Montag, 3. November 2014
Stellvertretend suchen wir Steinbrüche und Tonkuhlen auf. Die Formationen sind beeindruckend und gehen tief, nicht nur geologisch. Der Bildhauer hatte während seines Studiums etwas in Stein gemeißelt, irgendwo im Weserbergland. Um dort hinzugelangen, nach seinen 25 Jahren, fahren wir fast meine komplette Lieblings-Motorradstrecke (mit dem Auto), über diverse Berghöhen und Pässe, zweimal hin- und zurück über die Weser, nur so, wir weilen an verschiedenen Stellen, die ich ihm unbedingt zeigen muss, um am Ende endlich seitwärts in einem schattigen Tal im kalt-rotbraunen Bruch anzukommen, der seit langem stillgelegt ist. Erst finden wir nicht das Gesuchte und laufen durch taubenetztes Gras und zwischen moosüberwachsenen Quadern herum und ich fotografiere die erodierten Wirtschaftsgebäude des Geländes. Dann dort hinten, früher musste die Stelle erst mühsam erklettert werden, jetzt scheint die Tiefe mit Material ausgefüllt und das Zeichen fast auf Augenhöhe, nur ein paar Felsen weiter. Wieder so ein Zeitsprung. Ich weiß, wie der Bildhauer die gealterte Szenerie empfindet. Als ob aber sein Alter bei den Steinen eine große Rolle spielte.





An einem anderen Tag betreten wir eine Tonkuhle nahe der Stadt, dort hatten die Studenten das grauschwarze Sediment geholt, um es zu Skulpturen zu formen. Der Ton fühlt sich rein und glatt an, man kann die weichen Schichten voneinander lösen, die manchmal durchsetzt sind von Ammoniten, Belemniten oder deren Negativformen. Die Grube geht tief und bildet einen grünen Teich. Am östlichen Teil, nahe der Einfahrt, wird roter zerschredderter Backstein zurückgeführt, wir stellen uns vor, dass einst die Senke wieder damit gefüllt sein wird.

Verwunschene Orte, die Bilder gehen Tage nicht aus dem Sinn. Als hätte ich im aufrissenen Erdreich etwas entdeckt, das nicht für mich bestimmt ist; so heimlich.




Sonntag, 26. Oktober 2014
Aushalten. Wir haben keine Lösung, Mama graut vor dem dunklen Winter und möchte nicht mehr da sein. Es gibt nichts, was ich ihr sagen könnte, ich habe mein Leben lang versucht, Sachen zu sagen, die ihr helfen könnten. Aushalten, dass es nichts zu tun gibt. Statt dessen das schwer gewordene Leben mit Hilfsmitteln ausstatten.

Am Donnerstag waren wir im Kaufhaus und haben einen wunderbaren Duffle-Coat gekauft. Sündhaft teuer. Sie sieht darin aus wie ein Mädchen. Später gehen wir zu Maria in den Dom, ein Gruppe murmelnder Menschen betet sich durch den Rosenkranz. "Erklär' Maria, dass du doch noch nicht kommst, sondern erst den neuen Mantel auftragen musst." Vier Jahre ist der alte Mantel in Gebrauch.

Ich träume, dass ich vier Jahre zurück reise, und ein Wissen mitbringe, dass die anderen noch nicht haben können. Die Lieblingschefin wohnt über mir und meckert über die falsch zugeschnittenen Gardinen, ich finde sie undankbar und nervig. Ich esse mit dem Priester eine aufwendig gebackene bunte Torte wegen meiner Patenschaft und der Kollege M. kommt mit dem Motorrad. Vor vier Jahren um diese Zeit habe ich eine Familienaufstellung gemacht und ein paar Wochen später ist Papa gestorben. Ich bin wirr im Kopf.

