Sonntag, 4. August 2013


Insgeheim scheint mir als wäre ich auf dem Sprung. S., die Goldschmiedin aus dem Laden nebenan, setzt sich zu der Leserin und mir zum Kaffeetrinken, unter anderem berichtet sie, sie wolle eine der Wohnungen ihres Hauses vermieten, sie selbst würde dann ins Gartenhaus ziehen, das sie zu diesem Zweck gerade restauriert. Ein Interesse regt sich in mir und ich frage sie aus nach Preis, Lage, Größe, Mitmietern und so weiter. Wie klein die Welt ist, L., frage ich, welcher L.? Der Freund von U., antwortet sie, ich bin doch mit U. dort eingezogen, dann haben wir uns getrennt. Ach so. Seine Version dieser Geschichte hat mir U. damals auch erzählt.

Oft bin ich die, die beide Seiten kennt. Und beide Seiten sind selten einheitlich. Am spektakulärsten ist die Story meiner Nachbarn im ersten Stock, die ich über L., kenne, und die mich auf diese Wohnung aufmerksam gemacht hat, in der ich jetzt seit zwölf Jahren wohne. Glücklich, wie mir scheinen will. Bis auf das Geboller aus dem zweiten Stock, das neuerdings die Wände wackeln lässt, gern gegen morgens um sieben, und mich von meinem Futon aufschreckt, der nur durch einen Teppich gedämmt direkt mit dem Schwingboden Kontakt aufnimmt – ich weiß nicht, was die Nachbarin, die Näherin macht, aber es könnte sein, dass ihr morgens pünktlich die Nähmaschine aus den Händen fällt oder vielleicht hat sie ein sperriges Klappbett, dass sich nur mit großer Wucht betätigen lässt, jedenfalls schwingt der Boden noch eine Weile nach, zu kurz, um sich in einen neuen Schlaf einwiegen zu lassen, zu heftig aber, um unaufgeregt weiter zu schlummern.

Also, die Geschichte der Nachbarn ist lang und wirr und auch hiervon kenne ich die Versionen aller Beteiligten, es ging um lesbische Paarungen, die einen heimlichen Nacht & Nebel-Auszug vonnöten gemacht hätten, hätte es sich nicht um ein großartiges Missverständnis gehandelt, die aber vom Heteropartner massiv unterbunden wurde und mit gerichtlich erwirktem Hausverbot der Geliebten endete, die nicht nur die Ehefrau, sondern auch die ersteheliche Tochter des o. g. Heteropartners beschlafen haben sollte und darüber hinaus noch eine dritte Person und so weiter. Die Details habe ich vergessen. Da aber die Lesbierin eine meiner Freundinnen ist, kann ich nun meine Feiern und Geselligkeiten, sollte ich sie dabeihaben wollen, nicht mehr im Hause abhalten, es sei denn der böse Mann, der sich zudem noch mit einem anderen Pärchen, das ebenso im Haus lebt, überworfen hat, möglicherweise wegen dieser Geschichte, vielleicht aber aus aus anderen überaus humorlosen Gründen, ist außer Haus. Tatsache ist, dass die vormals zukunftsfreudige Gemeinschaft geplant hatte, dieses Haus dereinst als Alterswohnsitz gemeinsam zu erwerben, und nun aber vollständig verfeindet zumindest mental und seelisch in alle Winde zerstoben ist, obwohl man doch noch ziemlich nahe zusammenwohnt.

So sitzen also die Leserin, die Goldschmiedin und ich vorm Haus der Lesbierin, wo jene nun friedlich mit ihrer Freundin unterm Dach wohnt, unten das Café, und einen Hund beherbergt, der es nicht lassen kann, freudig an mir hochzuspringen, sobald er mich wahrnimmt, und reden über Wohnsitzwechsel in Naturnähe, und ich immer mit meinen mönchischen Bauwagenphantasien, aber eigentlich ist die Wohnung viel teurer und, wie sich herausstellt, an einer Straße gegenüber einem Friedhof, in den ich von der Terrasse hineinstarren würde, nachdem ich eines dieser Nöselgespräche mit L. geführt hätte, der ja dann mein Nachbar wäre und so ist diese Idee dann eigentlich auch gleich wieder gestorben. Dann lieber weiter mit dem bösen Mann in einer verkrachten Hausgemeinschaft wohnen, deren Historie mir weitgehend gleichgültig ist, solange noch die Sonne die Zimmer bescheint und die Pflanztöpfe auf der Fensterbank ebenso.

