprecher, die sind viel zu groß, wohin mit dem Olivenbäumchen, wann ein zweiter Kaffee, ein neuer Lampenschirm in der Schlafkammer, ein Blick nach den Bienen, vorgestern fand ich eine von ihnen gestorben – manchmal hätte ich gern einen neuen Schreibtisch, so einen wie die grünen Lesertische in der Leibniz-Bibliothek, oder so einen langen schmalen, die vielleicht eine Ablagemöglichkeit in Buchbinderwerkstätten gewesen waren, aber ich arbeite zur Zeit ja nicht, es sind schon drei Monate meines freien Jahres vergangen. Was soll ich also am Tisch? Mir wird nicht langweilig, nur manchmal verdaddele ich etwas Zeit mit Patiencen legen, jetzt wo ich auch keinen richtigen Fernsehempfang mehr habe, schaue ich manches später in Mediatheken – es ist eine gute Zeit. Die Panikattacken, die mich mehrmals am Tag durchflutet hatten, sobald ich an die Mutter dachte, tauchen nicht mehr auf, die Schuldgefühle sind fort. Gestern bekam ich ein Gut-Ausseh-Kompliment der Sufi-Änhängerin, mit der ich mich mich wöchentlich zur Meditation treffe, meine Antwort überraschte mich selbst: Ich selbst habe ja keine Probleme, bin gesund, schlafe wieder gut, habe ein Dach über dem Kopf, genug zu Essen, einen netten Partner und gute Freunde, und wenn’s der kleinen Mutter gut geht, geht’s mir auch gut.

Sie sei zur Königin gekürt worden, erzählte jene. Ist doch schön, meinte ich. Aber nein, erwiderte sie weinerlich, ich würde das ja alles gar nicht verstehen, denn sie wollte den Mann nicht, den es dazu gab, er sei ihr zu dick und grob, lieber wollte sie den anderen, feineren, aber der sei nicht für sie. Ich musste doch sehr lachen über diese Geschichte, die sie für wahr, ich aber für einen Traum hielt. Wir nutzten den Tag für eine Ausfahrt, in Spaziernähe ist ein löcheriges Wegstück gepflastert worden, so kann ich Mama mit dem Rollstuhl leichthändig führen. Da ist ein Bachlauf mit Bank, auf der wir sitzen bis zum Mittag, Gänse fliegen mit den Wolken über uns, Zilpzalpe und andere Sänger in der Au sitzen in hellgrünen Büschen und sind sehr laut.




Mittwoch, 15. März 2017
Die Bienen sind geschlüpft und tummeln sich vor dem Fenster. Niedlich! Auch ist es wieder Zeit für ein wenig Heuschnupfen, es ist gar nicht der Hasel, sondern wohl die Erle. Mama kann noch den Erlkönig auswendig und sagt ihn mit reger Betonung auf. Da spürt man Angst und Eile, siehst, Vater, du den Erlkönig nicht? Wie der Vater dann mit ihrer Stimme beschwichtigt – wir finden diese Verse schön. Und vorher hatte ich noch gefragt, ob sie sich erinnern könne, dass sie seit dem Tod meines Vaters ein paar Jahre allein gelebt hat. Nein, weiß ich nicht mehr. Sie sagt diesen Satz oft, ganz ohne Bedauern und in vollem Vertrauen, dass sie sich für ihre Vergesslichkeit vor mir nicht schämen muss.

Anselm Grün beleuchtet in seinem Buch „Gut mit sich selbst umgehen“ Formen und Gründe von Grausamkeit gegen sich selbst. Diese mag z. B. als Abwertung des eigenen Bemühens, als strenge Askese oder auch als Hörigkeit auftauchen. In vielen finde ich mich wieder und oft genug höre ich nicht auf mein eigenes Gefühl, sondern versuche Erwartungen anderer zu erfüllen, der Eltern oder der Lehrer, welche möglicherweise in Besitz der absoluten Wahrheit sind. Hoffe ich zumindest. Wenn ich nur der absoluten Wahrheit folgte, würde ich nämlich Freiheit, moksha, erreichen.