Wenn wir, der Bildhauer und ich, des Nachts gleichzeitig aufwachen, erzählen wir uns unsere Träume. Überhaupt erzählen wir viel, ich erbat mir Nachhilfe in Chemie und bestürzte ihn mit Fragen, die er nicht beantworten kann. Es versuchen immer sieben Neutronen den Kern zu umfliegen, darüber bin ich sehr froh, sieben, aber sie fliegen ja nicht wirklich, das ist nur ein Denkmodell, und ich frage mich, wie man auf sowas kommt, wenn man's nicht sehen kann. Unsere gemeinsame Welt nimmt Gestalt an, ich gebe was und er anderes, so werden wir beide reich.

Unter all dem ist Traurigkeit. Ich wüsste, wie man sich aufs Sterben vorbereitet, sich zentriert, gestern aber brüllte Mama mich an, der liebe Gott könne ihr auch nicht helfen. Deshalb sage ich heute am Telefon nicht viel. Ich weiß nicht was.

Ein grünes Rad kann trösten. Ein bisschen.




Montag, 13. Oktober 2014
Wir haben beide unsere Geschichten. Ähnliche. Über deine weinen wir noch, über meine habe ich selbst oft genug geweint. Kriege, die wir in uns austragen müssen, als hätten wir keine Wahl. Aber dann gehen wir am Waldrand entlang, an Marksteinen, deren Zahlen uns nichts bedeuten, suchen nach Zweigen und Ausblicken. Jemand hat hellblaue Plastikstühle stehenlassen, wir setzen uns eine Weile und sehen über wellige Felder, dort hinten schwirrt die Luft vor Sonne. Du schneidest Dornen vom Weißdorn, rötlich, lang, spitz, ich sammele sie erst in meiner Hand, bis du mir eine Tüte öffnest, in die ich sie vorsichtig hinein lasse. Wir werden ruhiger, während das zuvor Gesagte von uns fortschwebt. In einem nächsten Leben vielleicht eine Weile Vogel sein, wie jener, der über uns auf dem Wind liegt ohne Flügelschlag.




Donnerstag, 9. Oktober 2014
Mama war in der Badewanne ausgerutscht und böse aufs Steißbein gefallen. Erst nach einer Stunde hatte sie es geschafft, sich hochzustemmen und irgendwie aus der Wanne zu steigen. Meine Schwester Dudi hatte ihr daraufhin verboten allein zu baden. Alles geht fort, das sich bewegen können, die Esslust, der ganze Körper. Als ich sie letzte Woche besuche, biete ich an, sie zu baden.

Sie hat sich ausgezogen und ich helfe ihr in das warme Bad. Ihr klein gewordener Körper mit der hellen Haut sitzt jetzt im niedrigen Wasser, mehr Nass will sie nicht. Ich stütze mich mit hochgekrempelten Ärmeln auf den Rand und beuge mich über sie. Komm, ich schrubbe dir den Rücken, sag ich, seife den Waschlappen ein und reibe sie damit ab, nicht nur den Rücken lässt sie mich waschen, sondern auch Arme, Beine, Füße, Hände, Schultern, Brüste, Bauch und Po. Das ist das erste Mal, dass ich meine Mutter wasche, und mir kommt es vor, als wäre es noch nicht lange her, dass sie mich ebenso gewaschen hat.

In dem Film "Samsara" wird ein junger tibetischer Mönch zu einem Weisen geschickt, um Erkenntnis über körperliches Begehren zu erlangen, das sich seiner ermächtigt hat. Anhand von Zeichnungen bedeutet der Schweigende ihm die Vergänglichkeit des Körpers und seiner Lust. Sie zeigen Paare beim Geschlechtsakt mit ineinander verschränkten Körperteilen, und die Besonderheit der Illustrationen besteht darin, dass wenn man sie ins Gegenlicht hält, die rückseitigen Abbildungen durchscheinen, alte, faltige Körper mit grinsenden Todenschädeln, hängenden Brüsten, fast schon verwest. Der junge Mönch soll erkennen, welchen Weg er einschlagen wird, den der Entsagung oder des weltlichen Lebens.