Ich weiß nicht, wieso ich das schreibe. Solange sich die Mutter meiner Zuwendung erfreuen möchte, kann und will ich aus dieser Gegend nicht fort. Die großen Reisepläne müssen noch warten. Die Busenfreundin, deren Mutter in einer ähnlichen Lebensphase ist, also in ihrer letzten sozusagen, ohne zynisch zu klingen, verweigert sich dieser Hinwendung, nämlich sie wolle ihr Leben nicht ihrer Mutter opfern, wo sie sowieso noch nie ihr eigenes gelebt hätte. Darauf noch irgendetwas zu antworten wäre müßig. Unsere Mütter sind nette Frauen, die sicherlich ihr Bestes gegeben haben, mein Groll ist fort, sie sind die Mütter, wir die Töchter. So wie es immer ist und war und sein wird. Mehr ist nicht dran, nackt gesehen.

Also bleib' ich. Abgelaufener Holzboden. Küchenzeile mit Lücken. Polternde Näherin. Böser Mann. Riesengroßes Badezimmer. Zu wenig Steckdosen. Schwingboden. Blauer Himmel zwischen Fensterflügeln.




Mittwoch, 31. Juli 2013
Jemand hat ein Badethermometer am Steg befestigt, 24 Grad Wassertemperatur. Ich schwimme meine Runde, nach dem Regen ist das Wasser so klar wie den ganzen Sommer nicht, 24 Grad, das ist weder kalt noch warm, sondern fühlt sich an wie etwas, das sicher trägt, ein unauffälliges Medium, mit dem der Körper sich nahtlos verbindet. Gelassenheit.

In den letzten Wochen scheint in mir ein Widerstreit geschlichtet, den ich herumtrage, seit ich mich ernsthaft mit Yoga-Philosophie beschäftige. Wer Yoga immer noch für eine Art Gymnastik aus dem Osten hält, die von betuchten Mittelschichtsdamen betrieben wird, irrt (immer noch). Schlicht gesagt, ist er ein Hilfsmittel auf dem Weg zu erfülltem Menschsein und Sieg über den Tod unter Nutzung des gesamten menschlichen Potentials, mental, seelisch und körperlich. Dass Hatha-Yoga, der Teil, der sich mit den Körperübungen beschäftigt, im Westen so falsch verstanden wird, muss man erstmal so hinnehmen. Als die ersten Yogis in den Westen (meint die USA) gingen, (z. B. Yogananda oder Swami R., der Guru meines Lehrers Swami VB) waren sie sich klar darüber, dass sie nicht mit dem gesamten Paket rüberkommen, sondern die zunehmend körperfixierten AmerikanerInnen nur austricksen konnten, indem sie (erstmal) einen neuen Kult für den Körper installierten, so erzählt es jedenfalls Swamiji (VB). Kichernd berichtet er von seinen ersten Vorträgen vor einem verständnislos dreinblickenden Publikum, das in Erwartung entspannender Yoga-Classes (womöglich in sexy Yoga-Outfits gekleidet [Ausschmückung von mir]), nun gar nicht nicht damit gerechnet hat, von einem Mönch philosophisch belehrt zu werden.

Beim Versuch ein passendes Foto zu finden, das diesen Eintrag begleitet, ist mir einzig dieses würdig erschienen: DJ Nicki legt auf, Rishikesh März 2005.

Mein Dilemma bestand aus Mitgefühl vs. Leidenschaftslosigkeit, beides (Lebens-)Haltungen, die im Yoga empfohlen werden. Ich empfinde die englischen Begriffe noch gegensätzlicher: Compassion vs. Dispassion (vairagya in sanskrit, interessant übrigens wie es dem Namen der Pille ähnelt, die Leidenschaft hervorrufen soll). (Weil ich die bhagavad gita oder die yoga sutras zuerst in englisch kennengelernt habe, sind sie mir in der Fremdsprache geläufiger.) Mitgefühl haben, ohne selbst emotional beteiligt zu sein, bedeutete das für mich – wie soll das überhaupt gehen? Und war Leidenschaftslosigkeit nicht gleichbedeutend mit Desinteresse und Langweile? Was ist mit der Liebe? Sex ohne Leidenschaft? Ich glaube, ich habe mich die letzten acht Jahre mit den beiden tatkräftig herumgeschlagen. Auch wenn es nach Außen in Gesprächen oder Handlungen nicht darum ging, stets blieb ich doch Beobachterin der inneren Vorgänge des mind, bis mich im Angesicht der Ausweglosigkeit Leidenschaftlichkeit davontrug und klares Denken unmöglich machte.

