Dienstag, 21. Mai 2024
Als ich letzte Woche meine Aufarbeitung der Schulgründung begonnen hatte, wurde mir beinahe schlecht, während ich den Text schrieb. Die Unterströmung gefiel mir nicht. An der Oberfläche war alles ganz wunderbar. Ich arbeitete freudvoll an einem wichtigen, zukunftsorientierten Projekt mit, gab meine Ideen ein und sorge dafür, dass alles, was das Haus verlässt, gut aussieht. Scheinbar nie versiegende, in Farben ausgemalte Phantasien begleiteten mich Tag und Nacht. Die Unbeschwertheit unserer Ideen war begeisternd, belebend, verjüngend. Wie wir alle in einem tollen Gebäude zusammensitzen, Erwachsene und Kinder, Eltern, Lehrer, Begleiter, Handwerker, Organisatoren, Freunde, Helfer. Ich dachte mir Unterrichtseinheiten für Schrift, Gestaltung, Zeichnen, Stricken und Häkeln aus, die anderen mochten Ähnliches im Sinn gehabt haben, und feilte mit an Aussehen, Rechtschreibung und Grammatik des Gesamtkonzeptes. Sogar Möbel waren bereits organisiert, die Bestefreundin wollte gemütliche Sitzgelegenheiten spenden und auch das Klavier bot sie an, ja, wir brauchten unbedingt Musikinstrumente, auch ein Gewächshaus draußen, innen Teppiche und Kram zum Spielen und Lernen.

Gleichzeitig wurden aber Strukturen geschaffen, ohne dass ich sie so recht wahrnehmen wollte. Die Eltern, deren Mitarbeit dringend benötigt wird, wurden in AGs organisiert oder angewiesen, sich selbst zusammenzufinden. Die Anweisungen unserer Speerspitzen-Lehrerin wurden strenger, nicht alle Eltern, oder eigentlich niemand wusste um die Einzelschritte einer Schulgründung, woher auch. Vertrauensvoll ließen wir zu, dass Anregungen zu alternativlosen Anweisungen mit kaum verhohlenem Befehlscharakter wurden. Der rauhe Ton begann uns zuzusetzen, in heimlichen Chatgruppen wurde schon über die diktatorische Leitung gelästert. (Ich selbst bin in zwei abgespaltenen Gruppen der Ratlosigkeit.)

Der Punkt, an dem ich ausstieg, war ein politischer. Bisher hatten wir es geschafft, gesellschaftspolitische Meinungen tolerant abzupuffern und nicht in die Diskussionen mit einfließen zu lassen, obwohl klar war, dass es verschiedene Meinungen gab. Die Lehrerin, daselbst bei jenen Demonstrationen zugegen, die sich gegen eine gewisse Partei aussprachen, forderte in einem unsäglichen Keifton, dass nun wir uns als Schule ebenfalls zu positionieren hätten. Im Zuge dieser ganzen politischen Schuld- und Unrechtszuweisungen waren auch wir hintenrum als demokratische Schule in Verdacht geraten, von völkischen Interessen, Schwurblern und anderen Antidemokraten unterwandert zu sein blabla.

Wohl die Hälfte der Gründer, darunter auch ich, wollten sich nicht positionieren müssen, denn in allen offenliegenden Schriften, Websites, Flyern und Informationsmaterialien geben wir uns deutlichst als Demokraten, Verfassungsfreunde etc. zu erkennen. Es sei unnötig, dieses dauernd zu wiederholen, fanden wir. Es wurde darüber nicht demokratisch abgestimmt. Sowieso schien sich das Demokratieverständnis unserer Speerspitze in einer Suppe aus Gift und Galle zersetzt zu haben. Und so erschien auf unserer Website eine Erklärung, die gleich in den ersten Zeilen von negativen Reizworten nur so strotzte und nun, allen Suchmaschinenoptimierungsempfehlungen zum Trotz (oder gerade deswegen), findet man unseren Schulnamen gemeinsam mit den unliebsamen Attributen. Eine Ironie des Schicksals, oder?

