Topic: Familienbande
Dieses Wochenende bin ich bei meinem Bildhauer. Wir wechseln uns ab; wer des anderen Gast ist, braucht sich um nichts zu kümmern. Bekommt Leckereien aus der Küche gereicht, in der geschnibbelt und gekocht wird. Ein Gläschen Wein? Wärmflasche? Jetzt sitze ich im Wohnzimmer auf dem Sofa mit Blick auf die neueren Gelben Objekte und den Schreibtisch mit Gegenständen, die teils benutzt, teils bewundert werden können, wie Schnitzmesser, Schnüre, Astgabeln oder besonders geformte Steine und Versteinerungen. Gestern hatte ich mein Telefon zu Hause vergessen, Panik, ich muss doch erreichbar sein, falls Mama stirbt. Am Vormittag hat sie mich wieder nicht gehen lassen, sie klebt so an mir, gesteht mir ihre Liebe und ist sehr weinerlich dabei, es ist nur sehr schwer auszuhalten, diese Liebe, von der ich nicht weiß, wem sie wirklich gilt. Mit dem Argumentieren sollte ich aufhören: Nächste Woche kommt Dudi dich besuchen. Dann macht ihr wieder was Schönes. Sie könne sich nicht erinnern, kontert sie, hoffentlich sei die nicht so spröde wie ich. Spröde, lache ich halbwegs verzweifelt. Das Wort hängt mir lange nach.
Ich rufe dann im Heim an und gebe des Bildhauers Nummer durch, ein lustiger Dialog, weil ich für einen Moment seinen Nachnamen vergessen habe. Den nutze ich naturgemäß selten, wir siezen uns schon lange nicht mehr. Gerade kommt er rein und dreht die Tulpen zurecht, macht den Globus an und guckt, als ob er wüsste, dass ich über ihn schreibe.
Am Morgen träumte ich: In der Agentur, die mittlerweile von der Lieblingschefin komplett übernommen ward, entdeckte ich in einer Truhe einen Stapel Schneidematten, sie waren ein einziges Mal benutzt worden, um mit Kunden zu basteln, eine schmeichelhafte Werbeaktion. Ich empfinde das als große Verschwendung, eine Schneideunterlage ist für mich ein besonderer Schatz, der einiges kostet. Der Arbeitstisch ist mit Materialien überfrachtet, regelrecht zugemüllt. Ich rege mich total auf wegen all dem Kram. Ich brauche ja bloß ein Stück der hellblau karierten Reinzeichenpappe, die ich nicht finden kann.
Indes melden sich die Enkel des Kaisers auf meinem Handy, sie wollen Mama eine Weile nehmen, damit ich mal wieder ausschlafen kann. Ich weiß nicht genau, ob ich ihnen trauen kann, immerhin sind sie nur die Enkel und nicht der Kaiser selbst.
Ich schaue bei mir zuhause vorbei. Dort war ich anscheinend eine Weile nicht. Das Schlafzimmerfenster ist vorgekippt, und auf dem Fensterbrett steht ein größerer Blumentopf, aus dem etwas Grün sprießt, das Krautbüschel steht schief und ich will es geraderücken, da ist noch etwas anderes, vertrocknetes im Topf. Mit dem Finger pule ich dran herum, etwas braungraues, zerzaustes, strohig – zum Vorschein kommt der Kopf meiner Katze! Sie ist tot, unwiderruflich, ihre Augen nur noch vertrocknete schwarze Schlitze. Was für ein schrecklicher Anblick! Wie konnte ich meine geliebte Katze vergessen? Sie muss vor Wochen in dieser Wohnung verhungert sein, in der Blumenerde zum Sterben eingegraben. Wie ich das vor den anderen Menschen, die zu Besuch sind, verheimlichen kann, überlege ich wirr. Ich könnte den Topf (mit Katze) in den Biomüll werfen ... nur langsam wache ich auf und werde mir erleichtert klar, nur ein Traum.
Ihn zu deuten, ist einfach. Sorgepflicht vernachlässigt, vergesslich geworden gegenüber der Verpflichtung. Einer meiner größten (wenn auch eingebildeteten) Fehler gegen mein Liebstes.
Was denn mein Liebstes sei? Das weiß ich ja.
Am Mittag fahre ich mein Handy holen. Im Hof ergeht sich die schwarze Katze. Seit Monaten habe ich sie nicht gesehen, wir laufen aufeinander zu, Freunde, Freude, bücke mich zu ihr, winterdick, mein Gesicht dann voller nasser Nasenstüber, ich wühle und rieche in ihrem kurzen, festen Fell, das einige weiße Haare bekommen hat, sie maunzt, gurrt und schnurrt, versichert, wie lebendig sie ist – und ich erzähle ihr auch alles.
Ich rufe dann im Heim an und gebe des Bildhauers Nummer durch, ein lustiger Dialog, weil ich für einen Moment seinen Nachnamen vergessen habe. Den nutze ich naturgemäß selten, wir siezen uns schon lange nicht mehr. Gerade kommt er rein und dreht die Tulpen zurecht, macht den Globus an und guckt, als ob er wüsste, dass ich über ihn schreibe.
Am Morgen träumte ich: In der Agentur, die mittlerweile von der Lieblingschefin komplett übernommen ward, entdeckte ich in einer Truhe einen Stapel Schneidematten, sie waren ein einziges Mal benutzt worden, um mit Kunden zu basteln, eine schmeichelhafte Werbeaktion. Ich empfinde das als große Verschwendung, eine Schneideunterlage ist für mich ein besonderer Schatz, der einiges kostet. Der Arbeitstisch ist mit Materialien überfrachtet, regelrecht zugemüllt. Ich rege mich total auf wegen all dem Kram. Ich brauche ja bloß ein Stück der hellblau karierten Reinzeichenpappe, die ich nicht finden kann.
Indes melden sich die Enkel des Kaisers auf meinem Handy, sie wollen Mama eine Weile nehmen, damit ich mal wieder ausschlafen kann. Ich weiß nicht genau, ob ich ihnen trauen kann, immerhin sind sie nur die Enkel und nicht der Kaiser selbst.
Ich schaue bei mir zuhause vorbei. Dort war ich anscheinend eine Weile nicht. Das Schlafzimmerfenster ist vorgekippt, und auf dem Fensterbrett steht ein größerer Blumentopf, aus dem etwas Grün sprießt, das Krautbüschel steht schief und ich will es geraderücken, da ist noch etwas anderes, vertrocknetes im Topf. Mit dem Finger pule ich dran herum, etwas braungraues, zerzaustes, strohig – zum Vorschein kommt der Kopf meiner Katze! Sie ist tot, unwiderruflich, ihre Augen nur noch vertrocknete schwarze Schlitze. Was für ein schrecklicher Anblick! Wie konnte ich meine geliebte Katze vergessen? Sie muss vor Wochen in dieser Wohnung verhungert sein, in der Blumenerde zum Sterben eingegraben. Wie ich das vor den anderen Menschen, die zu Besuch sind, verheimlichen kann, überlege ich wirr. Ich könnte den Topf (mit Katze) in den Biomüll werfen ... nur langsam wache ich auf und werde mir erleichtert klar, nur ein Traum.