Mama fragt, beinahe kokett, ob sie schlimm aussähe, und ich murmele, dass ich am See schon Schlimmeres gesehen hätte, ich kann ja nicht sagen, dass es nicht mehr drauf ankäme bei ihr, obwohl ich das denke. Ich sehe sie an, wie sie sich mir bietet, ich betrachte ihre großen Brüste, den runden Bauch und ihre Scham, sie schämt sich aber nicht, und so tu ich's auch nicht und denke an die Zeichnungen des Filmes – eben noch jung und das Fleisch fest, und später dann... es rührt mich, ich kann's nicht anders sagen. Es ist, als hätte ich nun die Lektion der Vergänglichkeit zu lernen.

Mittlerweile liegt sie, ich habe erst das eine dann das andere Bein aus dem Wasser gehoben und die Füße und Zehen massiert, es ist ihr wohlig zumute und mir ist nicht mehr so bang. Dann möchte sie noch ein paar Minuten liegen bleiben bis sie mich ruft.

Als sie aufstehen will, geht es nicht. Ich mache Vorschläge, vielleicht zuerst auf die Knie und dann hoch, aber das schmerzende Steißbein macht es ihr unmöglich sich zu drehen, sie versucht es so rum und andersrum, ich ziehe an den Händen, und sie schreit auf. Es geht wirklich nicht, es ist gut, dass sie nicht mehr allein badet. Ich ziehe kurzerhand Socken und Hose aus und steige zu ihr in die Wanne, greife von hinten unter ihre Achseln und stemme sie hoch, ich kenne ja all die Tricks nicht, die Pfleger so drauf haben, helfe ihr weiter hoch bis die Füße sie halten und sie aus der Wanne steigen kann.

Mit dem bereitgelegten Badetuch umwickele ich sie und rubbele sie trocken. Dann lasse ich sie stehen, hole die Flasche Olivenöl, nehme Hände voll und öle sie damit von Kopf bis Fuß ein, massiere Meridiane und Druckpunkte – sie muss sich festhalten, damit sie nicht fällt, ich bin etwas rauh. Anschließend schneide ich ihre Fußnägel und stecke sie nochmal ins Bett. Sie kann noch ein bisschen dösen, bis ich vom Markt zurück bin. Auf dem Weg habe ich wieder Sterbebilder. Was, wenn ich sie zum letzten Mal gewaschen habe und sie in der Zwischenzeit wohlig einschläft.

Huhu, rufe ich durch den Flur, als ich zurück bin, huhu ruft sie aus dem Zimmer und ich bin froh darüber. Ich decke den Tisch, es gibt Bratfisch mit Kartoffelsalat, den liebt sie so.




Mittwoch, 8. Oktober 2014

Auf der Fensterbank wird es Herbst. Im Blumenkasten gibt es eine zweite Generation Kleeblüten, noch gern besucht von den letzten Bienen des Jahres. In weitere Töpfe hatte ich Samenbomben gesetzt, aus denen es freundlich und etwas unordentlich gesprießt hatte und nun langsam vertrocknet. Ab und zu hört man eine Walnuss von Nachbars Baum fallen, der schon deutlich entlaubt sich zeigt. Die Mittagszeit verbringen der Bildhauer und ich in einem Steingeschäft, ich suche einen schönen Crysopras, der gegen die leidigen Hitzewellen helfen soll, und er irgendwas. Nachdem wir die tausend Sorten Steine, von denen es jeweils wieder tausende gibt, ausgiebig betrachtet haben, nimmt er drei Bergkristalle und ich neben dem grünen Stein noch ein Stück Mammut-Elfenbein. Mammuts sind seit diesem Sommer meine Lieblingstiere, der Bildhauer hatte die verschiedendsten Bücher über sie neben dem Bett gestapelt und ich träumte davon, in der Steinzeit zu leben. Mit ihm.