Das stresst mich grad. Am besten alles aufgeben. Dauernd rechtfertige ich mich. Ich tue so, als besäße ich unendliche Kräfte. Als könnte ich Mama vor unangenehmen Gefühlen retten, oder dafür sorgen, dass die nachtodlichen bardos sie nicht allzu grausam anfallen –

Und so weiter. In den letzten Monaten ist mir so vieles klar geworden. Wenn das Verstehen intellektuell geschieht, bleibt nicht so viel in Erinnerung, als würde ich es fühlend begreifen. Ich habe das Gefühl nun als eine Art Sinnesorgan erlebt, als ganzkörperliche Erfahrung der Wahrheit. Dauert oft länger als sehen oder hören und geht mit weiteren Erscheinungen einher, wie z. B. Grübeln, das sich allerdings als Markstein von Unwahrheit herausstellt. Denn was genau hatte ich bisher durch Grübeln klären können?

Oder so. Die Aussage dieses Textes ist mir jetzt entwischt. So wie manchmal, wenn die Gedanken sehr nervig um ein Thema kreisen, ich mir befehle, denke jetzt daran! Wenn ich dann versuche, richtig und effektiv darüber nachzudenken, hört das Denken sofort auf. Denk jetzt an Mama, geht dann nicht mehr. Ich mache dann statt dessen was anderes.




Dienstag, 7. März 2017
Indien? Swami ruft an und fragt, ob ich im Herbst mitkomme. Nach Indien. Mein übliches ich kann hier nicht weg und wenn was passiert, kann ich nicht so schnell aus Indien weg wird mit einem na und, dann kannst du eben nicht weg zum schnellen Einsturz gebracht. Und wenn Mama stirbt und ich nicht zur Beerdigung kommen kann? Wird ebenso weggewischt wie eine schon halb vertrocknete Träne.

Tatsächlich wirkt die Idee, einfach wegzufahren wie eine plötzliche Erfrischung nach langem Durst und bringt mich aufgeregt und voller neuer Hoffnung durch den Sonntag. Um dann am Montag unter einer Last von ohgott, was für ein Frevel, eine mögliche Beisetzung zu verpassen zusammenfällt und sowieso, einfach abhauen aus der Verantwortung? Ich kann nicht.

Jenes ich kann nicht – ganz langsam dämmert es auch mir, ist eine selbst angelegte Fessel. In der Meditation versuche ich, das eherne Band zurückzuverfolgen, wo es sich als Irrtum herausstellt und letztlich aus keiner besonderen Substanz bestehend. Da ist nichts.

Nichts. Im Treppenhaus treffe ich G., eine der Betreuerinnen von Mama. Auch sie ist sofort dabei: Indien, mach das! Du musst dein eigenes Leben leben. Beerdigung? Na und? Und Dudi, die eine Beerdigung allein ausrichten müsste, was wird die sagen? Auch na, und?

Im Frühjahr 2012 war ich das letzte Mal in Indien und damit auch das letzte Mal auf großer Reise. Ich konnte ja nicht weg. Unsere kleine Gruppe bestand aus reiner Unbeschwertheit. Versaute Witzen beim Spaziergang am Ganges, leckeres Essen, abendliches Zusammensein bei indischem Tee. Vorträge, Konzerte, Meditationen. Feuer und Sonne. Das Holi-Fest. Die Vorberge des Himalaya, der Oberlauf des Ganges.
Der gebliebte Lehrer.

Nach Hause kommen, zu Hause sein.




Mittwoch, 1. März 2017
Sie denke darüber nach, wieder nach M. zu ziehen, sagt die Mutter. Und wie immer staune ich, wie wenig sie ihre körperliche (und geistige) Situation begreift. Sie ist schwerst pflegebedürftig, sitzt im Rollstuhl, kann nicht mal allein aus dem Bett steigen oder aufs Klo gehen, ist orientierungslos, was körperliche Bedürfnisse oder Tageszeiten betrifft, ganz zu schweigen von den Finanzen, danach fragt sie manchmal und erwidert anschließend gut, dass es mir mal jemand erklärt hat. Und wie immer argumentieren Dudi und ich fröhlich drauf los, was gegen einen Umzug spräche, als gäb’s Preise dabei zu gewinnen. Fröhlich. Natürlich nicht. Es spricht alles dagegen, aber ihre Gründe sind natürlich verständlich, wer möchte schon mit einem Haufen fremder alter Leute zusammen wohnen, und so geraten wir, wie immer, in das Dilemma, ihr vollkommen irrationales Weltbild bedienen zu müssen, denn wir müssen doch reden, oder? Es laugt uns aus.