Ihn zu deuten, ist einfach. Sorgepflicht vernachlässigt, vergesslich geworden gegenüber der Verpflichtung. Einer meiner größten (wenn auch eingebildeteten) Fehler gegen mein Liebstes.
Was denn mein Liebstes sei? Das weiß ich ja.
Am Mittag fahre ich mein Handy holen. Im Hof ergeht sich die schwarze Katze. Seit Monaten habe ich sie nicht gesehen, wir laufen aufeinander zu, Freunde, Freude, bücke mich zu ihr, winterdick, mein Gesicht dann voller nasser Nasenstüber, ich wühle und rieche in ihrem kurzen, festen Fell, das einige weiße Haare bekommen hat, sie maunzt, gurrt und schnurrt, versichert, wie lebendig sie ist – und ich erzähle ihr auch alles.
akrabke | 22. Januar 2018, 17:23 | 0 Kommentare
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Topic: Wiederholungen
...ja, der gestrige Rückblick ist etwas im Weihnachtsgeschehen versackt. Das ist nicht schlimm, denn wir wollen ja aufarbeiten, was geht.
Manchmal fühlt es sich an, als wäre meine eigene Persönlichkeit kaum vorhanden, das meint die eigene Färbung des, äh –
Das Mütterlein klagt über etwas Ähnliches, ich hoffe, wir haben nicht die gleiche Schacke. Sie weiß jetzt definitiv nicht mehr, wer ich bin, sie ruft mich zwar freudig beim Namen, wenn ich auftauche, dabei hält sie mich gleich für mehrere Personen. Es gibt da diesen Jungen, der sie beim Tanz auf eine Weise geführt hat, wie ein Junge das mit einem Mädchen macht. Außerdem sei er immer sehr lieb. Ich frage nach Namen und Herkunft, die kennt sie aber nicht, er sei vielleicht mein Sohn? Als ich meine orangefarbene Winterjacke anziehe, bemerkt sie, ihre Mama hätte die gleiche. Das sind schon mal zwei Leute. Ihr Papa hätte sie hier ins Heim gebracht, drei, und dann natürlich noch ihre älteste Schwester Ch., die sich sehr nah standen (vier). Darüber hinaus meint sie manches Mal ich zu sein, so als säße sie vor einem Spiegel, und redete mich als ihr Bild an. Aus eins mach fünf.
Ich weiß nicht, wie ich darauf reagieren soll, validieren, wie es die Gesprächstechnik für Demente vorschlägt, kann ich das nicht, für mich käme es einer Lüge gleich. Und so spielen wir oft das Heitere Personenraten, mich amüsiert es, ihr macht es wahrscheinlich Angst, weil sie merkt, wie wenig ihrer Wahrnehmung noch stimmig ist.
Ich allerdings verbringe manchmal Tage damit, meinem favorisierten Gitarrenspieler nachzuforschen. Dann betrachte ich Bilder im Netz und sehe Videos an. Seine Gestalt und sein Gesicht rühren Tiefes in mir an, peinlich einzugestehen, dass er aussieht wie eine junge Version meines Vaters und somit meine ich auch für mich Ähnlichkeiten zu erkennen. Hat er nicht Hände wie ich? Augen, Nase. Und die Haare! Ich neige dazu, meine Friseurgänge mit seinen abzustimmen, zur Zeit, wie man es in aktuellen Auftritten sehen kann, trägt er sein Haar länger. So auch ich. Eigentlich englischer Herkunft, ist jener Musiker aber in der Nähe meiner Heimatstadt geboren, was eine außereheliche Affäre meines Vaters möglich machte. Das wäre doch toll, ich hätte einen Halbbruder, der so aussieht wie ich.
Kurzum. Ich erinnere mich, dass ich mindestens seit der Jahrtausendwende dem Laster anheimfalle, mir unsere gemeinsame Familiengeschichte auszumalen. Alle paar Monate, aber wenigstens einmal im Jahr begebe ich mich in das geliebte Gedankengebäude und merke, wie wenig ansprechbar für anderes ich in der Zeit bin. Gestern habe ich sogar die Gitarre zur Hand genommen, um ein aktuelles Stück nachzuspielen, aber verdammt, die Finger sind nicht gemacht für Barrégriffe. Es ärgert mich, dass er so gut ist, und so drehe ich wieder und wieder die Runde durch Konkurrenz, Rechtfertigung und Heilsversprechen. –
Das laugt mich aus, es ist ein bisschen wie eine Sucht, ich habe das Gefühl, ich hätte kein eigenes Leben und müsste, wie ein Zwang, das des Musikers tracken. Was natürlich nicht geht. Spätestens nach dieser Erkenntnis fange ich an, zu mir und meinem eigenen Leben zurückzukehren, langsam, mit Blicken zurück, erst kann ich nur wenig damit anfangen, später sehe ich den Wert und die Fülle wieder, die das Meine ausmachen.
Was mich anfällt, ist schwer für mich zu verstehen. In der Phase der Ahnenforschung im letzten Herbst merkte ich, wie gut es tut, dass da noch jemand anderes ist bzw. war, eine Art Halt und Stärke vielleicht von der Urgroßmutter mit ihren neun Kindern kommend. Auch dort eine Freude, wenn ich meine biologische Herkunft sichten konnte, ah, diese Großtante sieht mir ähnlich, die braunen Augen, sieh her. Das war für mich ein großer Trost. Die jungen Jahre meines Vaters, mit Nicki und Bollerhose, mit gestreiftem Pulli und diesen schönen Haaren, auf den Fotos stets bereit zu einer Grimasse oder sich im Gesicht herumfriemelnd. So wie ich das mache, und so macht es auch der Musiker. Friemeln. –
Genug dessen. Meine echte Beziehung zum Bildhauer indes ist von gelassener Einfachheit und Freude. Wir treffen uns regelmäßig und machen was. Er bringt mich zum Lachen, und auch ich kann sein dunkles Lachen herausfordern, wir reden über das meiste, was es gibt und uns begeistern praktisch die gleichen Interessensgebiete, anzunehmen ist, dass er auch solche Gedankenburgen belebt, und das sehe ich an seiner Kunst. Zur Zeit ist sie gelb, Zitrone, indisch, Kurkuma, ein bisschen mehr rot, da wird alles angemalt und steht zur Betrachtung herum. Ich lass dann meinen Blick schweifen und finde es schön. Was kümmern mich dann noch Barréakkorde wie F, Gm oder A#.
Manchmal fühlt es sich an, als wäre meine eigene Persönlichkeit kaum vorhanden, das meint die eigene Färbung des, äh –
Das Mütterlein klagt über etwas Ähnliches, ich hoffe, wir haben nicht die gleiche Schacke. Sie weiß jetzt definitiv nicht mehr, wer ich bin, sie ruft mich zwar freudig beim Namen, wenn ich auftauche, dabei hält sie mich gleich für mehrere Personen. Es gibt da diesen Jungen, der sie beim Tanz auf eine Weise geführt hat, wie ein Junge das mit einem Mädchen macht. Außerdem sei er immer sehr lieb. Ich frage nach Namen und Herkunft, die kennt sie aber nicht, er sei vielleicht mein Sohn? Als ich meine orangefarbene Winterjacke anziehe, bemerkt sie, ihre Mama hätte die gleiche. Das sind schon mal zwei Leute. Ihr Papa hätte sie hier ins Heim gebracht, drei, und dann natürlich noch ihre älteste Schwester Ch., die sich sehr nah standen (vier). Darüber hinaus meint sie manches Mal ich zu sein, so als säße sie vor einem Spiegel, und redete mich als ihr Bild an. Aus eins mach fünf.