Dispassion mit Gleichmut zu übersetzen, ist mir bisher nicht eingefallen. Während in Leidenschaftslosigkeit Kälte mitschwingt, ist Gleichmut eine freundlichere Übertragung. Gleichmut, ich kenne dich doch! Die Momente, wenn ich den wirren (und sie selbst aufregenden) Geschichten der Busenfreundin zuhöre – und mich nicht aufrege, mich nicht ereifere, Schlaues beizusteuern und vermeintlich Hilfreiches, das ihre Situation entspannen könnte. Sitzen und zuhören – und mitfühlen. Erstaunlicherweise geht nur beides zusammen: Mitgefühl und Gleichmut. Gleiches erfahre ich auch im Umgang mit der Mutter. Es gefällt mir nicht, ihrem Altwerden zuzusehen, genausowenig wie eigene ähnliche Prozesse wahrzunehmen. Aber – es gibt dafür keine Lösung! Ich und niemand anderes hat die Macht, Vergänglichkeit zu stoppen, und sie ist es, die mir so Angst macht.

Ich kann nur zusehen. Ihren klein gewordenen Rücken, ihre dünnen Arme und die runzelige Haut, die Kraftlosigkeit in den Beinen, ich kann sie stützen, wenn wir gehen, ich kann sie zum Lachen bringen, wenn sie verzagt. Vielleicht ist Leidenschaft mit Angst besetzt oder entsteht sogar aus der Angst – und nicht aus Freude, vielleicht habe ich das die ganze Zeit falsch verstanden. Ohne Leidenschaft keine Lust, ohne Lust keine Liebe und ohne Liebe alles öd, dacht' ich. Welche Schönheit Mitgefühl besitzt, hatte ich nicht begriffen. Dass Mitgefühl nicht Leidenschaft ist, sondern im Mitgefühl Gleichmut sein muss, damit ich nicht daran verbrenne, hatte ich nicht begriffen. Es war das Verbrennen, vor dem ich solche Angst hatte. Das Vergehen.

Bei 24 Grad brennt nichts. Der Körper schwimmt in einer weichen neutralen Flüssigkeit, die ihn trägt und stützt. Geschmeidig arbeiten Muskeln und Sehnen zusammen mit dem Knochengerüst und den Sinnen, Beobachtung, der Atem fließt aus und ein und obendrüber fliegen Wolken dahin, ihr Aussehen verändert sich ständig, das ist ihre Natur. Gelassenheit.

Zum Lesen: Paramhansa Yogananda: Autobiografie eines Yogi




Sonntag, 28. Juli 2013
Wenn ich krank oder anderweitig verzagt war, habe ich mich gern in die Bücherwelten meiner Jugend verzogen. Es bereitete mir stets Trost, Sätze, Abschnitte und Erlebnisse nachzulesen, die ich nach all den Jahren fast schon auswendig kannte. Eigentlich sind es nur zwei Bücher, zu denen ich immer wieder zurückfinde, wie oft ich sie schon gelesen habe, kann ich nur schätzen: Blauvogel von Anna Müller-Tannewitz unter dem Pseudonym Anna Jürgen und Irja von Annikki Setäla.

Beide Bücher hatte ich im Keller meines Elternhauses unter den Sachen gefunden, die mein Cousin nach dem Tod meiner Tante für eine Weile bei uns deponiert hatte. Eigentlich durfte ich dort nicht stöbern, aber am Ende hatten wir doch ein paar Gegenstände aus dem Sammelsurium behalten dürfen, eine alte Musiktruhe, die noch sehr gut klang und die ich eine Weile benutzte, bevor ich mir einen eigenen modernen Plattenspieler kaufen konnte, drei Beistelltischchen, die untereinander gestellt und im Bedarfsfall hervorgeholt wurden, einige LPs, die mein Cousin aussortiert hatte, was kein Wunder war, denn mir gefiel die Musik bis auf Nights in White Satin (von wem nochmal?) oder Procol Harum auch nicht. Aber die beiden Bücher – sie wurden meine größten Schätze.

