Dienstag, 19. November 2013
Auf Mamas Schreibtisch, an dem mein Vater früher Arbeiten korrigierte und Klassenbücher führte, d. h. nicht führte, weil er seinen Unterricht, der wenig mit den amtlich vorgegebenen Inhalten gemein hatte, aus dem Steggreif zu geben pflegte – jedenfalls liegt dort ein bereits von Mama geöffneter Trauerbriefumschlag, dessen Inhalt ich entnehme – G., der Mann einer Kusine meines Vater ist kürzlich gestorben. Ach, rufe ich durch den Haushalt, G. ist ja gestorben und Mama kommt herbei und berichtet, dass sie schon mit der Witwe telefoniert, die sich sehr gefreut hat, waren doch beide Paare früher ausgiebig befreundet und nicht nur lose verwandt, bis mein Vater dem G. den Stinkefinger gezeigt hatte, dazu macht Mama eine etwas verunglückte Handbewegung und hält einen Zeigefinger hoch. Ich komme nicht dazu, ihr zu erklären, dass es der Mittelfinger sein müsste, sondern frage halb entrüstet, halb belustigt nach dem Grund für Papas Grobheit.

Das war damals, als Papa die Andere Frau hatte, und Papa und G. sich über irgendeine Sache heftig gezankt, an die sich Mama aber nicht erinnern könne. Jedenfalls behauptete G. während einer väterlichen Klo-Abwesenheit, der Grund für Papas brüske Verstimmtheit sei wohl eine heimliche Freundin. Das hatte Papa aber durch die hellhörigen Wände des Hauses vernehmen können (die verdammte Hellhörigkeit meines Elternhauses verdiente mal einen eigenen Beitrag), woraufhin der Besuch der Verwandten frühzeitig endete, was von Papa mit eben jener obzönen Geste begleitet wurde. Danach trafen sie sich nie wieder, weil G. sich weigerte, obwohl seine Frau gern den Kontakt bewahrt hätte.

Ich bin ja immer begeistert über Katastrophen, dies schien eine solche zu sein und ich grinse in Mamas Richtung. Im weiteren Verlauf erzählt mir Mama noch andere Geschichten, die mir teils neu, teils entfallen sind. Alle haben im weitesten Sinn damit zu tun, dass meine Großmutter väterlicherseits der Ansicht war, über verschiedene Dinge dürfe nicht gesprochen werden. Meistens hatten diese Dinge mit den schwarzen Schafen der Familie zu tun, oder mit den Behinderten, die dieser Familie (ganz besonders ihr) derart zu schaffen machte, dass sie verheimlicht wurden. Die Großmutter war dabei strikt. Und so wurde mir erst als sie Ende der 80er starb und plötzlich alle ihre Geheimnisse ans Licht kamen klar, dass der stadtbekannte leutselige Behinderte M., den wir auf der Straße immer mieden, mein richtig echter Cousin war, und sein jüngerer Bruder, den ich nur vom Namen kannte, dann ja wohl auch.

Es war berührend zu erleben, wie liebevoll Mama mit ihm umging, als wir nach dem Tod des so rigoros schweigenden weiblichen Familienoberhauptes ihm endlich frei begegnen konnten, er hatte etwas sehr Charmantes und äußerst Warmherziges und natürlich sah man die Familienähnlichkeit, spätestens in seinen Augen konnte ich sie erkennen und mein eigenes Herz sprang vor Freude wie in einem Kitschfilm, wenn der verstoßene Sohn endlich sein rechtmäßiges Erbe antreten kann oder die nichtsahnende junge Deutsche entdeckt, dass sie eigentlich die Maharani von Sowiesostan ist. (Ein wie ich finde brillianter Kitschfilm übrigens, der von einer wichtigen Programmzeitschrift nur mit einem Zeigefinger, quatsch, mit einem rosa waagerechten Daumen beurteilt wurde.)

Die andere Kusine und der Cousin (meines Vaters) wurden ebenfalls durchgehechelt. F-G, evangelischer Pastor, dessen Frau vorher schon mal verheiratet war, fand ebenfalls vor den Augen der, äh, meine Großmutter war dann ja wohl auch deren, naja, jedenfalls war R., die Frau des Pastors, die ich immer irgendwie mochte, für die Matriarchin indiskutabel, während Mama berichten konnte, dass F-G, der Pastor, so offensichtlich kleine Mädchen mochte, dass sie es vorzog, ihrerseits den Kontakt zu meiden. Wie hast du das denn gemerkt, frage ich? Der mochte uns (Schwestern)? Irgendwie guckt sie schelmisch, ja, sagt sie, der mochte alle Mädchen, auch mich. Es freut mich, dass sie sich immer noch für ein Mädchen hält, so wie sie das sagt. So, und die dritte Kusine hatte schon mal gar keinen Mann, die war Lehrerin und so spitznasig, wie's nur geht.

Wir reden über das Gefühl, wenn die Inhalte halbgeahnter Heimlichkeiten aufgedeckt werden. Wie erschütternd und gleichzeitig aufregend und befreiend das ist, weil man dreißig Jahre lang ein Wissen verspürte, das als falsch dargestellt wurde oder nicht von Belang. Natürlich ist es von Belang, dass die echte Maharani von ihrer wahren Bestimmung abgehalten wurde. Genauso ist es von Belang, dass plötzlich Cousins verschwinden, die man in der frühen Kindheit gekannt und geliebt haben muss und die uns auf Fotos wohl wie Geister erschienen.

In der Nacht träumt mir, dass ich von einer älteren Frau verfolgt werde. Ich weiß, sie möchte mich gern töten. Oder sie muss. Und so fliehe ich natürlich vor ihr, was sonst. Es gelingt mir, sie in den Häusern meiner Kindheit abzuhängen, es sind auch die Häuser der Groß-Kusinen dabei, mit Birken bestandene Sträßchen, durch Gärten und Schulen und Mädchenklos, der ganze alte Mist wie's aussieht – es gelingt mir lange, sie abzuschütteln. Als ich aber nach Hause komme und die Tür aufschließe, schaue ich beiläufig auf meine Türklingel. Es ist mir bekannt, dass diese Frau die gleichen Initialen hat und nun stehen unsere jeweiligen drei Großbuchstaben im Blocksatz übereinander gedoppelt auf meinem Klingelschild. Mit Entsetzen erkenne ich, dass sie nicht nur bei mir wohnt, anscheinend schon immer, sie ist sogar ich.
Wir sind ein und dieselbe! Wie furchtbar. Dann wache ich auf.