Sonntag, 3. November 2013
Jetzt habe ich hier mehrere Sachen gleichzeitig am machen, erstmal das Fenster schließen, die Wolken haben sich wieder verdichtet und das Sofa liegt im Schatten. Also – das Strickzeug (stricken, evtl. nachdenken), das MacBook (lesen, schreiben) und ein Buch (lesen), der Getreidekaffee ist schon getrunken. Ich könnte jetzt alles abwechselnd machen, ein paar Zeilen lesen, einige Runden stricken und an diesem Text schreiben. Und so mach ich's auch.

Mir geht vieles im Kopf herum. Nicht nur die nebenan heraufbeschworenen Bilder von aufgesägten Brustkörben, die ja eigentlich nur das Thema Vergänglichkeit evozieren. Vergänglich sein tut meistens weh, manchmal ist es aber auch schön, wenn zum Beispiel Liebeskummer vergangen ist oder ein bestimmtes zehrendes Verlangen sich erledigt hat.

Auf dem Bücherstapel im Flur, der eigentlich zum Antiquariat soll, finde ich Jed McKennas Trilogie wieder, über Erleuchtung und so. Und ich stricke an meinem zweiten Pullover in diesem Herbst, der erste hat noch einiges Unperfektes, die Ärmel hätten vielleicht einen Zentimeter länger sein können. Ich hatte nicht bedacht, dass Ärmel sich beugen und durchs Knautschen verkürzen, und jetzt schließen sie in der Ruhestellung genau am Handgelenk ab, aber es wäre schöner, wenn sie bis zum Daumenansatz reichten. Der neue Pullover ist aus naturgrauer Biowolle und wird eine großzügige Kapuze bekommen. Und längere Ärmel. Ich könnte mir jetzt als viertes noch ein paar Dinkelwaffeln mit Nussnougatcreme bereitstellen und alles schön vollschmieren. Vielleicht später.

Nach ein wenig Konzeptionsarbeit haben die Buddhistin und ich gestern einen Kneipenbummmel unternommen, durch sechs, sieben Kneipen. Komm, ruft die Buddhistin, mittlerweile bekannt für ihre Eilvorschläge, wir gehen rein, einmal durch und dann wieder raus, tun so als wären wir auf der Suche nach jemand, in Zeiten des mobilen Telefonats natürlich irgendwie unnötig, ich muss Pinkeln, sach ich, ja, dann gehen wir zusammen aufs Klo und fragen vorher. So machen wir's, auf unserem Spazierweg kehren wir kurz in jeder Kneipe ein, an der wir vorbeikommen, schnuppern Atmo, schauen uns suchend um und zack, sind wir wieder draußen. Die Luft ist hier frisch und nicht allzu kühl und beim weiterspazieren sprechen wir über unsere Eindrücke.

Jed McKenna ist einer dieser angeblich erleuchteten Menschen, mittlerweile ist nach seiner Trilogie ein viertes schmaleres Bändchen erhältlich, bisher aber nur in englisch. Ich hatte vorher noch nie Bambusstricknadeln, wie schön die gleiten und warm zwischen den Fingern liegen. Rechts, rechts, rechts, es ist wie eine Sucht, noch eine Masche, immer rechts herum, ich stricke gern ohne Nähte und mein Ehrgeiz ist es, die Kapuze in eins mit dran zu stricken, so wie ich mir das vorstelle, wird es gehen, die Kapuze ist dann wie ein riesiges Käppchen beim Sockenstricken.

Jed McKenna stresst den Leser mit seiner Darlegung der Sinnlosigkeit spirituellen Bemühens, denn diese findet nur innerhalb der Maya statt, und führt, anstatt sie zu schwächen, den Sucher eher in sie hinein, also in die Maya, die er als bloßen Traum beschreibt, so wie es die alten Schriften seit Jahrtausenden tun. Es gilt ihm, komplett aus diesem Traum zu erwachen, herauszutreten. Dann erst sei man wirklich befreit. Die spirituelle Übung hilft beim Aufwachen nicht, sie erleichtert und bereichert aber das Leben innerhalb der Maya.

McKennas Bücher sind nicht nur philosophische Ausführungen, sondern äußerst geistreich, scharfsinnig und brilliant erzählt. Ebenso wie Carlos Castaneda hält auch er sich versteckt. Im Netz gibt es nichts über ihn, keine Bilder, keine Biografien, keine persönlichen Webseiten. Aber man findet unzählige Texte, Foreneinträge und Diskussionsthreads, die sich mit seiner "Lehre" auseinandersetzen, sie auseinander nehmen, man findet Zustimmendes und Ablehnendes, aber niemals Gleichgültiges, denn dieser Autor rüttelt einen tatsächlich aus dem schönen Traum, als den sich unsere kleinen Leben herausstellen – in the end.

Wie Sie sehen, sehen Sie nichts: Die Schleier der Maya

Seit jeher bin ich mit dem Begriff der Maya vertraut. In jungen Jahren habe ich damit gehadert, wie real sie sich anfühlt und es fiel mir schwer, ihrer Nicht-Realität zu vertrauen. Mittlerweile bin ich um Erfahrungen reicher, die mir erkennbar gemacht haben, auf welche Weise die absolute Wahrheit (um nichts anderes geht es hier) verschleiert wird. Trotzdem sind natürlich noch Schleier vorhanden, mal dichter, mal durchscheinender, je nachdem, aber ich kann ihre Existenz verstehen und somit durchschauen. Jed McKenna befindet sich (angeblich) außerhalb der Schleier der Maya, außerhalb heißt hier allerdings, dass es sie gar nicht (mehr) gibt. Die Lehren und Übungsanweisungen der meisten Lehrer behandeln das rechte Handeln innerhalb des Traums der Maya, und als solche haben sie auch Wirkung auf den Traum: Das Einhalten der Yamas und Niyamas hat zur Folge, dass Karma verbrannt wird und der (körperliche) Mensch in größtmöglicher Harmonie leben kann. Außerhalb der Maya, nach dem Aufwachen aus dem Traum ist Nichts mehr von all dem. Es ist vorbei, die Bindungen sind zerstört, die Aufgabe gelöst.

Und so sitze ich hier, lese, stricke und schreibe meine Gedanken auf. Die Wolken ziehen am Fenster vorbei und aus einem dicken grauen Wollfaden entsteht langsam ein Pullover, der diesen (vergänglichen) Körper im baldigen Winter warmhalten wird.