Montag, 2. Dezember 2019
Ich konnte es nicht lassen, trug mich das Wochenende mit dem Gedanken, mich auf einen 450 EUR-Job zu bewerben. Warum nicht ein paar Stunden die Woche werkeln, damit das Gesparte noch länger bewahrt bleibt. Wie wenig ich aber breit bin für Zwecke zu arbeiten, die nicht meine sind, wurde mir klar, als ich website und fb-Profil der Firma studierte und auch das persönliche des Arbeitgebers. Er interessiert sich für Sachen, denen ich nichts abgewinnen kann, die sogar Abneigung in mir erzeugen, Autos, Fußball etc., und so nahm ich bildlich-emotional vorweg, in unguten Zusammenhängen zu sitzen, Bandenwerbung für die lokale Fußballmannschaft druckfertig zu machen und und mich zu wundern, warum ich das überhaupt tue. Eine launige Bewerbung habe ich immerhin entworfen, aber ich muss feststellen, dass meine Motive, mich auf einen mich downgradenden Job zu bewerben, seltsam sind. Wie schon im vorletzten Monat hatte die ehemalige Bürokollegin wieder Arbeitsmöglichkeiten erwähnt und eine Strebsamkeit ausgelöst, genährt aus Sorge und Zukunftsängsten – die doch gar nicht zu mir gehören. Ich teile tatsächlich ihre Ängste nicht, unter denen sie sich regelmäßig verzettelt, in der Vergangenheit stärker, jetzt aus Vernunfts- und Kräftegründen sehr kontrolliert, wobei sie sich immer noch von spontanen soft- und hardware-Käufen verleiten lässt. Ist schon geil so ein iPad mit Stift, wie beides smooth zusammengeht, wäre ich Illustratorin wie sie, besäße ich sowas selbstverständlich auch.

Nach wie vor finde ich es schwierig, unbeirrt meinen Weg zu gehen. Natürlich will auch ich gesehen, erkannt und wertgeschätzt werden. (Das würde ich, versichert mir der Bildhauer.)

Mein Privatstudium, so nenne ich das jetzt mit Selbstbewusstsein, führt mich hinein in Zukunftsbilder, aber auch wieder zurück in meine eigene Kultur-Geschichte. Lese, wie alle paar Jahre, Doris Lessings Shikasta von 1979, ein großartig weitsichtiges Werk, das eine komplette Weltgeschichte umreißt und trotz schmerzvoller Aufarbeitung menschlichen Fehlens eine positive Aussicht entwickelt, die mich in wehmütige Stimmungen versetzt. Ob wir nun wirklich in solch einer Übergangszeit sind – es wird eigentlich immer offensichtlicher, dass das Zeug nicht mehr hält – oder ob es noch über meinen Tod hinaus mit dieser Art von Gesellschaft irgendwie weiter rumpelt, ist nicht zu sagen. In meinen frühesten Träumen und weiter durch all die Jahre tauchen Szenarien totaler Verwüstung auf. Sind es Familienerinnerungen an die Weltkriege des letzten Jahrhunderts oder Erinnerungen an die Zukunft, an eine Zukunft, die zu erleben ich auf die Welt kam?




Mittwoch, 27. November 2019
Nach einem sorglos und äußerst albern verbrachten Wochenende mit dem Bildhauer besuche ich am Montag das Mütterlein. Es sitzt da wieder so und erkennt mich nicht. Vielleicht liegt’s an meinem sehr kurzen Haar oder an allem anderen. Ich schiebe Mama in ihr Zimmer und das langsame Erkennen wird zu einem dramatischen Jammer, während Sätze fallen wie du bist mir so fremd oder das vorwurfsvolle wo warst du denn, beides wiederholt sie viele Male und heulend rufe ich alle guten Geister an, warum Gottvater, Maria und Jesus und alle Engel dazu sie hier so allein lassen, auch ich frage, wo sie denn nimmer sei und dass ich ihr nicht folgen kann. Wir liegen uns in den Armen und schluchzend beteuere ich Verlassenheit und weiteres Leid der Welt. Sie streichelt mein Gesicht und ist ganz wach dabei, fast erkenne ich sie wieder und sie wechselt zu einem lächelnden du bist mir nicht fremd, es dauert eine Ewigkeit, bis wir uns beruhigen, ihr Atem ging schnell und die bittersten Tränen wurden geweint.