Irja handelt von einem finnischen Mädchen, das in der unberührten Natur Lapplands aufwächst, sich lieber mit Jungskram beschäftigt und stolz ist, dem Vater nachzueifern, der in ihr immer seinen kleinen Jungen gesehen hat. Eines Tages kommt ein junger Forstmeister zu ihnen, um die Familie mit seiner Arbeitskraft zu unterstützen. In Irja erwachen zwiespältigste Gefühle dem weichen Mann aus dem Süden gegenüber, die zwischen heimlicher Zuneigung und verächtlichen Hänseleien hin- und herpendeln, aber die ebenfalls erwachende Leserin (ich) erkennt sich in diesem wilden Mädchen selbst und saugt diese Geschichte nur so auf. Am Ende, auf einem großen Fest zum Jahresende, gerade als sie bereit ist, Kero ihre Gefühle zu gestehen, entdeckt sie ihn und ihre sanfte Schwester beim Betrachten des Nordlichts, er hat einen Arm um Hilkka gelegt und Irja begreift, dass sie Kero verloren hat. Ein großartiger Moment und ein großartiges Buch, das nicht nur die Sitten und Gebräuche der Lappen beschreibt, sondern auch Zusammenhalt und Freundschaften, viele spannende Erlebnisse und alles zusammen ergibt einen unauslöschbaren Eindruck über die fremde Kultur hinter dem Polarkreis.

Blauvogel ist die Geschichte eines weißen Jungen, der von Indianern geraubt und adoptiert wird. Eindringlich wird erzählt, wie er sich nur mühsam in das Leben des nahe des Eriesees wohnenden Irokesenstammes einzufügen lernt, lange Zeit von übelwollenden Kindern und Fluchtgedanken geplagt, im Laufe der Jahre aber gewahr wird, welche Rollen die beteiligten Völker und Regierungen bei der Eroberung Amerikas, der Ausrottung ihrer Urvölker und der Ausbeutung der Natur wirklich spielen. Wie bei Irja werden nicht nur das alltägliche Leben, die Rituale, sondern auch politische Hintergründe beschrieben, es gibt verschiedene Abenteuer zu bewältigen, und am Ende, als die Indianer gezwungen werden, ihre adoptierten weißen Kinder zu deren Familien zurückzubringen, erkennt Blauvogel, wie sehr er sich von seiner weißen Ursprungsfamilie entfremdet hat und kehrt zurück zu den Indianern.

Was mein kindliches Herz an diese Bücher fesselt, die mein in der Welt sein so stark geprägt haben, ist ihr Sinn für Heimat und Zugehörigkeit zur Natur und zu freundlichen Menschen. In diesem meinem Herzen glüht immer noch ein lebendiges Bild nach dem Ersehnten. Ein Bild von einem wahren Zuhause und einer bestimmten Art von Rechtschaffenheit und Harmlosigkeit. Eine heile Welt. Wenn ich krank oder anderweitig verzagt bin, kann ich durch diese Bücher wieder heil werden.





Fünfeinhalb Sieben Hektar Wasserfläche, fünf Meter tief.