Wir machen seltsame Dinge – gehen mit Pfeil und Bogen raus und probieren sie aus. Für ihn sind beide, Bogen und Pfeil, schön geformte Skulpturen, was aber nicht darüber hinwegtäuscht, dass sie funktionstüchtige Waffen sind, die Pfeile besitzen Stahlspitzen und eine erstaunliche Kraft. Während wir durch die Natur wandern, ich mit acht federbesetzten tödlichen Pfeilen im Köcher auf dem Rücken und in der Hand das warme, geölte Holz des Bogens mit der straffen Sehne, die an meinem Handgelenk reibt, fühle ich mich nah dran, dort hinten liegt ein Haufen Stroh, sieht er nicht aus wie ein bereits erlegtes Mammut?

An einem anderen Tag in der Kiesgrube schießen wir mit Zwillen rundliche Steine auf Verkehrsschilder, imaginäre Ziele und liegengebliebene Flaschen, die mit diesem unvergleichlichen Geräusch zerspringen. Auch die Zwillen hat der Bildhauer hergestellt und verkauft sie in einem Laden für Vintage-Bedarf. In beiden Disziplinen, dem Bogenschießen und dem Gebrauch der Zwille, erweise ich mich als geschickt, und wieder fühle ich Dieses, als ich mit der Zwille in der hinteren Hosentasche neben dem Bildhauer hergehe, wir wie zwei Burschen, die jeder Gefahr trotzen. Ab und zu legen wir uns im Gehen gegenseitig den Arm auf die Schultern. Scheiß auf die Geschlechterrollen! Von Beginn an waren diese angenehm verwischt und immer noch spielen wir damit. Ich könnte darüber schreiben, wie gut wir uns miteinander fühlen, aber aus irgendeinem Grund empfinde ich es als verfrüht, noch herrscht Verliebtheit und gegenseitige Bewunderung, möglicherweise ausgelöst durch verwirbelnde Hormone, die angeblich nach einer gewissen Zeitspanne verebben – wir werden sehen, was die Zeit aus uns macht.

Mit dem Herbst und den Steinen und Holzstücken, die sich in meinem Zuhause ansammeln, ändert sich die Stimmung. Ich weiß, dass der Bildhauer meinen geistigen Ideen ebenso nah ist wie ich seinen künstlerischen, manchmal, wenn ich darüber rede, reagiert er äußerst gerührt. Es würden Puzzleteile endlich zusammenfinden, behauptet er. Männliche und weibliche. Diese und jene. Obere und untere. Für mich sind die tantrischen Traditionen Indiens schon lange Heimat, für ihn gewinnen sie langsam an Bedeutung.

Ich habe eine Art Gelübde gemacht, ein stilles, mit Sankalpa Shakti. Es betrifft einen Bereich, der mich seit Jahrzehnten nicht losgelassen hat. Jetzt möchte ich ihn willentlich loslassen. Ich weiß, dass das gut so ist.




Dienstag, 30. September 2014
Neu anfangen. Ich möchte alles wegwerfen, was dem jetzigen Moment nicht dienlich ist. Dieses hier, eine vergessene Kiste mit Briefen vergangener Jahrzehnte. Erschreckend. Aufstörend. Zeilen Verflossener. Liebesschwüre. Euphorien. Viele Umschläge von St., deren teils bemalte Papierbögen ich erst noch herausziehe und lese, später aber unbeachtet auf den Stapel zu den anderen lege. Meine vertrauteste Seelenfreunding zu Studienzeiten. Erörterungen, Befindlichkeiten. Alles viel zu viel. Auch die Fahrerin schrieb regelmäßig nachdem wir uns wiedergefunden hatten, ihre Stimmungen sind schwankend, bei ihr hat ebenso fast alles mit Liebe zu tun, zu den Partnern, den Tieren, und mit ihrer größten, ihrem Halbbruder G.. Als er mit dem Krad starb, war nichts mehr wie vorher. Auch für mich nicht.

Stunde um Stunde sitze ich auf dem Boden vor dem Karton. Mir tut der Rücken weh.