Ich krieg’s nicht hin. Wie war das mit Abgrenzung und Entgrenzung?

Völlig ausgelaugt bringe ich sie zum Abendbrot an ihren Tischplatz. Sofort hat sie mich vergessen und würdigt mich keines weiteren Blickes, ihr Gesicht wieder zugefallen. Mein Winken bleibt ungesehen.

Ich bin davon überzeugt, dass das Leben ein Mysterium ist und wo ich kann, versuche ich, Geheimnisse aufzudecken; so kann ich mich an seltsamen, dunklen Gefühlen laben – und doch empfinde ich genau dies als echt krank. Am Morgen fällt mir weiteres Gesagtes ein, du bist Soldat geworden, behauptete sie und jetzt erst sehe ich ein, dass sie mich gar nicht meinte (vielleicht ihren Bruder, der mit 19 im russischen Winter bei einer Flussdurchquerung ertrank). Wahrscheinlich meinte sie mich gar nie, sondern immer nur eine der Figuren ihres inneren Dramas. Was für ein Missbrauch da mit Kräften, Liebe und falschem Blick begangen wurde.

Etwas hat diese Zeit – das Denken wird klarer. Ich verbringe den Tag mit dem angenehmen Gefühl, dass ich gar nicht gemeint bin, von niemandem, und niemals zu irgendeiner Zeit verantwortlich. Ich schlüpfe aus dem allgemeinen Schauspiel und keiner vermisst mich. Welche Erleichterung.

Schauspiel mit Pilzen.




Freitag, 22. November 2019
Da das hier immer so in Zyklen abläuft, kann ich nie sagen, ob ich endgültig durch bin durch Sachen. Oft sind es nur kleine Schritte, die sich dann wieder ähnlich anfühlen wie andere kleine Schritte, welche das Gehen langweilig machen. Nach einem rauhen Wochenende mit meiner Schwester Dudi und intensiven Aussprachen ist es nun wieder stiller hier in meinem Refugium. Das Arbeitszimmer befindet sich jetzt im Zustand einer Werkstatt, wenn dann wieder Aufgaben am Rechner zu erledigen sind, räume ich Garne und Werkzeuge in ihre Schubladen, wische Flusen fort und stelle den Bildschirm auf den leeren Tisch.

Unsere geschwisterliche Zweckgemeinschaft, die einen regelmäßigen Besuch Dudis bei mir und hauptsächlich bei der kleinen Mutter vorsieht, geht uns beiden gehörig auf die Nerven. Unsere Gespräche wirken aufgebracht und unzufrieden, wir treffen uns ja nicht, weil wir uns so gerne treffen. Obwohl wir uns natürlich liebhaben, das kann man aber auch per Telefon, alle einzwei Wochen. Ich beschwere mich, dass sie sich komplett gehen lässt, mental, emotional, auch körperlich, so als wäre ich Herd für alle gesammelten Probleme der letzen 60 Jahre. Ja, sie wird 60 nächste Woche, und auch sie hat das Gefühl, ihr liefe die Zeit davon. Es ist eng in ihrer Nähe, und ich kann nicht klar denken, so als wäre alles vollgestopft mit Bedürfnisbefriedigung auf niedrigstem Niveau – Essen gehen oder shoppen, Gedankenkreise um den doofen Mann, aus Erschöpfung schlafen müssen, Filme schauen. Diese Geistesenge macht mich aggressiv, um das zu mildern, bin ich einfach muffelig, willst du jetzt den ganzen Tag so weitermuffeln, weht es mich mitten auf der Fußgängergrünphase roh an und ich sage, ich will nur einfach rüber. Sie geht so langsam, das macht mich fertig.