Ich weiß nicht, wie ich darauf reagieren soll, validieren, wie es die Gesprächstechnik für Demente vorschlägt, kann ich das nicht, für mich käme es einer Lüge gleich. Und so spielen wir oft das Heitere Personenraten, mich amüsiert es, ihr macht es wahrscheinlich Angst, weil sie merkt, wie wenig ihrer Wahrnehmung noch stimmig ist.
Ich allerdings verbringe manchmal Tage damit, meinem favorisierten Gitarrenspieler nachzuforschen. Dann betrachte ich Bilder im Netz und sehe Videos an. Seine Gestalt und sein Gesicht rühren Tiefes in mir an, peinlich einzugestehen, dass er aussieht wie eine junge Version meines Vaters und somit meine ich auch für mich Ähnlichkeiten zu erkennen. Hat er nicht Hände wie ich? Augen, Nase. Und die Haare! Ich neige dazu, meine Friseurgänge mit seinen abzustimmen, zur Zeit, wie man es in aktuellen Auftritten sehen kann, trägt er sein Haar länger. So auch ich. Eigentlich englischer Herkunft, ist jener Musiker aber in der Nähe meiner Heimatstadt geboren, was eine außereheliche Affäre meines Vaters möglich machte. Das wäre doch toll, ich hätte einen Halbbruder, der so aussieht wie ich.
Kurzum. Ich erinnere mich, dass ich mindestens seit der Jahrtausendwende dem Laster anheimfalle, mir unsere gemeinsame Familiengeschichte auszumalen. Alle paar Monate, aber wenigstens einmal im Jahr begebe ich mich in das geliebte Gedankengebäude und merke, wie wenig ansprechbar für anderes ich in der Zeit bin. Gestern habe ich sogar die Gitarre zur Hand genommen, um ein aktuelles Stück nachzuspielen, aber verdammt, die Finger sind nicht gemacht für Barrégriffe. Es ärgert mich, dass er so gut ist, und so drehe ich wieder und wieder die Runde durch Konkurrenz, Rechtfertigung und Heilsversprechen. –
Das laugt mich aus, es ist ein bisschen wie eine Sucht, ich habe das Gefühl, ich hätte kein eigenes Leben und müsste, wie ein Zwang, das des Musikers tracken. Was natürlich nicht geht. Spätestens nach dieser Erkenntnis fange ich an, zu mir und meinem eigenen Leben zurückzukehren, langsam, mit Blicken zurück, erst kann ich nur wenig damit anfangen, später sehe ich den Wert und die Fülle wieder, die das Meine ausmachen.
Was mich anfällt, ist schwer für mich zu verstehen. In der Phase der Ahnenforschung im letzten Herbst merkte ich, wie gut es tut, dass da noch jemand anderes ist bzw. war, eine Art Halt und Stärke vielleicht von der Urgroßmutter mit ihren neun Kindern kommend. Auch dort eine Freude, wenn ich meine biologische Herkunft sichten konnte, ah, diese Großtante sieht mir ähnlich, die braunen Augen, sieh her. Das war für mich ein großer Trost. Die jungen Jahre meines Vaters, mit Nicki und Bollerhose, mit gestreiftem Pulli und diesen schönen Haaren, auf den Fotos stets bereit zu einer Grimasse oder sich im Gesicht herumfriemelnd. So wie ich das mache, und so macht es auch der Musiker. Friemeln. –
Genug dessen. Meine echte Beziehung zum Bildhauer indes ist von gelassener Einfachheit und Freude. Wir treffen uns regelmäßig und machen was. Er bringt mich zum Lachen, und auch ich kann sein dunkles Lachen herausfordern, wir reden über das meiste, was es gibt und uns begeistern praktisch die gleichen Interessensgebiete, anzunehmen ist, dass er auch solche Gedankenburgen belebt, und das sehe ich an seiner Kunst. Zur Zeit ist sie gelb, Zitrone, indisch, Kurkuma, ein bisschen mehr rot, da wird alles angemalt und steht zur Betrachtung herum. Ich lass dann meinen Blick schweifen und finde es schön. Was kümmern mich dann noch Barréakkorde wie F, Gm oder A#.
akrabke | 06. Januar 2018, 12:08 | 0 Kommentare
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Topic: Wiederholungen
Der auch ein Rücklick sein könnte, wenn man sich schon gleich bei der Überschrift verschreibt. Nochmal drüberlecken und dann wech. Was habe ich gewartet auf das Neujahr, um nun doch wieder in einer ähnlichen Schleife zu hängen. Wenigstens waren die Weihnachtstage vorbei, während deren ich mich in die alten Muster stürzte, wollte ich doch das Mütterlein mit Anwesenheit erfreuen. An ihm ging das alles recht spurlos vorüber, es dachte bereits am zweiten Advent oder in der folgenden Woche, dass Weihnachten schon gefeiert ward, und ich sah mich am Heiligen Abend der ökumenischen Andacht lauschen (und ich sah mich am zweiten Weihnachtstag Kalbfleisch essen), von meinem Sitzplatz von hinten auf den Klavierspieler blickend, dessen Fuß zitterte, und der sich so manches Mal verspielte, es aber spielerisch zu umspielen verstand, jawohl. Zu Bethlehem geboren wurde nicht angestimmt, aber Mama kann es bis zur dritten Strophe auswendig und wir sangen es oft gemeinsam. Es hat ganz offiziell die gleiche Melodie wie Die Blümelein, sie schlafen und so ist es auch nicht ganz so peinlich, wenn man es, auch nach Weihnachten, zuhause singt und damit rechnen muss, dass die Nachbarn mithören.
Der Liedtext beschreibt eine ganz und gar kompromisslose Liebe zu dem Jesuskindlein und ich betone Mama gegenüber, wie sehr mir das gefällt. Schon die zweite Strophe In seine Lieb’ versenken / will ich mich ganz hinab; / mein Herz will ich ihm schenken / und alles, was ich hab’, … da kann man jetzt lange reden, wem das gilt, Jesus oder dem Göttlichen an sich oder überhaupt etwas Höherem, dem Höchsten, dem Absoluten. In der fünften Strophe geht es richtig zur Sache: Dich, wahren Gott, ich finde / in unser’m Fleisch und Blut; … Ich hatte diese das erste Mal zu einer Nachtmesse gehört, die ich im Dom der Heimatstadt mit Mama erlebte, damals, und mir stockte das, äh, Blut. Gott sitzt also in meinem Fleisch und Blut! Ist das nicht Ketzerei?