Am nächsten Tag kündigten T. und ich unsere Vereinsposten – zum Kuckuck mit dieser scheinheiligen Demokratie, mit ihrer Weltoffenheit (nach Westen) und einer Ansammlung "freiwilliger" Arbeitskreise. Dieses ganze Gedöns ging mir zudem ans Herz: Ich verbrachte schlaflose Nächte mit Grübeln und sorgenvolle Stunden mit Herzrhythmusstörungen. Kaum hatte ich mich erklärt, die Diskussionsgruppen verlassen und einige der Akteure im Messenger blockiert, ging es mir besser!

Akteure ist auch so ein Wort aus dem Kauderwelsch der Akteure. Die deutsche Sprache hat mittlerweile ordentlich zugelegt an unschönen Begrifflichkeiten, die einen Batzen schwerst erklärungsbedürftigen Inhalts mit sich führen. Ganz zu schweigen vom Gendern mit seinen kunstvoll eingebrachten Wort*innen-Lücken, bei denen mir beim Zuhören jedesmal der Atem stockt.




Freitag, 17. Mai 2024
Naja, wir haben es versucht und manche versuchen es noch. Die Nachbarin T., Mutter des Schulkindes, fragte mich, ob ich die Grafik machen könnte. Natürlich, eine schöne Arbeit, ein interessantes Thema für mich als Lehrerstochter, endlich. Ich war sogar bereit, für den Trägerverein ehrenamtlich zu arbeiten, um dieses Herzensprojekt auf den Weg zu bringen mit professionellem Design.

In Deutschland gibt es die Schulpflicht. Bisher war mir nicht klar, was das für Eltern bedeutet, die ihre Kinder nicht in eine staatliche Schule schicken möchte. Die T. kennt sich da aus. Bekannte von ihr schlossen sich Freilernergruppen an, nahmen Bußgeldverfahren auf sich, meldeten die Kinder aus Deutschland ab, ließen das Kind von einem Arzt oder Psychologen für nicht schulbar erklären, verließen das Land oder liefen irgendwie unterm Radar des Systems.

Das große Vorbild unserer Schule ist Summerhill in England, die vor 100 Jahren gegründet wurde und noch immer schlaue und stolze Schüler gut ausgebildet ins Leben entlässt. So etwas wollten wir auch!

Seit Dezember 2022 war ich dabei. Die Arbeit machte mir großen Spaß, die grafischen Ergebnisse ließen sich sehen und brachten eine Helligkeit und Ordnung ins bisher eher muffige Aussehen. Ich mochte die Menschen, die ihre Zeit, Energie und Liebe in diese Idee steckten, und mit D. und L. haben sich echte Freundschaften gebildet.

Das nötige Fachwissen für eine Schulgründung aber und ein ungehemmtes Durchhaltevermögen brachten R. als Lehrerin und H. als Jungpolitiker mit Finanzwissen mit. R. schrieb das Schulkonzept und H. rechnet an Finanzplänen herum und trifft sich mit Politikern. Sie waren die Speerspitze, wir anderen arbeiteten ihnen zu. Ein Architekt, engagierte Eltern und ein paar gute Denker bereichern die Initiative. Sie war schon 2018 gegründet, als langsam in Gang kommender Versuch, die Welt zu retten. Dann kam die Pest Corona, die Bemühungen erlahmten – nahmen dann aber wirklich Fahrt auf, als wir Neuen dazukamen.

Es war kompliziert. Ungleich viel Zeit ging damit einher, für ein bestimmtes Gebäude Nutzungskonzepte zu entwerfen, Baugenehmigungen einzuholen und Gespräche mit Stadt, Banken und Geldgebern zu führen. Eine ehemalige Sonderschule, deren Grundriss an eine quadratische Burganlage erinnert, in 13 Jahren durch verschiedenste Wohn- und kulturelle Projekte abgenutzt, verunstaltet, veraltet, war Ziel unseres Speerspitzenpaares. Wir wollten es sanieren.

Genau das ist der Punkt, von dem mir jetzt klar wird, dass er im Dunkeln liegt – warum ausgerechnet dieses viel zu große, zu teure, zu schwierige, allerdings schöne, dennoch heruntergekommene mit einem Architekturpreis geehrte Juwel, nun von dummen Menschen verwohnt, besprüht, beschmutzt – das regte mich so auf.