Am Ende des überaus dramatischen Auseinandersetzens erkennen wir, dass es uns beiden nicht gut tut, weiterhin in dieser Art und Weise zusammenzukommen und wir beschließen, das ganze erstmal auszusetzen. Dass sie mir bei der Sorge ums Mütterlein keine Hilfe ist, sondern dass sich meine Sorge/Wohltat komplett auf sie verschiebt, ist nun uns beiden deutlich, wir konnten ehrliche und auch traurig-trennende Worte finden. Haben aber gleichzeitig keine Ahnung wie es weitergehen kann. Dudi im Hotel um die Ecke? Ich weg im Urlaub/Kloster, während sie bei mir ist? Keine Ahnung.

Am gleichen Wochenende sahen wir im TV diesen Hannah Arendt-Film. Ich wusste fast nichts von der großen Denkerin. Frau Arendt wird gespielt von Barbara Sukowa, an ihrer Seite Axel Milberg als Ehemann mit angeklebten Augenbrauen. Wie ich diesen Film verschlinge mit allen Sinnen! Wie sich plötzlich, fast körperlich, Räume öffnen, mir wieder klare Gedanken zuströmen, wie sich endlich der Dudi'sche Nebel hebt! – Im Anschluss finde ich noch das Gespräch Arendt/Gaus, das wie frisches Quellwasser mein Innerstes ausspült (so müssen Menschen nämlich miteinander reden) und ich bin wieder ich. Wie ich das unpersönliche Denken liebe und das reine Betrachten aus der Ferne. Hier bin ich zuhause. Ich hatte es bloß vergessen.




Montag, 4. November 2019
Im Heim werden vier Jahre Betreutes Malen gefeiert und die entstandenen Aquarelle und Zeichnungen mit einer Ausstellung gewürdigt. Von meinem Mütterlein, erst widerwillige aber dann doch eifrige Teilnehmerin der ersten Stunde, sind zwei Aquarelle dabei, eines eine Landschaft, unten mit umbra, oben so lichtblau und zartgelb und seelenvoll, dass mir die mit der Betrachtung einhergehende Wahrnehmung ihres wahrscheinlichen Seelenzustandes das Herz rührt. Ich drücke und küsse sie und nenne sie unentwegt meine süße Künstlerin, sie bekommt die Besprechungen des Vortrages, auch ihr Name wird genannt, haargenau mit und ist sehr bewegt, ich glaube auch, dass sie begreift, dass sie eine der erwähnten demenziell Erkrankten ist, die mit Malen angesprochen werden sollen, und macht dazu diesen weinerlichen Mund, aber im nächsten Augenblick ist dieses Gefühl auch wieder entschwunden und dann gehen wir herum und sehen uns alles an, Frau K. hat mit kleinen grafischen Grundformen größere Formen gefüllt und, guck mal, Mama, dort sieht man graublauen Wind dürrbraunes Geäst niederdrücken, und hier die Blütenpracht des Herrn S., im vorletzten Monat gestorben und da eine schön aufbereitete Kalligrafie. Dazu gibt es Kaffee, Sekt und Zuckerkuchen. Ich spreche eine Weile mit M., dem Leiter der Malgruppe, selbst bildender Künstler, wie bezaubernd er Mamas Bilder findet und ihre vorsichtige Art, Farbe aufzutragen, so als würde sie sich nur tastend der Vorstellung des fertigen Bildes nähern.