Donnerstag, 25. Juli 2013
Heute schon früh am Morgen zum See, schwimmen. Der Regen gestern hat gut getan, durch diesig verschleiertes Sonnenlicht fahre ich am Fluss entlang, eine vereinzelte Ente schläft noch auf dem Steg der Ruderer, Hasen springen durchs feuchte Gras, überhaupt ist der Tau wunderbar und hängt in großen Silbertropfen an erdnahen Gewächsen. Noch sind wenige Menschen unterwegs, ich möchte mal wissen, was die Kriterien sind, die Menschen nach draußen locken, dieser Morgen ist so besonders, auch am See ist es leer, nur ein Fahrrad steht auf der Wiese, als Gestell für die Kleidung, die ja jetzt nutzlos ist, da der Inhaber weit – was heißt schon weit bei einem See, der angeblich 5,5 ha groß ist, weit hinten auf der anderen Seite schwimmt jemand in lockerem Rhythmus, das will ich auch tun, dazu bin ich hier, binde das fahrbare Eisengestell an, entkleide mich, sanfter Südwind hat alles ekelige Treibgut in die winzige Bucht mit dem Steg geschwemmt, auch die puscheligen Flugsamen, die bereits bräunlich im Wasser vor sich rotten, irgendwann kippt der See wie jeden Sommer, dann gedeihen Blaualgen, die eigentlich grün sind und doch hübsch anzusehen, der ganze See wird dann einer grün-dicklichen Pampe gleichen, noch ist das Wasser klar und noch erfrischend, aber mit dem Fuß muss ich mir einen sauberen Einstieg freirühren, dann einmal um den See, dafür benötige ich ca. 50 Minuten, die ungefähr 1.300 Meter entsprechen, so genau weiß ich das nicht, ist eigentlich auch egal, nah an furchtlosen Enten vorbei und den neonrot leuchtenden Schwimmern eines Anglers, sein Fahrrad erkenne im Gebüsch, der Mann selbst hält sich verborgen, vielleicht schon gestorben, die Schwimmer schon schnurlos, jedenfalls spielen sie in meiner Bugwelle, Rückenschwimmen und Brust – Kraulen habe ich immer noch nicht gelernt, was für eine Freude, durch die Dioptriengläser der Schwimmbrille alles scharf zu sehen, Libellen, Wasserläufer, nun auf der Nordseite nur noch wenige Blätter und tote Gräser und am Südwestzipfel wirkt die Vegetation eigenartig ungezämt, als würde niemand je bis hierher kommen, dann an der kleinen Landzunge vorbei, die mich mit urwüchsigen Algenpflanzen im seichten Grund immer aufschreckt, hinüber auf die Nordseite, vertrautes Gewässer, in dem ich noch eine weile herumplansche und mich strecke und bald bin ich zurück am Steg, wo ich zwei Menschenfiguren erkenne, eine macht sich bereit einzutauchen, die andere ist wie ich zurück von ihrer Runde und trocknet sich schon ab.

Es mag neun sein, aber die Wiese immer noch leer, es traut sich wohl niemand her wegen der magischen Stimmung, vielleicht zieht man das grelle Licht vor, damit Körperschmuck und rasierte Geschlechtsteile sichtbarer zieren, ich weiß nicht, nichts kann meine sinnlichen Gefühle verderben, der Körper, meiner, bedeutet mir nur Wohlgefühl, auch sehe ich die kleine Kummerrolle an Bauch und Hüften dahinschwinden, langsam zwar, war sie doch seit drei Jahren nicht abzuspecken, wegen des Geräuschemannes. It's good that you're over him. Vielleicht bin ich wirklich endlich über ihn hinweg.




Mittwoch, 24. Juli 2013
Eine Reihe besonderer Tage. Geburtstag im Park mit launigen Freundinnen, jede bringt was zum Essen mit, und viel Gelächter. Wie meine Schwester die Pistole unseres Großvaters aus dem ersten Weltkrieg über die holländische Grenze schmuggelt … BB-Bad Bentheim. Wie Schildkröte Elke über die Wiese zu uns geschlendert kommt und herzhaft ein Stück Melone verspeist, hat er zur Pflege, ruft der junge Mann zu uns rüber, ja-ja, malen wir uns die Großmutter aus: "Mit Elke habe ich mir damals schon den Opa geangelt." Nackte Beine, leckere Speisen und nach acht Stunden sah das dann so aus:


Guru Purnima, ein spirituelles Fest zum Julivollmond, nicht nur um die Gurukraft zu ehren, auch die Schüler dürfen sich feiern für ihre unermüdlichen Anstrengungen auf dem steinigen Pfad zur Selbsterkenntnis. Hinterher Bier mit der Buddhistin.

Verabredungen treffen. Freundschaften genießen. Schwimmen im See. Die Kresse beobachten. Schlafen bei geöffneten Fenstern und Türen, Windhauch auf der Haut.


Vertrauen haben. Nichts wollen, Ruhe finden.