Zeilen der Bestenfreundin, meistens Beiläufiges, das mit dem Zusammenwohnen zu tun hatte, auch recht Einsilbiges aus Urlauben. Die ersten Liebesbriefe von T., große Gefühle, zehn Jahre waren wir zusammen, wunderbar. Berührend die festlichen Grußkarten meiner Eltern, beide seit langem nicht mehr ans Handschriftliche gewöhnt. Zarte Hoffnungen, mit krakeligen Lettern auf blauem Briefpapier Vorgetragenes von J., aber ich liebte T., der mein Herz besaß für so lange Zeit. Papiere längst vergessener Bekannter, E., die ich erst für eine andere E. hielt und mich wunderte, dass wir so intensiv geschrieben hatten, oder X., dessen Name mir jetzt schon wieder entfallen ist. Karten von A., der ich morgens beim Zeitung Austragen immer eine Ausgabe unter dem Kotflügel ihres Autos versteckte. Jede Menge Geburtstagspost.

All das wirft ein Licht auf mich, ein bestimmtes: Ich wurde gemocht und sogar geliebt. Man vertraute mir Geheimes an. Aber ich selbst? Mochte ich mich? Ich habe Fotos gefunden von mir, schlank, fast hager und dunkel gebräunt in Griechenland mit P.. Auf Reisen mit T., Momente in der WG, fröhliche Augenblicke mit meinen Patenkindern und den Kindern der Freundinnen. Hunderte von Bildern gesichtet und nur ein paar wenige behalten. Die auf denen ich mich mag, jetzt, denn es scheint... nein – ich erinnere mich, dass ich mich selbst nicht mochte. Ich stand nicht zu mir. Ich sah jungenhaft aus und hatte herbe Gesichtszüge, die ich nicht hübsch fand. Ich war mir selbst fremder als die andern. Das ist eine seltsame Einsicht.

An diesem Punkt kann jetzt alles zusammenfließen. Hier bin ich, eine Frau, die ich nicht mehr misstrauisch beäuge. Die weiß, was sie will. Immer schon wusste, oder etwa nicht? Den Roten Faden seit jeher fest in der Hand.

Lass mich neu beginnen. Lass mich lieben.
Immer weiter.




Mittwoch, 24. September 2014
Schön heiß noch, und steht bei mir auf dem Arbeitstisch. Dazu ein Schokoriegel mit gepopptem Amaranth. Der Tisch befindet sich jetzt in meinem Wohnzimmer, ich kann von hier aus dem Fenster auf einem Walnussbaum sehen, dahinter viel Himmel. Keine Ruinen und Reiche-Leute-Lofts. Musste alles ein bisschen umdrehen und einige Möbel kommen endgülig weg. Die Heizung läuft und ich habe schon eine Stunde gearbeitet (und drei halbe Stunden abgerechnet, so macht man das hier). Links an der Wand das Sofa, auf das ich mich gleich legen und einen kleinen Telefonplausch mit der Bestenfreundin halten werde. Später werde ich mich den Kisten und Kästen auf dem Flur widmen. Auspacken und das meiste wegwerfen.

Geht ganz gut an, das Home-Office.




Dienstag, 16. September 2014


Wie viel Kram sich angesammelt hat in gut fünf Jahren Bürogemeinschaft. Etwas verzagt sitzen wir inmitten von unauflösbaren Stapeln, die Bürokollegin und ich. Wie viele Ideen geboren wurden, und wie wenige davon umgesetzt wurden. Ich selbst war da nicht so umtriebig, aber die Kollegin kam mit immer neuen Einfällen und frischem Tatendrang – den sie jetzt, nach alldem, als reinen Angst-Aktionismus beschreibt. Von irgendwas muss ich doch leben, rief sie oft. Ernüchtert sind wir und letzte Woche hatten wir ein echtes Tief. Wir haben aber aufgepasst, dass wir uns nicht gegenseitig beschuldigen. Sind doch unsere Arbeiten thematisch und finanziell immer voneinander getrennt gewesen.