Als Mama noch denken konnte, haben wir speziell darüber oft diskutiert. Mich dünkt, dass die christliche Kirche immer schon versucht hat, Gott von den Menschen fernzuhalten, wir hier unten ganz klein, und Gott dort oben mit voller Macht über allem, ohne Verbindung. Gerade der alttestamentarische Gott spielt sich als gemeiner Richter auf und ist mir gänzlich unsympatisch. Mit großem Eifer hatte ich Mama davon zu überzeugen versucht, dass Gott in unseren Herzen wohnt, in der Philosophie des Yoga wird das noch ganz anders und detaillierter gesagt, aber ich will hier nicht schon wieder –
Also. Mama hat einen Traum: Ich sei nun als Nonne den Johannitern (also ihrer Heimorganisation) beigetreten und sie würde es nicht fassen, dass ich mich für sowas hergebe. In ihrer Stimme klingt Abscheu, so als würde ich bei einem Porno mitmachen. Erstaunt über ihre heftige Reaktion bitte ich um Erklärung, nicht ohne hinzuzufügen, dass Nonne-sein ich tatsächlich auch für mich für möglich halte, eventuell so gegen Lebensende. Das gefällt ihr überhaupt nicht und ihre Mimik dazu ist seltsam entgleist. Sie nimmt das ernst.
Sie nimmt es sehr ernst, sie erkennt die Gefahr, dass ich mich dem Jesuskindlein hingebe, anstatt ihr! Und sie spürt, wie nah ihm bin, immer schon war und nicht ihr!
Wie kann das sein, dass man in einem katholischen Haushalt aufwächst, zu regelmäßigem Gottesverkehrdienst gezwungen wird, mit bigott-doublebind-iger Erziehung konfrontiert, wenn man sich dann wirklich mit richtiger Ehrlichkeit auf die Suche nach dem Absoluten machet – daran gehindert, gar mit Verachtung bestraft wird? Mit wirklicher Ehrlichkeit: Ich fass es nicht! –
Diese Ungeheuerlichkeit hielt mich ein paar Tage beschäftigt. Gerade wieder muss ich an das Märchen Marienkind denken, über das ich hier einmal schrieb. Vielleicht kommen an diesem Punkt viele Lebenslinien zusammen, vieles erklärt sich, das scheinheilige Verhalten (m)einer Mutter, die die einzige wahre Mystikerin der Familie verstößt, zumindest verbal, aber wir wissen ja, dass eine ordentliche Verwünschung auch nicht von schlechten Eltern ist, oder eben doch.
Der Liedtext beschreibt eine ganz und gar kompromisslose Liebe zu dem Jesuskindlein und ich betone Mama gegenüber, wie sehr mir das gefällt. Schon die zweite Strophe In seine Lieb’ versenken / will ich mich ganz hinab; / mein Herz will ich ihm schenken / und alles, was ich hab’, … da kann man jetzt lange reden, wem das gilt, Jesus oder dem Göttlichen an sich oder überhaupt etwas Höherem, dem Höchsten, dem Absoluten. In der fünften Strophe geht es richtig zur Sache: Dich, wahren Gott, ich finde / in unser’m Fleisch und Blut; … Ich hatte diese das erste Mal zu einer Nachtmesse gehört, die ich im Dom der Heimatstadt mit Mama erlebte, damals, und mir stockte das, äh, Blut. Gott sitzt also in meinem Fleisch und Blut! Ist das nicht Ketzerei?
Als Mama noch denken konnte, haben wir speziell darüber oft diskutiert. Mich dünkt, dass die christliche Kirche immer schon versucht hat, Gott von den Menschen fernzuhalten, wir hier unten ganz klein, und Gott dort oben mit voller Macht über allem, ohne Verbindung. Gerade der alttestamentarische Gott spielt sich als gemeiner Richter auf und ist mir gänzlich unsympatisch. Mit großem Eifer hatte ich Mama davon zu überzeugen versucht, dass Gott in unseren Herzen wohnt, in der Philosophie des Yoga wird das noch ganz anders und detaillierter gesagt, aber ich will hier nicht schon wieder –
Also. Mama hat einen Traum: Ich sei nun als Nonne den Johannitern (also ihrer Heimorganisation) beigetreten und sie würde es nicht fassen, dass ich mich für sowas hergebe. In ihrer Stimme klingt Abscheu, so als würde ich bei einem Porno mitmachen. Erstaunt über ihre heftige Reaktion bitte ich um Erklärung, nicht ohne hinzuzufügen, dass Nonne-sein ich tatsächlich auch für mich für möglich halte, eventuell so gegen Lebensende. Das gefällt ihr überhaupt nicht und ihre Mimik dazu ist seltsam entgleist. Sie nimmt das ernst.
Sie nimmt es sehr ernst, sie erkennt die Gefahr, dass ich mich dem Jesuskindlein hingebe, anstatt ihr! Und sie spürt, wie nah ihm bin, immer schon war und nicht ihr!
Wie kann das sein, dass man in einem katholischen Haushalt aufwächst, zu regelmäßigem Gottes
Diese Ungeheuerlichkeit hielt mich ein paar Tage beschäftigt. Gerade wieder muss ich an das Märchen Marienkind denken, über das ich hier einmal schrieb. Vielleicht kommen an diesem Punkt viele Lebenslinien zusammen, vieles erklärt sich, das scheinheilige Verhalten (m)einer Mutter, die die einzige wahre Mystikerin der Familie verstößt, zumindest verbal, aber wir wissen ja, dass eine ordentliche Verwünschung auch nicht von schlechten Eltern ist, oder eben doch.
akrabke | 05. Januar 2018, 10:15 | 0 Kommentare
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Topic: Heim sweet Heim
„Kommt L. auch noch?“ fragt Mama. Welche L., frage ich zur Sicherheit, vielleicht meint sie ja wen anders. Na, du weißt doch! Deine Schwester? Sie lächelt milde, als wäre ich blöd. Meine immer gleiche Antwort nimmt sie gelassen, alle schon gestorben vor langer Zeit (und hoffentlich im Himmel). Niemand mehr da. Ihre Traurigkeit darüber gelangt nicht mal mehr zum Entsetzen und dauert ungefähr fünf Sekunden, dann greift sie zum Dominostein auf dem Keksteller. Alfons setzt sich zu uns an den Kaffeetisch und erzählt aus seinem Leben, Werkzeugmacher und 30 Jahre bei VW mit guter Rente, in der Nähe von Breslau geboren, jetzt 90 Jahre alt und schon zwei Jahre im Heim. Er ist noch gut beieinander und hat hier eine Bekannte gefunden. Als er aber über seine Frau spricht, mit der er 60 Jahre zusammen war, vier Jahre im Demenzheim in der Kleingruppe, zweimal die Woche hat er sie besucht, sie hat ihn nicht mehr erkannt und sagte gemeine Sachen — da füllen sich seine Augen mit Tränen und sein Kinn zittert. Kennen Sie Demenz? Ja, antworte ich, während sich mein Herz zusammenzieht, wir beide nun mit tränenbeschwerten Lidern. Mama bekommt nichts mit und lacht über irgendwas anderes. Sie ist fröhlich und futtert sich durch den Nachmittag. Später finden wir uns spontan mit einigen anderen Angehörigen beim Gartenhäuschen in der Kälte ein und singen Weihnachtslieder. Es ist richtig schön.
Die Puschen, die ich Mama, zurück im Zimmer, überziehen will, erkennt sie nicht mehr als die ihren.