R+H, unsere Speerspitze, wollten das so. Ich verstand es nicht. Es wurden Zahlenreihen und Argumentationen ins Feld gebracht, es gab beleidigte Reaktionen, wenn man andere, einfachere Ideen vorschlug, es wurde gezwängt und gedrängt, und doch vertrauten wir dem Plan. In der Rückschau wirkt es auf mich wie eine riesengroße Profilierungsschau unseres angehenden Jungbonzen, dem wir blauäugig hinterherrannten. Für Gespräche wurden in der letzten Minute Präsentationen aus dem Boden gestampft, die ich mich in der allerletzten Minute beeilte, zu aller Zufriedenheit zu gestalten. Es wurde nicht ausreichend oder gar nicht kommuniziert mit den hoffnungsvollen Eltern, die bereits ihre Kinder angemeldet hatten, wir durften nichts über die Verhandlungen mit der Stadt nach außen dringen lassen.

Kurz gesagt, es war ein irres Spiel. Natürlich zankten wir uns, natürlich gab es unschöne Momente, es wurde geschmeichelt und gedroht, es gab aber auch Zusammenhalt, Begeisterung, wenn wieder ein Schritt getan wurde, einer unter Dutzenden aufreibenden, nervenden Schritte, die Wochen auseinanderlagen, die jetzt, am Ende... wie soll ich's sagen
wir bekommen das Gebäude nicht. Es ist vorbei. Es ist zu groß für uns. Wir haben keinen Plan B oder C.




Donnerstag, 9. Mai 2024
Die Geräusche und Klänge, die im Innenhof zu hören sind, deute ich mal als friedlich. Irgendwo ausländische Radiomusik, ein Klappern wie von einer Leiter, ein hölzernes anderes Klackern. Meine Hausnachbarn sitzen auf der Terrasse, die sich auf dem angebauten Atelier befindet und unterhalten sich leise. Ich kann von oben auf sie herabschauen. Sie lümmeln auf Liegen, die sie auf schwarze Matten gestellt haben, um das Teerdach vor Abdrücken zu bewahren.

Ich habe lange nichts geschrieben. Jedenfalls nicht hier und weniges mit der Tastatur des Laptops. Bleistifte sind jetzt die Schreibgeräte meiner Wahl. Aus den handschriftlichen Texten in meinen Russisch-Heften lassen sich so die Fehler gut ausradieren. Immer noch bin ich mit Begeisterung Schülerin der russischen Sprache und der kyrillischen Schrift. Viel hab ich gelesen über Lernmethoden, und da ich wirklich ungern Vokabeln lerne, praktiziere ich jetzt Lernen durch Hören. So wie ein Kind lernt. Es hört, und dabei entwickelt es langsam ein Gefühl für Klang, Rhythmus und Modulation. Irgendwann entsteht Sinn durch Reihenfolge und zunehmende Kenntnis einzelner Begriffe, gemeinsam mit Gestik und Mimik des Sprechers.

Letzte Woche hatten Ilya, mein russischer Brieffreund, und ich unseren ersten Videochat! Nach einem Jahr hauptsächlich schriftlichen Austausches (incl. Küchenfotografie und gefilmten Petersburger Straßenszenen) sehe ich nun in sein Gesicht. Er ist ein junger Mann Anfang 30 mit hellem Haar und einer Nase, die Mama Märmelnase (von Murmel) nennen würde. Diese Nasenform gehört zu meiner Familienausstattung und ist gar nichts Außergewöhnliches, fällt mir aber sofort auf. Sie läuft eben nicht spitz zu, sondern rund wie eine Kugel, nicht als Aufsatz, sondern einfach rund an ihrem Ende. Sein Gesicht habe ich mir anders vorgestellt, doch es ist angenehm. Von einem Schneidezahn fehlt eine kleine Ecke. Die Haare stehen nach oben, genauso wie ich es zur Zeit halte, nur dass meines grau ist und ich ungefähr 30 Jahr älter bin. Wir beide tragen Kapuzensweatshirts. Aber es geht nicht um Äußerlichkeiten. Und auch nicht ums Alter. Oder?