In einer anderen Kammer meines Herzens wünsche ich mich weit weg und entwerfe ein meditatives Leben in der Nähe vom Kloster Bursfelde, in Hemeln oder Oberweser, vielleicht arbeite ich dort bei Edeka und quatsche den ganzen Tag sorglos mit den Kunden, die allesamt viel Zeit haben, ich besitze vielleicht einen Garten mit Wildkräutern, der jährlich vom Hochwasser überflutet wird oder von Trockenheit zerstört und bin weit weg vom Generve der Stadt und dem Gefühl, stets erreichbar sein zu müssen. Ein Zwang, der zudem von Zwangsgedanken begleitet wird. Den möglichen Arbeitgeberinnen habe ich, jetzt in echt, abgesagt, und entgehe so dem immer deutlicher zutage getretenen Kompetenzgerangel und dem eigenen Übereifer, krass gutes Grafik-Design zu erschaffen, für ein Objekt, hinter dem ich nicht bedingungslos stehen kann. Dazu habe ich vorhin eine abschließende Mail geschrieben, die die technische und grafische Katastrophe schildert, die eine der Kundinnen mit ihrem unverständigen Alleingang angerichtet hat. Meines Erachtens. Sie selbst merkt es sicher nicht mal. Umso schlimmer.

Dudis Sohn hat sich endlich dem Vater offenbart, der weint Tränen, weil sein Kind kriminell geworden ist, Dudi weint, weil sie sich endlich von der Last des Mitwissens befreit fühlt und ich weiß wieder nicht, zu wem ich halten soll. Eigentlich zu Dudi, aber ich kenne die Geschichte natürlich so gut, dass ich Ursache und Wirkung unterscheiden kann. Dann vielleicht doch zum Neffen, den ich aber zur Zeit als so wenig zurechnungsfähig empfinde, dass sich die Auseinandersetzung nicht lohnt. Ich hatte geglaubt, dass mein Einfluss auf ihn stärker sei.

Wahrscheinlich denke ich allgemein, dass mein Einfluss stärker sei. Dies ist auch Teil meiner Zwangsgedanken, was ich hätte machen sollen, können, müssen, dürfen, es dreht sich alles dauernd herum, es ist ja auch nur ein Größenwahn, Dinge in der Hand halten zu können. Deshalb empfinde ich mein Losmachen von den Kundinnen als richtig, und auch die Trennung von der Busenfreundin, an die ich kaum mehr denke, und wenn, dann mit einem Groll, der sie nicht treffen soll, ich nehme an, sie hat genug eigenen Groll auszuhalten.

Zuvor noch, vor einzwei Wochen, hatte ich Kummer, weil das Mütterlein mich gar nicht mehr wahrgenommen hat, Die kreisenden Gedanken waren voller Vorwurf und Selbstmitleid, so als wäre ich ein Niemand, den man einfach so vergisst. Und dann wieder ihr Strahlen, wenn sie mich erkennt, mich mit kuchenverklebten Zähnen anlacht und mein Schätzchen nennt. Dann soll alles so für immer bleiben, ihr Tod eine völlig absurde Idee von mir.

Die Gruppenausstellung, bei der ich ein textiles Objekt zeige, ist etwas schräg angelaufen. Die Kuratorin hatte mich mit der Gestaltung der Einladungskarte beauftragt, das Thema war mehr oder weniger gender, vielleicht auch eine Spur androgyn oder bi dazu, angedeutete Spielarten von Sexualität bzw. mann/frau, und weil das Stichwort viel zu allgemein war, hatte keiner der anderen aufgerufenen Künstler das Thema auch nur annähernd gestreift, sondern irgendwas aus dem Archiv geholt, passt schon. Die Vernissage rückte heran, die Kuratorin war enttäuscht, die Grafik meiner Einladung machte keinen Sinn und der Redner hatte sich in der Jungschen Psychologie verhaspelt. Ich stand herum, den Beginn einer Erkältung ausschwitzend und fühlte mich so deplatziert als wäre ich unsichtbar. Ich hegte einen Groll über das Kunstvolk, dass sich besaufen kommt und Quatsch redet. Am Wochenende ist die Ausstellung vorbei, ich nehme mein Objekt wieder mit, stelle es daheim auf und erfreue mich an weiteren Plänen.