Die Puschen, die ich Mama, zurück im Zimmer, überziehen will, erkennt sie nicht mehr als die ihren.
akrabke | 03. Dezember 2017, 10:10 | 0 Kommentare
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Topic: Familienbande
Sind selten geworden, die schlaflosen Nächte. Nach einer Stunde stehe ich um vier auf und mache mir einen Kaffee. Eigentlich mag ich es nicht, bei dem gleichen künstlichen Licht des Abends den frühen Morgen zu verbringen. Im Sommer wäre es jetzt schon hell. Vielleicht erinnert mich das an etwas, dazu die Kühle der Räume, die es noch nicht erlauben, ohne warme Kleidung tätig zu sein.
Dudi war da und erst jetzt, nach unseren lebhaften Gesprächen, begreife ich das Ausmaß der Verwirrung ihres Sohnes. Er hat sich in ein Leben manövriert, das wir nicht gutheißen, dessen Ausweg sich schlichtweg dramatisch darstellen wird. Wahrscheinlich. Es sei denn, er führte die Wende selbst herbei, aber nach all den aufwendigen* Vorbereitungen auf dieses Leben scheint das (noch) nicht möglich. Er spricht Drohungen aus, wenn du Papa davon erzählst, bin ich weg. Was dieses weg bedeuten könnte, bleibt angedeutet. Dass wir Mitwisserinnen sind, macht die Sacheauch nicht einfach eher noch komplizierter.
Bei der schlaflosen Grübelei (hin- und wieder umgedreht, und nochmal und nochmal) stehen mir die Lebenswege verschiedener geliebter Menschen klar vor Augen. Eine Art Unausweichlichkeit begleitet das Bild – einmal auf die Schiene gesetzt, scheint es keine Weiche zu geben. Natürlich gibt es die, ein Stellen erforderte wohl aber noch mehr von dem Mut, den es benötigt hatte, das Chaos erst anzurichten.
Ich ringe um eine Haltung. Die Frage, ob und was wir hätten anders machen können, führt uns nicht weit. Denn es geht gar nicht um uns (oder unsere Schuld), sondern allein um die jeweilige geliebte Person, die uns bekümmert. Genauso wie wir gern selbstbestimmt leben wollen, so möchten das auch jene; das Mütterlein, der Sohn/Neffe, ferner die Busenfreundin, die Buddhistin. Ist das so gedacht? Dieses selbstgewählte Leben erfahren wollen mit allen Konsequenzen? (Dudi behauptet dann meist, sie hätte ihres nicht selbstgewählt, es sei eine Entscheidung unserer Eltern gewesen. Darauf kann ich nicht eingehen, ohne mich aufzuregen. Auch dies wäre eine Einmischung.)
*Ich suche noch nach einem ähnlichen Wort für das obige aufwendig, denn das folgende Wende klingt mir zu gleich. Das Synonymwörterbuch schlägt mir erstklassig, exquisit, exzellent, feudal, fürstlich, komfortabel, prunkvoll, teuer, überreich, üppig, wertvoll, lukullisch, aufwendig, auserlesen, ausgesucht, luxuriös vor. Das erhellt mir den Morgen. Was, wenn es mir gelänge, das Leben meines Neffen als all dieses zu würdigen? Auserlesen? Auserlesen aus all den möglichen Leben.
Immer noch klarer wird mir, dass ich nicht Schuld bin, Schuld sein kann. (Ich mit meinen ewigen Schuldgefühlen.) Wenn ich endlich akzeptieren könnte, dass jeder sein Leben full on lebt, genauso wie ich es tue/versuche zu tun, bin ich frei von Schuld am Leben/Sterben/Glück/Unglück der anderen. Und wenn ich im letzten Schritt (oder bereits im Voraus) den Begriff Schuld in die weitaus selbstbestimmtere Verantwortung wandele –
es fällt Last von mir.
Dudi war da und erst jetzt, nach unseren lebhaften Gesprächen, begreife ich das Ausmaß der Verwirrung ihres Sohnes. Er hat sich in ein Leben manövriert, das wir nicht gutheißen, dessen Ausweg sich schlichtweg dramatisch darstellen wird. Wahrscheinlich. Es sei denn, er führte die Wende selbst herbei, aber nach all den aufwendigen* Vorbereitungen auf dieses Leben scheint das (noch) nicht möglich. Er spricht Drohungen aus, wenn du Papa davon erzählst, bin ich weg. Was dieses weg bedeuten könnte, bleibt angedeutet. Dass wir Mitwisserinnen sind, macht die Sache
Bei der schlaflosen Grübelei (hin- und wieder umgedreht, und nochmal und nochmal) stehen mir die Lebenswege verschiedener geliebter Menschen klar vor Augen. Eine Art Unausweichlichkeit begleitet das Bild – einmal auf die Schiene gesetzt, scheint es keine Weiche zu geben. Natürlich gibt es die, ein Stellen erforderte wohl aber noch mehr von dem Mut, den es benötigt hatte, das Chaos erst anzurichten.
Ich ringe um eine Haltung. Die Frage, ob und was wir hätten anders machen können, führt uns nicht weit. Denn es geht gar nicht um uns (oder unsere Schuld), sondern allein um die jeweilige geliebte Person, die uns bekümmert. Genauso wie wir gern selbstbestimmt leben wollen, so möchten das auch jene; das Mütterlein, der Sohn/Neffe, ferner die Busenfreundin, die Buddhistin. Ist das so gedacht? Dieses selbstgewählte Leben erfahren wollen mit allen Konsequenzen? (Dudi behauptet dann meist, sie hätte ihres nicht selbstgewählt, es sei eine Entscheidung unserer Eltern gewesen. Darauf kann ich nicht eingehen, ohne mich aufzuregen. Auch dies wäre eine Einmischung.)
*Ich suche noch nach einem ähnlichen Wort für das obige aufwendig, denn das folgende Wende klingt mir zu gleich. Das Synonymwörterbuch schlägt mir erstklassig, exquisit, exzellent, feudal, fürstlich, komfortabel, prunkvoll, teuer, überreich, üppig, wertvoll, lukullisch, aufwendig, auserlesen, ausgesucht, luxuriös vor. Das erhellt mir den Morgen. Was, wenn es mir gelänge, das Leben meines Neffen als all dieses zu würdigen? Auserlesen? Auserlesen aus all den möglichen Leben.
Immer noch klarer wird mir, dass ich nicht Schuld bin, Schuld sein kann. (Ich mit meinen ewigen Schuldgefühlen.) Wenn ich endlich akzeptieren könnte, dass jeder sein Leben full on lebt, genauso wie ich es tue/versuche zu tun, bin ich frei von Schuld am Leben/Sterben/Glück/Unglück der anderen. Und wenn ich im letzten Schritt (oder bereits im Voraus) den Begriff Schuld in die weitaus selbstbestimmtere Verantwortung wandele –
es fällt Last von mir.
akrabke | 14. November 2017, 06:48 | 0 Kommentare
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Topic: Familienbande
Könnte man auch Vereinfachungen nennen. Die Wiederholungen. Durch einen festen Wochenplan sich arbeiten, um dann –
Zweimal die Woche Besuch bei dem Mütterlein, das auch durch wiederholtes Zu- und Einreden nichts mehr von der Mutterschaft weiß. Kusine U hat mir das Fotoalbum meiner Tante Ch, Mamas ältester Schwester, überlassen, jene schon seit dreißig tot, der Mann dazu, Onkel H, möglicherweise seit 20 Jahren oder so. Mein Lieblingsbild dieses Albums zeigt Mama mit ihrer Schwester vor einem Gebüsch stehend, lachend, Mama beinahe prustend, mit einem seltsamen Kleidungsstück, dessen Muster mir sehr vertraut ist, ähnlich dem der kleinen Küchengardine im Elternhaus, das den Jalusienkasten verdeckte. Vielleicht habe ich beim Versteckspielen im Kleiderschrank gehockt und es wartend studieren können. Mama wirkt sehr jung, vielleicht war ich noch gar nicht geboren, und sie hat das kasakartige Teil lange aufbewart. Obwohl sowieso nicht übermäßig groß, ragt sie einen halben Kopf über den von Ch.