Gleichzeitig emfinden wir Erleichterung und sind froh über den Nullpunkt. Neu anfangen, sich nicht verzetteln (oder jemanden dabei beobachten müssen, wie er sich verzettelt). Ich freue mich auf meinen Arbeitsplatz in einer Ecke meines Wohnzimmers, erst muss ich noch daheim aufräumen und wegwerfen, damit die Büro-Bücher einen schönen Platz finden, es sind ja einige echte Schätze dabei.

Natürlich machen wir weiter, unsere Freundschaft ist nicht mit dem Büro zu Ende gegangen, dafür verstehen wir uns zu gut. Das vom Bürobetreiber verheißene Netzwerkeln hat auch hier nicht funktioniert, im vorigen Gebäude waren wir allesamt Frauen (in diesem Haus sollen ausschließlich Frauen die Chefinnen sein!), dort war das Zickenkrieg, was man hier im gemischtgeschlechtlichen Kreativzentrum eher Gleichgüligkeit nennen könnte.

Wir staunen weiter über die jungen Berufsanfänger, die glauben, mit ihrer Arbeit Berge versetzen zu können – so richtig Karriere wollen sie machen und ihr Hobby zum Beruf. Tatsächlich kann ich mich glücklich schätzen, denn mein Hobby ist mein Beruf, und ich kann allein gut davon leben, mit den wenigen Ansprüchen, die ich so habe. Was aber die Kollegin schon an Geld verbraten hat für ihre zwei Pferde; alles für ein bisschen Glück auf deren Rücken. Es fällt mir schwer das nachzuvollziehen.

Denn was braucht es wirklich zum Glück? Drachen steigen lassen, zum Beispiel, oder mit dem Bildhauer rumlachen. Am See in der warmen Sonne liegen und mit einem Zeh das Wasser testen. Haselnüsse sammeln. Wolken beobachten. Über staubige Felder spazieren. Nach Steinen suchen. Mit den Freundinnen quatschen. Ab und zu einen Kaffee. Selbstgemachte Süßigkeiten probieren. Nachts aufwachen und Geräuschen lauschen. Dem Herbst entgegensehen. Still sitzen, den Atem spüren.




Montag, 8. September 2014
Jedes einander Zugeneigtsein ist besonders und verändert die Beteiligten. Die einen Anteil daran haben, nämlich den jeweils eigenen. Manchmal weiß ich nicht, ob das wünschenswert ist. Aber ob ich's mir wünsche oder nicht, es passiert so.

Parasole von unten

Wir beide haben Pilze gefunden, große, weiß-braun gescheckte Parasole, die in Gruppen auf der Wiese standen. Pilze befremden mich, sie sehen aus wie nichts anderes auf der Welt und ich halte besonders sie für Formen seltsamster Naturgeister. Aber diese sind lecker und wir bereiten sie zu wie Schnitzel. Dazu den Holzteller voll mit frischen kleinen Haselnüssen, die ich in der Pfanne geröstet habe, damit sie ihre allergenen Stoffe verlieren. Im Hain gab es Unmengen zu sammeln und wieder waren wir reich beschenkt heimgekehrt.

Langsam lernen wir uns kennen. In vielem ist der Bildhauer mir ähnlich, das macht das Miteinandersein einfach. Er leiht regelmäßig Unmengen Bücher aus, im Stapel dieser Woche findet sich einiges über die Steinzeit, Mammuts und Höhlenmalerei. Die Künstler der Zeit waren präzise Beobachter – wie sie mit einfachen Linien die Umrisse der Tiere erfassen und in Bewegung bringen, finde ich äußerst faszinierend. In der Nähe des Bildhauers mit seinen mannigfaltigen Interessen fühle ich mich in Phantasiewelten geborgen, die ich aus der Kindheit kenne.