Vorhin habe ich Plätzchen gebacken. Einfache Tätigkeiten. Mein Arbeitszimmer aufgeräumt, Fäden vernäht, eine Schrift gekauft, Tee aufgegossen. Etwas schreiben und hochladen.




Samstag, 19. Oktober 2019
Ereignisreiche Monate enden langsam und eine Erkältung läd zusätzlich zum Ruhefinden ein. Warum hört sich das an wie ein Satz aus einer Folge dieses Wir richten deine Wohnung neu ein? Fehlen doch doch Kissen, gemütlich, Mittelpunkt und diverse Beschreibungen von Farbtönen. Egal.

Für eine entstehende eigene, freie Kunstsache benötige ich Köpfe. Gestern war ich in der Heimatstadt, um Vetter, Freunde und Grab (Papa) zu besuchen und vergaß auch nicht im Hutsalon Hallo zu sagen. Die Inhaberin kennt mich zwar nicht, sie führt jedenfalls das Geschäft weiter, in dem meine Mutter vor 60 Jahren als Modistin gearbeitet hat. Ich erinnere mich an einen anderen Besuch dort, als ich mit Mama eine Strickmütze für sie gekauft hatte. Damals gab es die Werkstatt noch und wir durften einen Blick hineinwerfen und die Hutformen und -stumpen bewundern, abgewetzte Tische und alte Werkzeuge, Garnrollen und Schmuckbänder. Durch den gestrigen Besuch hoffte ich ein paar Stumpen zu erstehen. Leider hatte gerade vor einiger Zeit eine junge Modistin aus H. alle 200 Köpfe des Ladens mitnehmen dürfen und das sogar geschenkt, die Ladnerin wisse nicht, was sie damit noch solle, zudem sie plane, das Geschäft nächstes Jahr mit ihrem 67. zu schließen. Trotzdem finden wir für mich noch einen Kopf und eine gelb bemalte, ziemlich ramponierte Halbschalenform aus der Zeit meiner Mutter – wir sind sicher, dass sie genau an diesen noch ihre Hüte gestaltet hat. Ich kann es kaum glauben, dass sie mir beide mitgeben möchte und ich bedanke mich ein Dutzend mal.

Ein neues Kundinnenpaar bietet an, für sie zu arbeiten. Es ist ein positives, stadtnahes Projekt, für das ich gern gestalten will. Allerdings sind sich die Damen noch nicht einig, wie sie ihr Geschäft leiten bzw. finanzieren wollen und so schwimme ich noch im Hin und Her ihrer Vorschläge, was etwas nervig ist, und es gibt bisher nicht mal ein Hausdesign. Kommunikation muss noch geübt werden, aber ich bin zuversichtlich. Schließlich klicken wir prima oder wie man das nennt und mir tut die ordnende grafische Arbeit gut. Zu unserem ersten Treffen lud mein Arbeitszimmer zu gemütlicher Besprechung ein. Es gab Kaffee und Kuchen und die Stoffvorhänge wehten im Wind, eine Arbeitsplatte aus hellem Birkenholz unterstrich die in regelmäßigen Abständen einsetzenden Hitzewellen aller Beteiligten.

Zudem Dilemma wg. Sasa und Peter. Ich mag beide, Peter vielleicht noch mehr. Starkes Recherchieren, wie das damals mit dem Krieg war und erschreckende Dokumente gefunden, die die deutsche Regierung in ein ungutes Bild rücken. Ich kann die Positionen beider Autoren nachvollziehen, während die Sonne in einen mit farbenfrohen Blüten gefüllten Kristallkelch strahlt und aus der Küche gemütliche Bratkartoffeldüfte herüberwehen.
Ach, es will heute nicht so recht mit dem Schreiben gehen.