In diesen Zeitgefilden mag die Mutter stecken. Natürlich kann ich ihr dorthin nicht folgen, sie lebt ein Leben, in dem es mich nicht gibt. Sie versteht wohl nicht, dass ich so viel später geboren bin und ihr aus meiner Erinnerung nicht mehr antworten kann, nur aus ihren Erzählungen. Und so entfernt sie sich von mir. Längst bin ich nicht mehr so ängstlich, was ihr Wohlbefinden betrifft. Vor zwei Besuchen berichtet sie, wie sehr sie geweint hätte. Weil doch Weihnachten sei und niemand mehr käme. Ob ich nicht bemerkt hätte, wie verheult ihr Gesicht ausgesehen habe. Nein, ja, wir weinen alle, manchmal.
Die Fotos mit den falschen Erinnerungen bringen zurück, mit welcher Wut mein Neffe reagiert hatte: Und wo war ich da? Wir Schwestern selbst noch Kinder, im Garten spielend, oder vor Rosen posierend. Es gelingt mir nicht, sein Gefühl des Ausgeschlossenseins zu zerstreuen (ich glaube, ich schrieb davon schon einmal). Wo war ich vorher? Wo komme ich her?
Fragt das Kind wieder und wieder.
Solches versuche ich seit meinem Abschied von spirituellen Lehrern allein zu erforschen. Das gute Dutzend an Jahren, die ich mit dem Studium der Schriften und der Übung verbracht habe, soll mir dabei nicht wertlos sein. Ich kenne Begriffe des Körpers und des Geistes, Merkmale dieses oder jenes Zustandes. Ich weiß seit jeher, dass es sie gibt, früher namenlos. Zusammenfassend möchte ich gern behaupten, gern ausrufend es jemand an den Kopf werfen, dass man einen Berg auch besteigen kann, ohne seine Etappen, Vorsprünge und Aussichten namentlich zu kennen, man geht einfach diesen oder jeden Weg. Ihn gehen, dabei schlichtweg (von) Sachen wissen, das ist alles, was es braucht.
Zweimal die Woche Besuch bei dem Mütterlein, das auch durch wiederholtes Zu- und Einreden nichts mehr von der Mutterschaft weiß. Kusine U hat mir das Fotoalbum meiner Tante Ch, Mamas ältester Schwester, überlassen, jene schon seit dreißig tot, der Mann dazu, Onkel H, möglicherweise seit 20 Jahren oder so. Mein Lieblingsbild dieses Albums zeigt Mama mit ihrer Schwester vor einem Gebüsch stehend, lachend, Mama beinahe prustend, mit einem seltsamen Kleidungsstück, dessen Muster mir sehr vertraut ist, ähnlich dem der kleinen Küchengardine im Elternhaus, das den Jalusienkasten verdeckte. Vielleicht habe ich beim Versteckspielen im Kleiderschrank gehockt und es wartend studieren können. Mama wirkt sehr jung, vielleicht war ich noch gar nicht geboren, und sie hat das kasakartige Teil lange aufbewart. Obwohl sowieso nicht übermäßig groß, ragt sie einen halben Kopf über den von Ch.
In diesen Zeitgefilden mag die Mutter stecken. Natürlich kann ich ihr dorthin nicht folgen, sie lebt ein Leben, in dem es mich nicht gibt. Sie versteht wohl nicht, dass ich so viel später geboren bin und ihr aus meiner Erinnerung nicht mehr antworten kann, nur aus ihren Erzählungen. Und so entfernt sie sich von mir. Längst bin ich nicht mehr so ängstlich, was ihr Wohlbefinden betrifft. Vor zwei Besuchen berichtet sie, wie sehr sie geweint hätte. Weil doch Weihnachten sei und niemand mehr käme. Ob ich nicht bemerkt hätte, wie verheult ihr Gesicht ausgesehen habe. Nein, ja, wir weinen alle, manchmal.
Die Fotos mit den falschen Erinnerungen bringen zurück, mit welcher Wut mein Neffe reagiert hatte: Und wo war ich da? Wir Schwestern selbst noch Kinder, im Garten spielend, oder vor Rosen posierend. Es gelingt mir nicht, sein Gefühl des Ausgeschlossenseins zu zerstreuen (ich glaube, ich schrieb davon schon einmal). Wo war ich vorher? Wo komme ich her?
Fragt das Kind wieder und wieder.
Solches versuche ich seit meinem Abschied von spirituellen Lehrern allein zu erforschen. Das gute Dutzend an Jahren, die ich mit dem Studium der Schriften und der Übung verbracht habe, soll mir dabei nicht wertlos sein. Ich kenne Begriffe des Körpers und des Geistes, Merkmale dieses oder jenes Zustandes. Ich weiß seit jeher, dass es sie gibt, früher namenlos. Zusammenfassend möchte ich gern behaupten, gern ausrufend es jemand an den Kopf werfen, dass man einen Berg auch besteigen kann, ohne seine Etappen, Vorsprünge und Aussichten namentlich zu kennen, man geht einfach diesen oder jeden Weg. Ihn gehen, dabei schlichtweg (von) Sachen wissen, das ist alles, was es braucht.
akrabke | 08. November 2017, 10:51 | 0 Kommentare
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Topic: Familienbande
Klaubt ein kleines rostiges Eisenteil vom Wegesrand und drängt es mir auf. Neben dem auseinandergebrochenen Wacholderstrauch mit dem Findling davor eines der letzten authentischen Objekte auf dem Hof, behauptet er. Dem Hof meiner Vorfahren in St.. Der Bildhauer begeleitet mich auf dem Weg in meine Familiengeschichte. Auf dem, wie ich nachlese, 110 ha (früher 250 ha) großen Gelände befindet sich nun ein Gestüt. Das Haupthaus wurde im Jahre 2002 komplett saniert, das alte offensichtlich abgerissen und genauso nachgebaut – ein langes Fachwerkhaus mit Querhaus am Ende. Sogar das Fundament aus Sandstein könnte neu sein, er ist hell und die Kanten der Quader kein bisschen gerundet. Über dem Haupttor der Balken mit der Inschrift, den Namen meiner Vorfahren, Jahreszahl und ein christlicher Spruch darunter. Auch der Balken ist neu, nur an den Enden erkennt man noch ein Stück angesetztes, verrottetes rauhes Eichenholz mit Eichenlaubschnitzerei. Der jetzige Inhaber muss ein Vermögen in den Neubau gesteckt haben! Niemand ist auf dem Gelände, irgendwann aber kommen nacheinander eine junge Frau und ein älterer, bäuerlich aussehender Mann mit ihren Autos zurück, ich stelle mich vor als eine späte Nachfahrin der Sch. und ob wir ein wenig herumspazieren dürften. Man lächelt und gibt uns Erlaubnis. Alle anderen seien auf Turnieren unterwegs, es wäre niemand zu Hause. Ich hatte schon scheu geklingelt.
