Donnerstag, 9. Mai 2024
Die Geräusche und Klänge, die im Innenhof zu hören sind, deute ich mal als friedlich. Irgendwo ausländische Radiomusik, ein Klappern wie von einer Leiter, ein hölzernes anderes Klackern. Meine Hausnachbarn sitzen auf der Terrasse, die sich auf dem angebauten Atelier befindet und unterhalten sich leise. Ich kann von oben auf sie herabschauen. Sie lümmeln auf Liegen, die sie auf schwarze Matten gestellt haben, um das Teerdach vor Abdrücken zu bewahren.

Ich habe lange nichts geschrieben. Jedenfalls nicht hier und weniges mit der Tastatur des Laptops. Bleistifte sind jetzt die Schreibgeräte meiner Wahl. Aus den handschriftlichen Texten in meinen Russisch-Heften lassen sich so die Fehler gut ausradieren. Immer noch bin ich mit Begeisterung Schülerin der russischen Sprache und der kyrillischen Schrift. Viel hab ich gelesen über Lernmethoden, und da ich wirklich ungern Vokabeln lerne, praktiziere ich jetzt Lernen durch Hören. So wie ein Kind lernt. Es hört, und dabei entwickelt es langsam ein Gefühl für Klang, Rhythmus und Modulation. Irgendwann entsteht Sinn durch Reihenfolge und zunehmende Kenntnis einzelner Begriffe, gemeinsam mit Gestik und Mimik des Sprechers.

Letzte Woche hatten Ilya, mein russischer Brieffreund, und ich unseren ersten Videochat! Nach einem Jahr hauptsächlich schriftlichen Austausches (incl. Küchenfotografie und gefilmten Petersburger Straßenszenen) sehe ich nun in sein Gesicht. Er ist ein junger Mann Anfang 30 mit hellem Haar und einer Nase, die Mama Märmelnase (von Murmel) nennen würde. Diese Nasenform gehört zu meiner Familienausstattung und ist gar nichts Außergewöhnliches, fällt mir aber sofort auf. Sie läuft eben nicht spitz zu, sondern rund wie eine Kugel, nicht als Aufsatz, sondern einfach rund an ihrem Ende. Sein Gesicht habe ich mir anders vorgestellt, doch es ist angenehm. Von einem Schneidezahn fehlt eine kleine Ecke. Die Haare stehen nach oben, genauso wie ich es zur Zeit halte, nur dass meines grau ist und ich ungefähr 30 Jahr älter bin. Wir beide tragen Kapuzensweatshirts. Aber es geht nicht um Äußerlichkeiten. Und auch nicht ums Alter. Oder?

Einfach rein ins Gespräch – es ist schwieriger als wir dachten. Wir haben unsere Übersetzungstools dabei und lesen die Übersetzungen ab bzw. ich lasse lesen, weil ich fremde Wörter noch nicht flüssig aussprechen kann. Wir sind beide nicht die deutlichsten Sprecher und ich nuschele manchmal so für mich hin, was er natürlich nicht verstehen kann. Das lässt sich alles üben, und wir haben offensichtlich Spaß und Nutzen genug, sodass wir uns über zwei Stunden konzentriert mit beiden Sprachen beschäftigen. Texte des unteren Levels, A1 oder A2, bearbeiten wir, trotzdem aber ist es mit begrenztem Vokabular schwierig zu verstehen, warum haben verschieden angewendet wird, einmal als besitzen und zum anderen als Hilfsverb für das Präteritum. Selbst in diesen einfachen Texten für Anfänger gibt es Ausdrücke und umgangsprachliche Phrasen, die ausgiebiger Erklärung bedürfen. Trotzdem: Wie wunderschön unsere Sprache doch ist.

Schon mehrmals bin ich gefragt worden, wieso ich angefangen habe Russisch zu lernen, schließlich sei Putin doch ein böser Diktator und sein völkerrechtswidriger Angriffskrieg... interessant finde ich daran, dass jemand diese zwei Wörter überhaupt fehlerfrei über die Lippen bekommt, völkerrechtswidriger Angriffskrieg. Ich sag dann, na, wegen der Menschen, der Kultur und Völkerverständigung, wegen des Weltfriedens, gerade jetzt und jetzt erst recht.

Und dann wird ein bisschen skeptisch geguckt, während ich mir innerlich ausmale, wie ich in St. Petersburg spazieren gehe, mir das Denkmal des Hausmeisters ansehe und что, да ну dabei murmele.