Einfach rein ins Gespräch – es ist schwieriger als wir dachten. Wir haben unsere Übersetzungstools dabei und lesen die Übersetzungen ab bzw. ich lasse lesen, weil ich fremde Wörter noch nicht flüssig aussprechen kann. Wir sind beide nicht die deutlichsten Sprecher und ich nuschele manchmal so für mich hin, was er natürlich nicht verstehen kann. Das lässt sich alles üben, und wir haben offensichtlich Spaß und Nutzen genug, sodass wir uns über zwei Stunden konzentriert mit beiden Sprachen beschäftigen. Texte des unteren Levels, A1 oder A2, bearbeiten wir, trotzdem aber ist es mit begrenztem Vokabular schwierig zu verstehen, warum haben verschieden angewendet wird, einmal als besitzen und zum anderen als Hilfsverb für das Präteritum. Selbst in diesen einfachen Texten für Anfänger gibt es Ausdrücke und umgangsprachliche Phrasen, die ausgiebiger Erklärung bedürfen. Trotzdem: Wie wunderschön unsere Sprache doch ist.

Schon mehrmals bin ich gefragt worden, wieso ich angefangen habe Russisch zu lernen, schließlich sei Putin doch ein böser Diktator und sein völkerrechtswidriger Angriffskrieg... interessant finde ich daran, dass jemand diese zwei Wörter überhaupt fehlerfrei über die Lippen bekommt, völkerrechtswidriger Angriffskrieg. Ich sag dann, na, wegen der Menschen, der Kultur und Völkerverständigung, wegen des Weltfriedens, gerade jetzt und jetzt erst recht.

Und dann wird ein bisschen skeptisch geguckt, während ich mir innerlich ausmale, wie ich in St. Petersburg spazieren gehe, mir das Denkmal des Hausmeisters ansehe und что, да ну dabei murmele.




Dienstag, 25. April 2023
Mein Russisch-Projekt auf insta hat sich weiterentwickelt, und vor einer Woche ist ein Dialog entstanden mit einem meiner Abonnenten, I. aus Sankt Petersburg. Freude am Lernen und Erforschen der jeweiligen Sprache verbindet uns auf eine natürliche und herzliche Weise. Wir erklären uns Wörter, dröseln Grammatik auf, finden Ähnlichkeiten, Wortstämme und Satzgebilde. Ein Lerntandem hätte ich mir nach dem ersten Kurs im letzten Sommer sehr gewünscht, schreckte aber vor Webportalen zurück, wo man einander hätte finden können. I. möchte gern in diesem Jahr beim Goethe-Institut in St. Petersburg eine Deutsch-Prüfung ablegen. Es wäre schön, wenn ich mit Übungen, Deklinationen und Gequatsche dabei helfen könnte. Ich selbst habe exzellente Online-Lernmöglichkeiten gefunden – Fedor, bei dem ich zwei achtwöchige Camps mitgemacht habe – und Max, der wöchentlich podcasts und yt-Filme zu verschiedensten Themen in verständlicher Sprache herausgibt. Die Transkripte dazu kann man abonnieren (1.000 Rubel monatliche Kontobewegung Richtung Russland) und so in Sprache und Schrift eintauchen. Für Ausländer, die Deutsch lernen möchten, habe ich derart gute Lernquellen noch nicht gefunden, um sie I. empfehlen zu können.

Und wieder so ein Jahr. Die ungute Unterströmung in Politik und Gesellschaft lässt sich mit Ablenkungen im Zaum halten. Ich nehme an, dass es gerade die vermeintlichen Ablenkungen sind, die das echte Leben ausmachen: Freude, Leichtigkeit, Freundschaft, Gestaltung, eigenmächtiges Handeln. Diese seltsamen Konstrukte von Grenzen, Straßen und Wegen, von Freund oder Feind, von Regeln, Gesetzen, Geld, gelenkter Sprachverwirrung und betreutem Denken – sogar die Religionen entlarven sich immer mehr als ein künstliches, ein technokratisches Gewebe, um Menschen in Unruhe, Angst und Krankheit zu halten.

Die Erfahrungen in Indien und die Weisheiten meiner spirituellen Lehrer aber waren in den Staubschutzmaskenzeiten für mich von unschätzbarem Wert. Ich habe davon gezehrt wie an einer letzten Ration heiligen Brotes. Manchmal ließen sich nur Krümel finden, jetzt aber wird jeden Tag frisch gebacken. Es ist alles wieder frisch – die Gespräche mit meinem Bildhauer, die Schulgründungsinitiative, die russisch-deutschen Gespräche mit I.

Der Petersburger Dialog (Петербургский диалог zum kulturellen und wirtschaftlichen Austausch zwischen Russland und Deutschland) wurde diese Woche aufgelöst. Ich beginne ihn jetzt neu. Mit I.