Es ist eine seltsame Reise. Zwei Tage zuvor waren wir bei Kusine H. am Dümmersee zu Gast. Wir kennen uns nicht. Und wir sind neugierig aufeinander. Sie ist knapp 70 und wir entdecken jede Menge Gemeinsamkeiten in unseren Lebensentwürfen. Sogar mein lieber Bildhauer kann mitreden, hat H. doch auch Kunst studiert, zumindest in Beuys’ Nähe. Den Fotokoffer habe ich dabei und sie erzählt mir, während wir Bilder betrachten, von unseren Urgroßeltern und den Tanten, die Geschwister ihrer Großmutter und meines Großvaters, also eigentlich unsere Großtanten, zu neunt waren sie. Noch immer kann ich die Tanten nicht richtig auseinanderhalten. Anna, H.s Großmutter, erkenne ich mittlerweile an der besonders breiten Nase, die nächste hat ein schmales Gesicht und dunkle Augenringe und vielleicht mir am ähnlichsten, eine andere meist mit freundlich-breitem Lächeln, und jene Zurückhaltende, Hübsche, Vornehme, die seltener auf den Bildern zu finden ist. Und immer im Zentrum Urgroßmutter Henriette, mit straffem Mittelscheitel und eines der Kinder nah bei sich. Die Männer sind leichter zu erkennen, mein Großvater August, sein dicker Bruder und ganz selten dabei der Onkel, der nach Südamerika ausgewandert ist. Der Grund seiner Auswanderung, ein mögliches Zerwürfnis mit meinem Opa (der in der Partei), wie ich es mir ausgemalt hatte, war ein anderer: Er wollte mit seiner jüdischen Frau fort in eine bessere Zukunft. 1938 war das.
Wie H. mir, beinahe hinter vorgehaltener Hand, berichten konnte, hatte mein Opa, der zweitälteste der neun Geschwister, allerdings Anteil daran, was ich H. als ein Gefühl des Abgeschnittenseins von den Aktivitäten der Tanten bzw. dem Rest der Familie, beschrieb: Er lieh sich von einer der Schwestern 30.000 RM und zahlte sie nie zurück! Grund genug, von der Sippe ausgeschlossen zu werden. Die Nachfahren meines Opas August waren sich in der Folge genausowenig grün. (Und hier komme ich ins Spiel: Ich beabsichtige, so viele der Familienangehörigen wie möglich aufzusuchen, wenigstens zu kontaktieren, und mir ihre Geschichten anzuhören.) Eine andere Sachlage ist das vermehrte Auftreten von Homosexualität in unserer Familie, so etwa drückt H. das vorsichtig aus. Eine Freude überkommt mich. Ich versuche zu erklären, dass (fast) mein halber Freundeskreis aus lesbischen Pärchen besteht, und daher eine gewisse Affinität ähm, bei mir. Wir beleuchten die These, dass mein Onkel H. mit dem berühmten Sänger Freddy Q. nicht nur befreundet war, sondern richtig ‚befreundet’. H. ruft sogar einen ihrer Cousins an, um den Wahrheitsgehalt zu überprüfen, und H. wäre auch forsch genug, Freddy selbst anzurufen, um nachzufragen. Immerhin lebt er noch, wie wir mit einem schnellen Blick ins Interweb feststellen. Ich fühl mich mittendrin. Als wären wir eine große Familie. Wir sind ja auch eine große Familie. Es ist fast so als seien die Tanten auch dabei und sitzen mit uns über Apfeltarte mit Schuss und Chai nach einem tibetischen Originalrezept. H. zeigt noch Fotos von einem tibetisch-indianischen Powow in Kanada, an dem sie teilgenommen hat. Haben sich doch beide Stämme der gemeinsamen Wurzeln erinnert und das Widersehen zelebriert. Wiedersehen überall.
Irgendwann müssen wir aber los. Mein armer Bildhauer, der natürlich schon längst den Überblick über meine Verwandtschaft verloren hat, wird müde, und ich auch. Wir machen uns auf den Weg nach OS zu seiner Schwester. Ein wundervoller Sonnenuntergang begleitet unseren Weg durch gemeinsames Heimatland.
Auf der Rückfahrt Richtung St. (und dem alten Gut) kommen wir über D., wo die Tanten aufgewachsen sind und lange gewohnt haben. Die Tochter des dicken Onkels wohnt immer noch dort, ich habe ihre Telefonnummer dabei, aber ich rufe sie nicht an. Eine Ortskundige, die wir ansprechen, weiß noch über den dicken Onkel zu berichten, der besaß eine Kneipe und wenn der die Teufelsgeige herauskramte, gab es kein Halten mehr. Das Haus steht auch noch, aber es ist aufs Schlimmste renoviert, die Fensterbögen sind zugemauert, das große Wagentor zwei Fenstern gewichen, die früher ausladende Treppe nur noch ein blödes Stufendings, und überall weiße Kacheln! Die Ortskundige ermuntert mich, nebenan im Architekturbüro zu klingeln, dort arbeitet eine der Archivarinnen des Ortes. Als ich klingele und meinen Namen ausspreche, geht sofort der Summer und wir werden freundlichst empfangen. Dass mein Name in einer mir völlig fremden Stadt noch Türen öffnet, ist mir ein großer Schatz!
Daheim wühle ich wieder durch die Fotos und versuche sie zu ordnen. Mit einigen davon möchte ich ein halbwegs aussagekräftiges Album zusammenstellen. Vielleicht nehme ich auch H.s Bilder von der CD dazu und mache eine digitale Version. Die kleine (meine) Mutter indes erinnert sich nicht mehr an Ehe oder Kinderaufzucht. Das gehörte ja sowieso nie richtig zu ihr, sagt sie. Das Angeheiratetsein meint sie bestimmt. Sei’s drum. Ich träume, dass ich meinen Cousin J. in der Firma besuche, die Pförtnerin findet ihn nicht an seinem Platz und der Bildhauer und ich laufen durch ein lichtvolles Firmengebäude im Bauhaus-Stil mit kunstvollen dreifachen Baumsilhouetten-Spiegelungen, um ihn zu suchen.
akrabke | 01. Oktober 2017, 13:21 | 0 Kommentare
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Topic: Liebes Tagebuch
Air Berlin ist pleite und meine Tickets nach Indien verfallen ersatzlos. Swami versucht mich zu überreden, neue Buchungen zu machen, z. B. mit Swiss Air oder über Moskau. Meine Güte. Ich hab’s satt zu reisen, ehrlich. Was finde ich dort, das es hier nicht gibt? Die Argumente, die Swami für die Reise vorbringt, gefallen mir nur zum Teil nicht. Vielleicht ist es auch die Art, wie er sie mir vermitteln will, die mich endgülig abschreckt. Meine Entscheidung, auf die Reise zu verzichten, fällt in wenigen Augenblicken, ohne den geringsten Zweifel und so will ich sie auch lassen. Als ein Zeichen, nicht zu fahren. Ob man denn überhaupt fähig sei, Zeichen richtig zu deuten, fällt Swami mir auch dazu ins Wort. Tja, wenn ich so daran ginge, könnte ich gleich alles in Zweifel ziehen. Was ich auch tue.