Das ist sicher nicht so gedacht. Mittlerweile habe ich Unmengen über Demenz gelesen, gehört und angesehen. Wenn ich Mama beobachte, kann ich mitempfinden, wie sie sich fühlt und auf welche Weise hakelige Gedanken durch ein löcheriges Hirn kriechen, uneinholbar, wenn sie davoneilen und verwirrend, wenn das Ende eines Satzes nichts mehr mit seinem Anfang zu tun hat. Sie hat auch, eher selten, aggressive Phasen, beschimpft dann, beleidigt und schlägt Pflegerinnen, zweimal hatte man mich gebeten zu kommen, um sie zu beruhigen, mittlerweile habe ich Angst vorm Telefonläuten, und wie immer, wenn jemand vom Stift anruft, wird keine Sorge, es ist nichts Schlimmes vorausgeschickt. Aber ich finde es schlimm, die Mutter völlig aufgelöst vorzufinden und mir ihre bösen Tiraden gegen alles und jeden anzuhören. Die eindringlichen Gespräche, die ich dann mit ihr führe, kommen mir so vergeblich vor bei diesem rückwärts gerichteten Gang, wieder Kind zu werden, um endlich im völligen Vergessen zu enden. Aber so weit ist es noch nicht. Sie beklagt sich bei Dudi, ich hätte ihr gesagt, sie solle endlich sterben.

Das ist es wohl, was ich denke, aber natürlich habe ich es anders formuliert, dass sie nicht wegen uns diesen ganzen traurigen Weg gehen muss, sondern sich jederzeit verabschieden darf, wenn sie nicht mehr kann.

Ich schaffe es (noch) nicht, die Dinge irgendwie positiv zu sehen. Dabei gibt es Besuche, die sehr lustig sind, wir können über die unsinnigsten Sachen lachen, und gerne nehme ich von ihr Behauptetes und verdrehe es in absurde Richtungen, der Sinn für diese Art von Humor ist ihr noch nicht abhanden gekommen und ihr in tausend Lachfalten geworfenes Gesicht finde ich überaus entzückend. Da ist dann diese große Nähe, vielbeschworen bei allen Angehörigen dementer Leute, eine seltsame Art später Freude, für mich ist sie zu spät, ich will sie jetzt nicht mehr, wo sie nicht mehr echt und klar ist, von einem vernebelten Hirn produziert, überdies erinnernd die klebrige Nähe und Bedürftigkeit früherer Zeiten. Es ist alles zu spät und vergeblich.

Vergeblich auch mein Versuch, aus dem Leben der Mutter zu lesen, es zu begreifen als ein Vorspiel für das eigene Leben. Ihre Kindheit und halbe Jugend im Krieg, die Angst verlassen oder in Kellern verschüttet zu werden oder zu sterben. Die Angst, die Eltern zu verlieren als ständiger Quell dieser lähmenden Bedürftigkeit, die dazu geführt hat, die eigenen Wünsche und Lebenspläne aufzugeben (oder gar nicht erst zu entwickeln) und sich denen des Ehemannes und der Schwiegermutter anzupassen. Deshalb auch die immense Wut auf meinen Vater, der wiederum versucht hat, aus der selbstgeschaffenen Enge zu entfliehen, erst in Urlauben, die allein verbracht wurden, dann zehn Jahre Trennung und zuletzt im Sterben, und immer blieb eine völlig hilflose und zunehmend verwirrte Mutter zurück, die nun in der Demenz alles vergessen kann – darf – will.

Das ist, kurz gesagt, das was ich davon halte. Ihre Demenz ist eine Folge ihres Lebens. Es hat sie möglicherweise nur wenig interessiert. Nur wir Töchter sind ihr ein und alles und sie versteht gar nicht, wie belastend das ist. Hat es nie verstanden, für sie ist es wahrscheinlich ein Kompliment an uns. Ist es aber gleichzusetzen mit Liebe? Dudi fragt sich oft, was sie für diese Frau empfindet – sie nennt es Mitleid. Im besten Fall. Ich hingegen versuche, Mitgefühl und Geduld zu üben, so als wäre meine Mutter ein Studienobjekt meines spirituellen Handels. Meine ich dann wirklich sie?

Man sagt, alles in der Welt sei miteinander verbunden. Und trotzdem wird es als wichtig erachtet sich abgrenzen zu können, um die eigene Kaft zu erhalten. Eine perfekte Zwickmühle für mich Grüblerin. So eine Art koan. Manchmal bin ich nah dran, manchmal verzweifele ich. Was vielleicht auf das Gleiche drauf raus kommt am Ende.