Samstag, 18. März 2023
Seit ich bei instagram eine kleine Kunstsache am Laufen habe, schaue ich dort natürlich, was andere so machen. Wenn man dann die eigene timeline abgearbeitet hat, kommen die Katzenvideos. Oder Videos über die Zubereitung russischer Mehlspeisen. Dazu all die Strickfrauen mit diesen bunten Fingernägeln. Wie soll man damit einen Faden führen? Oder mit schwarzen Plastikhandschuhen Fleischstückchen und Marinade mit esoterischen Sprüchen mischen?

Was mich die ganzen unglaublich niedlichen Katzen lehren, ist die Antwort auf die Frage, warum ich nicht einfach mal so achtzig Prozent des Tages verschlafen darf, in ein kuscheliges Fell gehüllt und das jeden Tag? Mich meines Körpers erfreuen und übers Gelände springen? Zwecks Erweckung eines bestimmten Körpergefühles der 70er Jahre lasse ich mir jetzt die Haare wachsen und trage Schlaghosen. Die Nahrungsumstellung im Herbst hat mich einige Gewichtskilos verlieren lassen und so könnte ich jetzt meine Jeans von damals wieder tragen, wenn ich sie denn aufbewahrt hätte.

Ja. So sieht das hier aus, während der Rest der Welt verrückt spielt. Oder Krieg. Oder Bankencrash. Oder was weiß ich was. Ihr könnt mich mal.




Montag, 16. Januar 2023
Um meine Y-Achse habe ich ein Schwindelgefühl im Liegen. Freitag früh, als ich die Augen öffnete beim Drehen, kippten die Wände weg und ich dachte, ah, der Polsprung, jetzt rolle ich bestimmt vom Futon. Spektakuläre Erfahrung. Das Internet sagt, kleine Steine hätten sich im Ohr gelöst (wie Kugeln in einer Spraydose, das sag ich jetzt), es würde ein paar Wochen dauern, dann hätten sie sich wieder festgesetzt.

Mir schwirrt tatsächlich der Kopf. Zu viel gelesen, zu viel gesehen, zu viel gehört. Nah am Ausstieg aus allem. Nur noch das einfache, reine Leben finde ich des Aufwachens wert, den frühen Kaffee, den ich jetzt mit Hafermilch und einem Quäntchen Ghee darin trinke. Das Telefonat mit dem Bildhauer. Die schöne, weil sinnvolle grafische Arbeit für die Schulgründer. Das Russischlernen. Etwas kochen, später Spazierengehen. Am Abend Yoga und früh schlafen. Ab und zu Besuch, aber nicht zu lange.

Gestern und morgen jähren sich die Todestage meiner Eltern, dazwischen immer der Geburtstag des Patensohnes. In welchen Jahren, habe ich fast vergessen.

Haben sie überhaupt gelebt?




Mittwoch, 31. August 2022
Nothing's gonna change my world, behauptete John Lennon in seinem Song Across The Universe. Ich hatte dies immer so verstanden, dass nicht mal eine spirituelle Erfahrung (wie er sie in dem Stück möglicherweise beschreibt) seine Welt verändern könnte. Im Russischen, das hatte ich soeben nachgeschlagen, bedeutet изменить nicht nur verändern, sondern auch zerbrechen, betrügen, verletzen und ähnliches. Seine Welt kann also durch nichts zerstört werden.

Auch nicht die meine. In all dem Trubel, spaßig oder ernst, der gerade eine bestimmte Szene durchfährt, bin ich gelassen. Es ist mir egal, was aus dieser Welt wird, weil nichts sie zerstören kann. Nichts kann mich zerstören.

Mein Russischer Sommer -- So wollte ich eigentlich diesen Text überschreiben. Nach acht Wochen intensivem Lernen tauchen aus kyrillischen Texten Wörter auf, die ich wiedererkenne und auch verstehe. Da las ich einen kurzen Abschnitt einer russischen Journalistin, die eine friedliche Alltagsszene im Kriegsgebiet beschreibt -- Menschen sitzen in Straßencafés und genießen die Sonne, die Autorin selbst hatte eine Fotoausstellung besucht, es war eine gewisse Sorglosigkeit zu spüren, хорошо.