Donnerstag, 10. Oktober 2019
  • die junge wuschelhaarige Künstlerin, eine neue Bekanntschaft, erfreut mit Unverstelltheit
  • mein aktuelles Objekt Eins von beiden, textile art mit seiner Unzahl an Deutungsebenen
  • die neuen, frechen Illustrationen von K. (der ehemaligen Raumteilerin)
  • der Bildhauer, mir ans Herz gewachsen
  • Ausstellungsmöglichkeiten für Ideen imaginieren/realisieren -> next year
  • nicht mehr ungefragt Ratschläge geben, nötigenfalls auch auf Meinung kundtun verzichten
  • Meinung haben nur nach gründlicher Recherche
  • nicht mehr einmischen (= Selbstschutz)
  • den Wunsch/Drang, etwas erreichen zu wollen/müssen, bei seiner Entstehung direkt beim Schopfe packen
  • Liste des zu Erreichenden kontemplieren, ggf. komplett demaskieren
  • Konflikte aushalten und loslassen, keine Energie in Erklärungen und Lösungsversuche investieren
  • bestimmte Gegebenheiten als unfruchtbar erkennen und nicht weiter verfolgen, wie ja das Loslassen überhaupt von allergrößter Wichtigkeit ist
  • (weniger saufen mit Dudi)
  • das wird wie ein allgemeiner Rückzug aussehen, ist aber (haha) Kunst




Sonntag, 6. Oktober 2019
Saufen mit Dudi. Ich muss nachts nochma los, um Geld zu holen, weil Dudi in Holland 'pinnen' wir nur noch, aber hier nicht, wir drehen diesen Dialog ca. 80 mal, man droht uns Zechprellerei/Polizei an, obwohl wir (ich als Nachbarin auf Armlänge) einen glorreichen Abend mit Singen am Klavier ima Raucherraum usw. – die Chefin erkennt uns wg Alc. nicht mehr, ist aber gut bei Stimme – ain't nobody make me happy – Layla – Junimond. Morgen nochmal reden. #Dudi was für ein Hashtag




Freitag, 13. September 2019
Es kommt etwas Leben in die Bezugssache Busenfreundin. Mit kleiner Stimme spricht sie mir aufs Band, sie wolle sich erklären, es ginge ihr jetzt besser. Nun doch per Mail antworte ich spontan, dass ich keine Gründe hören will, die es ihr erlauben, so herablassend mit ihren Freunden umzugehen, und dass ich die Freundschaft auf Eis legen möchte, bis es mir wieder besser ginge. Ich füge noch hinzu, dass mir ihr Verhalten weh getan hat und ich todtraurig über den Zustand unserer Freundschaft bin. Was der Wahrheit entspricht.

Dabei erinnere ich mich -- an anderes, frühes Leid, und dass ich es gegenüber den Verursachern vermieden habe, zum Ausdruck zu bringen, wie sehr es mich kränkt. Ja, ich glaube nicht einmal, jemals irgendwem gestanden zu haben, dass ich darüber todtraurig sei, so von du zu du. Das wäre ein Eingeständnis von Schwäche, hingegen ein Zeichen von Stärke, sich völlig unbeeindruckt zu zeigen, z. B. von dem Getöse der Eltern (oder den Lehrern oder anderen Autoritätspersonen). Eine Art weises Grinsen aufzusetzen schien mir als angemessene Reaktion gegenüber diesen minderbemittelten Personen.

Es ist fast so, als würde ich auch die Busenfreundin für minderbemittelt halten. Als wäre sie ein armes Hascherl, dem man nicht die Wahrheit sagen darf, weil es sonst darunter zerbräche. Fast so, als würde ich sie beschützen vor der Realtität der Welt, nämlich, dass sie kein Prinzesschen ist, und dass da draußen niemand ist, der sie nachhaltig zu trösten im Stande ist und ihre besessene Suche im Außen völlig vergeblich.