Dienstag, 16. Juli 2013
Neben dem unangenehm holzigen Kohlrabigemüse zur Mittagszeit gibt es wenig Schlimmes zu berichten. Ein paar Gedanken beschäftigen mich, z. B. wie ich überzähliges Interieur geschickt in der Wohnung verteile, damit es nicht nervt – vielleicht sollte ich es einfach verschenken. Drei Tatamis, je 90 x 90 cm, sind übrig und irgendwie auch eine der Küchenbänke. Ich habe nie mehr so viel Besuch, dass ich dringend beide Bänke brauchte, meinen Geburtstag Ende der Woche werde ich im Park feiern und da wird auf Decken gesessen.

Die freudig wachsenden Kapuzinerkresse- und Ringelblumensprösslinge wären da noch. Oder die Aussicht auf eine weitere zweistündige Thai-Massage am Donnerstag. Von fachkundigen Händen massiert zu werden, ist neben der Meditation das schönste Nicht-Tun, das ich nun kenne. Die Thai-Massage ist angeblich für buddhistische Mönche erfunden worden, um ihre vom langen Sitzen versteiften Körper geschmeidig zu machen und Blockaden zu lösen. Die Masseure selbst üben derweil metta (liebende Güte) aus, um karma abzubauen. So haben alle was davon.

Die Dame bittet um Entkleidung, obenrum frei und für die untere Hälfte reicht sie mir eine dünne schwarze Baumwollhose, anziehen, sagt sie, und auch sonst sind ihre Anordnungen einwortig, hinlegen, umdrehen, anfassen, der Rest ist Stille, bis auf die raschelnden Geräusche, die sie macht, während sie ihre Positionen ändert. Der Raum ist angenehm, buddhistische Wandbilder, sanftes Licht und in der Mitte die genau richtig graduierte Matte auf dem Holzboden. Drücken pressen biegen kneten bis an die Schmerzgrenze, manchmal sogar darüber, die Seiten der Oberschenkel und der rechte Arm tun besonders weh. Hauptsächlich bin ich wegen des mich nicht verlassen wollenden Schmerzes im Kreuzlendenbereich hier, zwei Stunden für 69 Euro, ich komme mir ein bisschen ausbeuterisch vor, die Thailänderin schuftet ja ohn' Unterlass mit vollen Kräften an mir herum.

Die schmerzende Stelle im Rücken geht sie nicht direkt an, aber alles, was sie macht, reicht bis dahin und tut wahnsinnig gut. Außerdem biegt sie meinen Körper in diverse Yoga-Asanas hinein, die Kobra z. B., dazu steht sie breitbeinig über mir, die ich auf dem Bauch liege, bittet mich, ihre Handgelenke 'anfassen', sie hält meine und dann zieht sie meinen Oberkörper zu sich nach hinten. Wow. Oder die Drehbewegung der gesamten Wirbelsäule, sie drückt mein Becken bis zum Anschlag zur Seite, da knackt es ordentlich im KLB wie ich es gern hab. Dem gesamten Rücken widmet sie sich mit besonderem Eifer, aber eigentlich bekommt jedes Körperteil ihre Aufmerksamkeit, manchmal stöhne ich voller Wonne, damit sie weiß, wie schön das ist, was sie da tut und manchmal lächeln wir uns an, wenn ich für einen Moment die Augen öffne, um zu sehen, wie sie das eigentlich tut.

Nach der Behandlung bin ich 90 % weniger holzig als vorher. Aufstehen. Anziehen. Schwupps (etwas zu schwupps für die zwei Stunden körperliche Nähe) ist sie in den hinteren Räumen verschwunden, wahrscheinlich um ein bisschen zu auszuruhen. Mir bleibt nur noch, das bereitgestellte Glas Wasser zu leeren, meine Bezahlung zu leisten und ein paar Worte des Wohlgefallens mit dem freundlichen älteren Herrn zu wechseln, der offensichtlich der Zuhälter Vater Ehemann der einen ist, sicherlich Thailandfahrer erster Stunde, komm' mit mir nach Deutschland, heirate mich, wird er ihr gesagt haben, und wir werden reich ich mache dich reich – über ihre Familienverhältnisse möchte ich dann aber doch lieber nicht nachdenken.