Wir sprachen über Formen – dass wir, oder Künstler allgemein, Formen erschaffen, die sich wieder und wieder ähneln, ähneln müssen, denn der Ausdruck ist doch begrenzt und immer erkennt man den Stil eines Bestimmten. Gestern waren in der ganzen Stadt Ateliers für Besucher geöffnet, wie jedes Jahr, und wir haben einige besucht. Manche der Schaffenden sind ehemalige Studienkollegen des Bildhauers, sie begrüßen sich mit erprobter Gelassenheit und auch ich treffe ein paar Bekannte. Wie auf einer Zeitreise, mit einem Schlag alle 25 Jahre älter. Ich ebenso, die Reisende selbst. Trotzdem, ihre Formen und Bilder gleichen sich, sie erschaffen sie täglich neu, mit nur geringen Abweichungen. Eine Eiche bleibt eine Eiche und wird nicht plötzlich ein Birnbaum. Erstaunt mich das? Ein Sujet auf ewig? Oder jedenfalls bis zum Tod. Das könne man ihm auch vorwerfen, erwidert der Bildhauer, er mache letzlich auch immer das Gleiche. Mich stört's nicht, denn mir ist, als seien seine Objekte Materialisierungen meiner Meditationen. Bunt, filigran, seltsam und oft tierartig.

Spinnen-Vorratspäckchen

Im Riesenknöterich-Wald

Vielleicht beschäftige ich mich auch zu sehr mit meinem lieben Gegenüber. Die Zeiten, die ich allein verbringe, sind mir weiterhin kostbar und es dauert immer eine Weile, bis ich wieder ganz bei mir bin. Das Bedürfnis, alle Eindrücke aufzulösen, ist stark. Die Pilzhüte, das Haselnussbraun, die hellgrünen bambusähnlichen Stangen des Riesenknöterichs, von denen der Bildhauer ein Bündel zurechtschneidet, der See, in dem sich bauschige Wolken spiegeln, das schon herbstlich anmutende Selbstschneideblumenbeet, dort die Katze mit verschiedenfarbigen Augen und hellbraunem Fell, das Sfumato bis zur Linie der Bergkette, weitere Wolken auf lichtem Grau, das sich im Westen sonnig erhellt – das ist alles sehr sehr viel und am Abend bin ich erschöpft und falle um neun ins Bett.




Donnerstag, 4. September 2014
Hin und hergerissen zwischen den Möglichkeiten, die ein so schöner Sonnentag mir bietet. Raus in die Natur, oder am Fenster sitzen und der Sonne nachschauen. Dieser Sommer war (und ist noch) schön mit seinen imposanten Wolkenbergen und ich hatte kaum das Gefühl, das Wetter sei schlecht, auch wenn es geregnet hatte. Der See hat sich durch die klammen Nächte schon abgekühlt, ein längeres Bad ist nicht mehr so angenehm.

Gestern hatte ich mich wie ein krankes Kind von der Welt zurückziehen müssen. Nicht so sehr körperlich, eher mental. In solchen Fällen lese ich meine Jugendbücher über Indianer oder die Steinzeit, über die heilen Welten, die sich zwischen den Kriegen versteckt halten. Sollen sie doch kämpfen, und ja, es sind alles junge Männer, die sich gegenseitig metzeln, die haben noch Feuer, aber ich frage mich, ob sie die Hintergründe ihres Handelns überhaupt begreifen. Sicherlich nicht.

Gerade ruft Swami (TS) an und wir reden eine Weile über das Unrecht in der Welt, wie es aus der Unwissenheit entsteht, und die Unwissenheit wiederum in verschiedene Arten unterteilt wird, es ist das alte yogische Wissen, das uns Verständnis unserer selbst gibt. Es tröstet, lässt uns aber auch einsehen, dass wir nur begrenzte Mittel haben, weltweitem Leid ein Ende zu bereiten. Wir müssen bei uns selbst beginnen. Dass Kulturen aufblühen und untergehen, warum sollte es diesmal anders sein.

Durch das Gespräch mit Swami fällt einiges wieder ins Gleichgewicht, was mir in den letzten Tagen aus dem Lot geraten schien.