Sie schreibt zurück und erklärt sich trotzdem, mein Verbot missachtend. Da ist nichts, was ich nicht schon gehört habe, aber wenistens klingt eine Entschuldigung an. Trotzdem haue ich ihr ungebändigt ein paar Sachen zurück, über ihr sogenanntes Heiligtum, Kindheit und toter Mutter zu Ehren, und dass sie selbst es ja zu Markte getragen, zur Schau gestellt hat, dazu gehört ihr der Hintern versohlt, in diesem Park und dem ganzen Gutshofquatsch, wo nicht einer dieser dünkelhaften Adligen dazu bereit war, sich mit unseren künstlerischen Arbeiten/Aussagen auseinanderzusetzen, geschweige denn irgendeine Gemütsbewegung zu zeigen, außer einem kleinbürgerlichen Missfallen.




Montag, 9. September 2019
Im Traum von letzter Nacht bin ich ein etwa 12-jähriger englischer Junge und trage diese kurzen Hosen. Meine Eltern sind reich und wir wohnen auf einem Gutshof. Ich kann mit den Jungen, die in der Nachbarschaft wohnen, nichts anfangen, auch sie meiden mich, ich besuche lieber ein anderes Kind, das mit seiner Familie in einem dunklen, schlossähnlichen Gebäude lebt. Seine Eltern möchten nicht, dass ich oder sonst jemand mit ihrem Sohn spielt, sie halten uns nicht für standesgemäß und es ist ein Geheimnis um ihn, das mich reizt, meine Anwesenheit im Haus ist ebenso geheim, vielleicht lässt mich eine Magd immer ungesehen zu ihm ins Zimmer. Der schwarzhaarige Junge kriecht wie ein Tier langsam in dem prächtig ausgestatteten Raum auf Teppichen herum, ich weiß es längst, er ist behindert. Gerade das Animalische, seine triebhaften Gebärden und sein rauer Atem erwecken in mir den äußerst körperlichen Wunsch, in seiner Nähe zu sein. Ich lege mich zu ihm, er wendet sich mir mit größter Aufmerksamkeit zu. Nie habe ich so etwas gespürt, nie solch eine neugierige Zugewandtheit erlebt, wie jene dieses Menschen, der mich vorbehaltlos in seine Arme lässt und ruhig ansieht. Ich liebe ihn, das weiß ich auch, im tiefsten Grund meiner Seele, für immer.
Wir werden durch Geräusche gestört, seine Mutter hat mich Eindringling entdeckt und unter ihren Beschimpfungen laufe ich aus dem Haus, durch den Park, über die Ländereien und das Glasfeld* zurück zum Gutshaus, hetze die Treppen hoch durch holzvertäfelte Räume mit langen Vorhängen, noch höher unters Dach, dort befindet sich eine kleine Bibliothek, in deren Mitte meine Schwester Dudi sitzt, ich falle mit wehem Herz in ihren Schoß, den sie mit Kleid und Schürze ausgebreitet hält, als hätte sie auf mich gewartet, und weine und weine.
Noch im Erwachen weine ich.

*Das Glasfeld ist eine geologische Besonderheit, möglicherweise vor Urzeiten durch große Hitze und Sand entstanden. Es liegt in umgedreht U-förmigen Schichten in diesem Landstrich, das Glas ist ultramarinblau und wird oberirdisch abgebaut. Wir Jungs spielen hier oft und es sieht wunderbar aus.