Jedenfalls geht so Sommer. Schwimmen, lesen, essen, schlafen. Mehr muss nicht.




Mittwoch, 10. Juli 2013
Es war mir ernst. Beinahe hätte ich, wenn es möglich gewesen wäre, meine Seele verkauft, um nochmal 17 zu sein. Mein Patensohn I. war zurück von seinem einjährigen Austausch in den Staaten. Wie erwachsen er geworden ist, und Tante Krabbe so, meine Güte hast du dich verändert, und wir liegen uns in den Armen, er ungefähr einen Kopf größer und ich fühl mich wie ein Mädchen.

Na klar, da ist viel Selbstdarstellung, auch bei den Freunden, die nach und nach zum Grillabend eintrudeln, hey Alter, hey Digga, I. schon fast mit Ami-Akzent, später reden sie nur noch englisch mit ebenfalls gerade Zurückgekehrten aus ähnlichen Ländern. Die Bestefreundin und ich begaffen die Szene, mehr oder weniger sprachlos. I.s Begeisterung ist sowas von ansteckend, ich würde mich gerne auch begeistern, ich würde mich gern in einen schönen Jüngling mit Mandelaugen und brauner Haut verlieben und alberne Sachen machen. Aber wir sind ja 35 Jahre älter und haben nichts zu melden, dafür essen sie unsere Bratwürste, unser Currygemüse und genießen die bereitgestellte Atmo.

So sitze ich mit beängstigendem Neid auf der Bank und halte die Füße ans Feuer, der Abend hinter uns ist kühl, aber der Geist rast und versucht, das Sehnen im Zaum zu halten. Vielleicht ein Bier? Die Bestefreundin versucht, Geschichten zu erhaschen, die ihr Sohn noch nicht erzählt hat. I. hatte in Amerika eine Freundin gefunden, auf Facebook konnten die mittlerweile tausend Freunde Bilder ihrer Zweisamkeit betrachten, jetzt nennt er sie schon Exfreundin, natürlich wird das alles zu Erzählenswertem verwurstet und die jungen Freunde übertreffen sich gegenseitig in ihren Berichten über das letzte Jahr.

Und was habe ich im letzten Jahr erlebt? Ich spüre, wie Lebendigkeit mich verlässt, während die Lücke zwischen ihren und meinen Erfahrungen sich krasser und krasser darstellt. Obwohl ich weiß, dass es in einigen ihrer Familien nicht sonderlich einfach hergeht, beneide ich, wie sie ihr Leben und ihre Jugend feiern mit tollen Haaren, hübschen Körpern und angeberischer Attitüde, die ich ein bisschen peinlich finde. Mit 17 war bei mir alles schrecklich und ich hatte Selbstmordgedanken. Und diese Jungs aber hier machen ihr Ding, I. und R. verdienen ihr Taschengeld mit Straßenmusik, treffen ihre Kumpels, trinken – sie sind richtig cool und offensichtlich scheren sie sich um nichts, die Ferien sind noch lang und das Leben heißt sie sowas von Willkommen. Ich würde gerne mitmachen, die tolle Tante Krabbe sein, statt dessen bin ich sehr still und fühle mich unendlich einsam.

Meine Verrückung ebbt dann gottseidank langsam ab. Die Bestefreundin und ich reden jetzt doch flüsternd miteinander, ich schildere ihr meine verwirrenden Gefühle, sie schiebt sie wieder zurecht, setzt sie auf realen Boden, von dem ich vor Verblendung schon abheben wollte. Es sind einfach Leben. Dort ihres, dies meines.

Erfahrungen.




Freitag, 5. Juli 2013
Ich muss jetzt einschreiten! Den weinenden Vater in einem Artikel über historische Putzlappen zu erwähnen, war etwas unsensibel. Dafür gibt es den zweiten Teil des Textes hier und ein Bild vom Bild:


Das fast schönste Objekt aber, neben dem Birkenbild, ist eine Kalligrafie einer Großkusine, in Fraktur mit blumigem Initial, das Papier gebräunt vom Alter. Über dem Psalm (73), vertraute mir mein Vater an, hat er oft geweint. Seine eigenen Tiefen aber ließ er mich nur ahnen.