Dienstag, 25. April 2023
Mein Russisch-Projekt auf insta hat sich weiterentwickelt, und vor einer Woche ist ein Dialog entstanden mit einem meiner Abonnenten, I. aus Sankt Petersburg. Freude am Lernen und Erforschen der jeweiligen Sprache verbindet uns auf eine natürliche und herzliche Weise. Wir erklären uns Wörter, dröseln Grammatik auf, finden Ähnlichkeiten, Wortstämme und Satzgebilde. Ein Lerntandem hätte ich mir nach dem ersten Kurs im letzten Sommer sehr gewünscht, schreckte aber vor Webportalen zurück, wo man einander hätte finden können. I. möchte gern in diesem Jahr beim Goethe-Institut in St. Petersburg eine Deutsch-Prüfung ablegen. Es wäre schön, wenn ich mit Übungen, Deklinationen und Gequatsche dabei helfen könnte. Ich selbst habe exzellente Online-Lernmöglichkeiten gefunden – Fedor, bei dem ich zwei achtwöchige Camps mitgemacht habe – und Max, der wöchentlich podcasts und yt-Filme zu verschiedensten Themen in verständlicher Sprache herausgibt. Die Transkripte dazu kann man abonnieren (1.000 Rubel monatliche Kontobewegung Richtung Russland) und so in Sprache und Schrift eintauchen. Für Ausländer, die Deutsch lernen möchten, habe ich derart gute Lernquellen noch nicht gefunden, um sie I. empfehlen zu können.

Und wieder so ein Jahr. Die ungute Unterströmung in Politik und Gesellschaft lässt sich mit Ablenkungen im Zaum halten. Ich nehme an, dass es gerade die vermeintlichen Ablenkungen sind, die das echte Leben ausmachen: Freude, Leichtigkeit, Freundschaft, Gestaltung, eigenmächtiges Handeln. Diese seltsamen Konstrukte von Grenzen, Straßen und Wegen, von Freund oder Feind, von Regeln, Gesetzen, Geld, gelenkter Sprachverwirrung und betreutem Denken – sogar die Religionen entlarven sich immer mehr als ein künstliches, ein technokratisches Gewebe, um Menschen in Unruhe, Angst und Krankheit zu halten.

Die Erfahrungen in Indien und die Weisheiten meiner spirituellen Lehrer aber waren in den Staubschutzmaskenzeiten für mich von unschätzbarem Wert. Ich habe davon gezehrt wie an einer letzten Ration heiligen Brotes. Manchmal ließen sich nur Krümel finden, jetzt aber wird jeden Tag frisch gebacken. Es ist alles wieder frisch – die Gespräche mit meinem Bildhauer, die Schulgründungsinitiative, die russisch-deutschen Gespräche mit I.

Der Petersburger Dialog (Петербургский диалог zum kulturellen und wirtschaftlichen Austausch zwischen Russland und Deutschland) wurde diese Woche aufgelöst. Ich beginne ihn jetzt neu. Mit I.




Mittwoch, 31. August 2022
Nothing's gonna change my world, behauptete John Lennon in seinem Song Across The Universe. Ich hatte dies immer so verstanden, dass nicht mal eine spirituelle Erfahrung (wie er sie in dem Stück möglicherweise beschreibt) seine Welt verändern könnte. Im Russischen, das hatte ich soeben nachgeschlagen, bedeutet изменить nicht nur verändern, sondern auch zerbrechen, betrügen, verletzen und ähnliches. Seine Welt kann also durch nichts zerstört werden.

Auch nicht die meine. In all dem Trubel, spaßig oder ernst, der gerade eine bestimmte Szene durchfährt, bin ich gelassen. Es ist mir egal, was aus dieser Welt wird, weil nichts sie zerstören kann. Nichts kann mich zerstören.

Mein Russischer Sommer -- So wollte ich eigentlich diesen Text überschreiben. Nach acht Wochen intensivem Lernen tauchen aus kyrillischen Texten Wörter auf, die ich wiedererkenne und auch verstehe. Da las ich einen kurzen Abschnitt einer russischen Journalistin, die eine friedliche Alltagsszene im Kriegsgebiet beschreibt -- Menschen sitzen in Straßencafés und genießen die Sonne, die Autorin selbst hatte eine Fotoausstellung besucht, es war eine gewisse Sorglosigkeit zu spüren, хорошо.

Heute habe ich all meine Vokabelkarten auf dem Boden ausgelegt, weitere Karten angelegt und angefangen, die Rückseiten mit einprägsamen Sätzen zu füllen, die die jeweiligen Wörter enthalten. Sätze, die ich sagen würde, ich gehe auf den Markt und kaufe Gemüse oder ich mache das, weil ich es kann. Machen, können, weil. Es sind winzige Kostbarkeiten, wertvolle bunte Murmeln im Säckchen, kleine Aneignungen, auch die Schrift. Der Bestenfreundin habe ich dies geschenkt: Она решила продать дом. Sie hat sich entschlossen, das Haus zu verkaufen. Tatsächlich. Это так круто, hätte ich am liebsten gerufen, wenn ich das vorgestern schon gekonnt hätte.