Samstag, 31. August 2019
Habe die Puppe von Mama dabei, sie ist mit roter Marmelade bekleckert und ich will sie waschen. Ivonne, so nennt Mama sie, guckt mit dem Kopf oben aus der für sie zu kleinen Tasche, die braunen Wollhaare wehen im Wind, als ich mit dem Rad vom Heim zum nahen Ausstellungsort fahre, um bei der Busenfreundin Kunst-Objekt haltzumachen und Geselligkeit zu erleben, meine Tasche mit Ivonne lege ich auf die Steinplatten, die die Busenfreundin kunsthalber verlegt hat, der, um jetzt den Bogen zu unserem Streit zu schlagen, als Gedächtnisort, letztlich der ihrer toten Mutter installiert ist. An den Bäumen die Hängematten, in denen schon die Freunde rumhängen. Man soll, so ihr Konzept, aus der entspannten Haltung heraus das Paradies ihrer verlorenen Kindheit kontemplieren, das durch die Steinplatten aus dem elterlichen Garten und einem dort ausgegrabenen Farn dargestellt wird. Sei's drum, heute aber soll hier getrunken werden und das Ensemble gefeiert.

S. fragt nach dem Tascheninhalt, aus dem Ivonnes Haare wallen und ich erkläre das Entstehen von Ivonne, die ich als Demenzpuppe für Mama handgearbeitet habe und darüber gibt es interessierte Gesprächsmöglichkeit im Kreis. Das ruft die Busenfreundin auf den Plan, die es ekelig findet, die Puppe jetzt hier beim Essen (es gibt Brot, Käse und Oliven, auf Ivonne ist bloß Konfitüre) vorzuzeigen, sie sei da etwas empfindlich wegen ihrer Mutter. Ich kann das alles vestehen und S. steckt Ivonne zurück in meine Tasche, die ich wieder auf die Steinplatten lege. Indes der neue, überaus niedliche Cocker-Spaniel von S. ebenfalls Aufmerksamkeit erregt, die Busenfreundin blökt S. an, sie solle ihn nicht zu nah an die Nahrungsmittel lassen, die auf dem Boden liegen, das sei ekelig.

Ein Tag voller Ekel. Die Busenfreundin keift und zankt, stellt einige Details der Ausstellungsprobleme mit den Kollegen falsch dar, bei denen sie bei Richtigstellung ziemlich schlecht wegkommen würde. Und H. solle nicht so unsexy in der Matte liegen, er hatte sich aber das Knie schmerzlich verdreht und jeden Grund unsexy zu sein. Vor den anderen, die H. nicht kennen, breitet sie aus, dass sie mal ein Paar waren, was wiederum S., die jetzige Freundin von H., sowieso nicht hören mag, es ist eine echt schlimme Situation, die sicherlich nicht nur von mir so empfunden wird. Ich blicke betreten vor mich hin und sage nichts. Und sie dann weiter: im Übrigen solle ich meine Tasche wonders hinlegen und nicht an diesen heiligen Ort (der Bodenplatten, wahrscheinlich Sandstein aus Kirchbrak). Mir bricht vollends das Herz, ich stehe in der selben Sekunde auf und mit einem Zeit für mich zu gehen nehme ich die Tasche, ich will noch zum Bildhauer, dessen Ausstellung gleich beginnt, S. schaut mich an und berührt meinen Arm, und dann stapfe ich über die Wiese davon.

Ich will die Busenfreundin nicht mehr sehen, geht es mir immer wieder durch den Kopf, während ich mit dem Rad und Ivonne, die aus der Tasche schaut, zum Bildhauer fahre. Nie/nie mehr. Ich weiß das alles, ich weiß, wie sie sich fühlt, tote Mutter, Messihaushalt, ich befürchte, sie trinkt auch viel, alles echt furchtbar. Aber sie weiß nicht, wie ich mich fühle und setzt ihr Leid über das aller anderen. Ich weiß, dass sie mir die Intimität, die Zärtlichkeit, die ich mit Mama habe, stets geneidet hat, weil sie gleiches mit ihrer Mutter als eklig empfand. In ihren Augen konkurrieren unsere Mütter, begreife ich. Ich weiß, dass sie mir jede Aufmerksamkeit neidet, die ich anstatt ihrer bekomme. -- Und nun macht sich alles an der armen Ivonne fest, die mittlerweile in Olivenseife gebadet ist und auf der Fensterbank trocknet. Ich bin so traurig, ich könnte heulen.