"Dennoch bleibe ich stets an dir;
denn du hältst mich bei meiner rechten Hand,
du leitest mich nach deinem Rat
und nimmst mich am Ende mit Ehren an.
Wenn ich nur dich habe,
so frage ich nichts nach Himmel und Erde.
Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet,
so bist du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Teil …"




Donnerstag, 4. Juli 2013

Beim Aufräumen der oberen Wohnung meines Elternhauses haben meine Schwester Dudi und ich noch einige schöne Gegenstände gefunden, die nun meinen bescheidenen Haushalt bereichern:
  1. eine sehr kleine und zarte Teetasse mit Untertasse, beide mit magentafarbenem Band und Goldrand
  2. ein ca. A4 großes Ölbild auf Sperrholz mit Birken, Landschaft und sfumato in einem breiten schlichten Holzrahmen
  3. ein winziger Schemel aus den 60ern, die Fläche mit rotem Linoleum belegt
  4. ein Bündel nie benutzter Handtücher aus grobem blauem Drillich, sicher eigens für die Backstube genäht
  5. noch mit Preisschild versehene Putzlappen, die seit fast 50 Jahren oben in den Dachschrägen gelegen haben
  6. zwei richtig schöne Perserbrücken, die mein Vater sich regelmäßig von seinen Zigeunerkumpels hat andrehen lassen
Früher hat in der Wohnung meine Omi gewohnt, die Mutter meines Vaters, später zog mein Vater ein, nachdem er nach zehn Jahren wieder zu meiner Mutter zurückkehrte. Interessanterweise gab es nicht viel hübsches oder gut gestaltetes Interieur – obwohl einige Stücke sicherlich wertvoll sind. Die protzige Glasvitrine zum Beispiel, oder der bollerige Schreibtisch mit geschnitzen Borten und Rändern. Dann gab es aber eher billig nachgemachte Perser, an die noch nicht mal die Motten gehen, die es sich in den anderen dünnen Wollteppichen mittlerweile kommod gemacht hatten. Oder die Portraitgemälde von Opi, den ich nicht mehr kennengelernt habe, und Omi. Er mit diesem blöden Bärtchen und sie mit liebem Lächeln, das ich nie in echt gesehen habe. Viele Bilderrahmen umfassten Bildausschnitte aus Illustrierten, zum Beipiel hing die junge Königin Elisabeth jahrzehntelang überm Sofa von Omi. Und wo ist das Bild vom Reichstag geblieben?

Wir haben auch viel Kram – weggeworfen. Einige Mülltüten voll. Ebenso das alte Plastikbett, hässliche Lampen, doofe Tischchen usw. Das Silber liegt jetzt noch in den Schubladen, das Regal mit Papas Büchern haben wir gelassen, auch einen großen runden Tisch mit einigermaßen ansehnlichen Stühlen und o. g. Glasvitrine mit Gläsern und Geschirr, für die niemand von uns Platz hat.




Mittwoch, 3. Juli 2013
Herzrhythmusstörungen und geplatzte Ader im Auge. Augendruck ist normal, sagt die Augenärztin, der Sehnerv ist auch in Ordnung. Wenigstens der Sehnerv. Nächsten Monat noch den Augenhintergrund ansehen, sowieso mal wieder, dazu wird Atropa Belladonna gegeben, da weitet sich die grünbraune Iris und die Netzhaut fängt den Blick. Sie schaut hinein und ich heraus. Ich mag die neue Ärztin nicht, sie blickt fast die ganze Zeit in den Rechner und tippt was ein, während sie mit mir redet, das Gespräch ist ohnehin knapp. Man müsste mal den Blutdruck 24 Stunden messen, sagt sie, um zu sehen, ob es zu Spitzen kommt. Es bleibt mir nur kurz anzudeuten, dass ich sehr großen Stress hatte. Es können noch ganz andere Adern platzen, im Gehirn und dann –

Ich habe jetzt keine richtige Ärztin mehr, der ich vertraue, die Ayurvedin möchte ich nach dem Drama nicht mehr konsultieren, und das macht mir schreckliche Angst. Als könnte ich gleich dem Körper nicht mehr vertrauen. Mir selbst nicht. Als wäre ich jetzt vollkommen allein. Mit mir. Das ist seltsam. Und das Herzelein klopft unrhythmisch dazu.

Du liebes kleines Angsthäschen, du.