Heute habe ich all meine Vokabelkarten auf dem Boden ausgelegt, weitere Karten angelegt und angefangen, die Rückseiten mit einprägsamen Sätzen zu füllen, die die jeweiligen Wörter enthalten. Sätze, die ich sagen würde, ich gehe auf den Markt und kaufe Gemüse oder ich mache das, weil ich es kann. Machen, können, weil. Es sind winzige Kostbarkeiten, wertvolle bunte Murmeln im Säckchen, kleine Aneignungen, auch die Schrift. Der Bestenfreundin habe ich dies geschenkt: Она решила продать дом. Sie hat sich entschlossen, das Haus zu verkaufen. Tatsächlich. Это так круто, hätte ich am liebsten gerufen, wenn ich das vorgestern schon gekonnt hätte.




Dienstag, 16. August 2022
Oben am Badezimmerfenster, wieder mit halbem Hintern, etwas unbequem, noch über dem nördlichen Walnussbaum, der mittlerweile die Balkone der Nachbarn verdeckt. Als ich einzog, war er 20 Jahre kleiner. Was war vor 20 Jahren? Jetzt um diese Zeit bin ich auf in die große Stadt, um ein halbes Jahr zu bleiben, mit der Prinzessin zusammenzusein, mit alten grünen Fähren zu Inseln zu tuckern, auf denen der größte outdoor-Buddha sitzt -- so wie auch ich einfach da sein wollte, um zu sehen, zu schmecken, zu riechen. Heute hätte ich beinahe ein Dosen-Heineken gekauft, weil es mich an jene Stadt erinnert; kein Tsing-Tao, nein, ein Heineken. Und das sieht die KI dann ungefähr so:


Rechts des Bieres sieht man in etwa ein Hochhaus, in dessen Nähe ich die kleine Wohnung hatte. Vielleicht sollte ich alle die Bilder, die ich auf Th.s Rechner zwischengelagert und die er ohne es zu wissen gelöscht hatte, von der KI nachrendern lassen. Ich mit der Prinzessin am Strand, beim gemeinsamen Essen, nachts auf der Flucht vor Geckos, die in meinem Badezimmer wohnten, auf hin-und-her-Booten, auf Dächern von Hochhäusern mit Blick auf die Stadt, oder mit Blick auf sie, wenn ich mich zu ihr drehte. I miss you, dear.




Samstag, 13. August 2022


Sie hat auch mich gepackt, die midjourney-KI. Praktisch auf Zuruf malt sie uns Bilder, die aus dem Unbewussten zu kommen scheinen, zumindest aus dem online-Gedächtnis der user, die das Internet bevölkern. Der Zuruf besteht aus Zeilen von Text, die das zu sehen Gewünschte beschreiben. So lautete eine meiner Zeilen wie folgt: the mind of my mother who suffers from dementia, she sits in her favourite garden and dreams.


Da ist keine Angabe von Farben, Stilen oder besonderen Einzelheiten der Blumenwahl. Die KI schafft es, mich zu überraschen und anzurühren. Wie das Gesicht schwarz verschleiert wird und seine Unschärfe findet, wie die Farbe der Blumen darauf abgestimmt ist, hat eine dringende Schönheit.

Während man auf dem Server weilt, kann man die Aktivitäten und Ergebnisse der anderen beobachten. Es gibt auch einige Blogger, die sich mit den Bildern beschäftigen. Allgemein kann man dort eine Ratlosigkeit bemerken, während sich die user bei midjourney ungehemmt ausbreiten, Gottvolles, Albernes oder Politisches verlangen, sich größenwahnsinnig architektonische Ideen generieren lassen oder ein hübsches Manga-Mädchen. Auch Zeichnungen von Ufos nach Leonardo da Vinci sind beliebt, oder in einem bestimmten Stil Gemaltes, Gezeichnetes oder Fotografiertes.

Im ersten Schritt werden vier kleine Bilder gezeichnet, von denen man sich im nächsten Schritt ein höher aufgelöstes oder eine Variation rechnen lässt. Man kann sich probeweise einloggen und hat 25 Bilder frei. Die sind im Nu verbraten, und ich habe mich auf ein bezahltes Abo eingelassen, das mir ca. 200 Bilder erlaubt. Seit Donnerstag habe ich 150 сделал, also gemacht, auch eines dabei, das meinen im Krieg in Russland verschollenen 19-jährigen Onkel zeigen soll. Er ist bei einer Flussdurchquerung ertrunken. Wo die KI die Idee hernimmt, ein gelbes Bündel Blüten auf seiner Mütze zu drapieren, weiß ich nicht. Sie hat Geheimnisse, das ist deutlich und greift Archetypen auf, die wir durch sie erforschen können. Ein echtes Abenteuer.




Montag, 11. Juli 2022
Wie sie alles zerreden und zerlegen. In alles reinreden und ihre tausend Begriffe als lebensnotwendig deklarieren. Verkorkste Moralvorstellungen wieder und wieder vortragen. Dabei ist es einfach. Das Göttliche ist einfach. Kein Wunder, wenn man nichts mehr verstehen kann, wir haben uns so sehr entfernt. Die Geschlechter, die Arbeitsbedingungen, das Geldsystem, die Krankheitskeime, die Maschinen und all die Apps. Wer hat bloß angefangen, Programme Apps zu nennen, und wer hat gesagt, dass dies und jenes gut für die Gesundheit sei? Wer hat uns so verwirrt, dass wir uns selbst nicht mehr verstehen?

Auf der 50-Jahr-Feier des alternativen Veranstaltungszentrums fanden sich viele Besucher meines Alters ein. Wir alle waren gleich gealtert. Manche mehr, manche weniger. G. machte ein Foto von mir und dem Bildhauer, Iso 1600 ist sehr halsfaltenfreundlich, stelle ich fest. Es gab so einen Bildungsbus von einer Uni des Umlandes, aus den 50ern oder so, man konnte ein bisschen basteln und drucken, aber wir beide saßen nur drin auf schönen alten Sitzen und tranken zwei Bier. Wir fühlten uns wohl. Es ist wirklich alles ganz einfach. Es spielte eine Band, etwas punkig und schnell, mit einer Sängerin, die sich bestimmt selbst Schlampe nennt, sie trat barfuß auf mit kurzem Jeansrock und einem lappigen T-Shirt von KiK oder so und sang ganz wunderbar unprätenziös leger und stand und lag und saß mal hier und da so rum. Meine Begeisterung war groß auf diese einfache Weise, kam so aus mir, dass ich ihr einfach zuwinken musste.

Vorhin besuchte ich mal wieder fb. Einige Bekannte hatten sich abgemeldet. Dieser ganze pädagogische Drang der (von mir abonnierten) Kunstkanäle geht mir so richtig auf den Geist. Wie man immer alles verbietet, was nicht sein darf -- Meinungen, Tendenzen -- alles kontrolliert und in diverse Bahnen gelenkt und das Selbstdenken unmöglich gemacht. Dialoge werden beschnitten, Wörter durch Dauernutzung diktiert oder durch Missachtung still zensiert. Ich musste tatsächlich nach dem Wort zensieren suchen und finde gleich an dritter Stelle das bpb mit einem Titel Meinungsfreiheit und ihre Grenzen. Das passt zu ihr. Ihr Druckwerk fluter habe ich zwar noch aus gestalterischen Gründen abonniert, es ist aber unlesbar geworden.

Meine beiden großen Sommerreisen zu Familienmitgliedern waren schön. Dudi, der Neffe und sine Fru, und die kleine Großnichte, die bald ein Geschwisterchen bekommt, die zweitgradige Nichte, die Kusine nebst Mann. Ich habe Strand gesehen und Wetter, gewandete Menschen aus fernen Zeiten, ich selbst gewandet mit Selbstgenähtem, mich wieder und wieder auf diese einfache Weise wohlfühlend, da-seiend, lachend, die geliebten Menschen wahrnehmend als sie selbst. Wie ich mit der Kusine auf dem Balibett liegend, dieselbe fast mit Dudi verwechselt habe, eine kleine Ähnlichkeit bei Augen, Mund und Sprache. Und all die Mittelalter-Люди, die sich schön gemacht hatten und ich nicht davon ablassen konnte zu postulieren, dass sich alle Leute fortan nur noch so kleiden mögen.

Und dann werde ich mit meinem gehäkelten Objekt A Pocketful Of Hope bei einer Ausstellung zu sehen sein. Und ich nehme an einem achtwöchigen Online-Camp zum Russisch-Lernen teil. Und ich werde meinen Geburtstag nicht feiern, sondern alle Freunde einzeln zu einem Getränk bitten. Es sind nicht mehr so viele, die mir einfallen. Es ist einfacher geworden.