Ein Abschied, oder? Mit aller gebührenden Trauer während des ernüchternden Rückblicks auf die letzten 13 Jahre. Eine andere Art von Zweifel befällt mich – an Swamis Vorbildfunktion, an der Wissbegier, die auch nur eine Art von Gier ist, ein Zweifel am spirituellen Ziel, das im Licht der Ewigkeit albern erscheint. Meditationstechniken? Braucht es wirklich eine Technik, um sich mit dem Absoluten eins zu fühlen? Ob mein natürliches Drängen nach Wahrheit unter all dem theoretischen Wissen und den Techniken verloren ging? Ich fürchte wohl.
Ein Abschied, oder? Mit aller gebührenden Trauer während des ernüchternden Rückblicks auf die letzten 13 Jahre. Eine andere Art von Zweifel befällt mich – an Swamis Vorbildfunktion, an der Wissbegier, die auch nur eine Art von Gier ist, ein Zweifel am spirituellen Ziel, das im Licht der Ewigkeit albern erscheint. Meditationstechniken? Braucht es wirklich eine Technik, um sich mit dem Absoluten eins zu fühlen? Ob mein natürliches Drängen nach Wahrheit unter all dem theoretischen Wissen und den Techniken verloren ging? Ich fürchte wohl.
akrabke | 21. September 2017, 11:03 | 0 Kommentare
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Topic: Familienbande
Ich vertreibe mir die Zeit mit der Herstellung diverser Sirup-Sorten, heute gibt es welchen von der Holunderbeere. Außerdem vertreibe ich mir die Zeit mit Ahnenrecherche. Eine Frau mit meinem Nachnamen hatte ich schon 2010 über fb angeschrieben und jetzt meldet sie sich, ob es for real wäre. Wir beide sind gleich erfreut, als wir Dank alter Unterlagen (u. a. in den Papieren meines Vaters) herausfinden, dass wir die gleichen Urgroßeltern haben. Ihr Opa ist 1938 nach Venezuela ausgewandert und seine Nachfahren bestehen aus vier Kindern mit ein paar wenigen Enkeln. Jene Kusine wohnt heute in Equador. Mein Vater hatte es uns vor Jahren schon erzählen wollen – seine Vorfahren besaßen einen Hof in Westfalen, der bereits im Jahr 1147 beschrieben wurde und über 800 Jahre im Besitz der Familie Sch. gewesen war, bis er in den Kriegsjahren mangels rechter Bewirtschaftung verkauft werden musste. In späteren Jahrzehnten wurde dort Geflügelwurst hergestellt und nun befindet sich am selben Ort ein Gestüt.
Die Stengel der Holunderbeeren sehen aus wie rote Adern, die jemand aus Körpern herausgezogen und zum Trocknen aufgehängt hat. Oder wie Zweige von Stammbäumen. Der Chronist der Sch.’schen Ahnen hatte mit bestem Wissen und Gewissen noch 1940 von Blut und Boden geschrieben, dem er sich eher zugehörig fühlt als seine Vettern, die als Stadtmenschen kaum mehr an der Scholle hingen. Ein anderer entfernter Vetter, heute 70-jährig, hat den Stammbaum in den letzten zehn Jahren weitergeführt, digital erfasst und auf seiner Website zugänglich gemacht. 22.858 Personen in 8.625 Familien. Natürlich ist mein Familienname dabei und ich bitte Herrn Sch. per Mail, noch ein paar Daten meiner Familie hinzuzufügen. Auch von meiner Mutter finde ich Abschriften von Heiratsurkunden ihrer Vorfahren, die als Abstammungsnachweis in den 40ern angefertigt wurden, und nun kenne ich auch die Namen der Ur- und Urgroßeltern der mütterlichen Linie.
Ahnenverehrung gibt es auf der Welt anscheinend bei allen Völkern, nur nicht bei uns. Wen sollte man auch verehren können, über den nicht geredet wurde oder der selbst nichts mehr erzählt hat, weil er unter schauerlichen Kriegserlebnissen verstummt war oder anderes zu verbergen hatte, vielleicht als Täter oder Mitwisser. Dass mein Opa in der Partei war, sieht man auf Fotos am stolz präsentierten Abzeichen am Revers. Und Mama konnte sich an Onkel H. (den Venezulaner, es war der Onkel meines Vaters, sie ist ihm nie begegnet) nur in sofern erinnern, dass nicht über ihn gesprochen wurde. Was es bedeutet, wenn sich 1938 jemand vom Acker macht, könnte man sich denken. Ich hoffe, dass meine Kusine mir mehr dazu erzählen wird. Die Großelterngeneration bestand aus neun Geschwistern, drei Männer und sechs Frauen, einige ledig, andere verheiratet und deshalb fremden Namens. Auch ihre Gesichter erkenne ich nun auf den vergilbten Fotos wieder.
Jede/r meiner Ahnen hatte ein Leben, sei es glücklich gelebt oder vertan. Mein eigenes verliert durch meine Nachforschungen und Erkenntnisse an Wichtigkeit, trotzdem aber stellt es mich vor alle anderen 22.858, weil ich derzeit am Leben bin. Ich werde das Beste draus machen.
Nachtrag: Seltsamerweise existieren von meiner Großmutter väterlicherseits kaum Familiendaten. Ich habe sie natürlich noch kennengelernt, immerhin wohnten wir über 20 Jahre mit ihr nicht besonders glücklich zusammen im Eineinhalbfamilienhaus. Ich mochte sie nicht besonders, und ich habe sie kaum je etwas Persönliches gefragt. Sie war die zweite Frau meines Großvaters, und zuerst als Kinderfrau für seine vier halbwaisen Kinder eingestellt. Praktischerweise heirateten sie später und zeugten meinen Vater. Gestern fiel mir ein kleines Gebetbuch in die Hand, ein Andenken an Omas erste hl. Kommunion, ihr Name ist eingedruckt. Im Büchlein liegen zwei Sterbekarten. Solche Karten wurden wohl anlässlich der Beerdigung unter den Trauernden verteilt. Es gibt vorn ein Heiligenbild und auf der Rückseite einen Sinnspruch, gefolgt vom Namen der/s Verstorbenen und die Geburts- und Sterbedaten. Auf jeden Fall hatten beide Personen einen christlich-frommen Lebenswandel geführt und waren durch die hl. Sterbesakramente wohl gestärkt. Es handelt sich bei den Toten um ihren Vater und ihre Großmutter, nach deren Namen ich vergeblich gesucht hatte. Ich weiß, dass meine Oma bei ihren Großeltern aufwuchs, die näheren Gründe kenne ich auch hier nicht. Vielleicht war die Mutter früh gestorben und der Vater hatte sie zu den Großeltern gegeben. Mir scheint, die Familie ist durchzogen von früh gestorbenen Erstfrauen mit gemeinsamen Kindern, von Zweitehen mit weiteren Kindern. Auch der venezuelanische Onkel H. wies diese Konstellation auf.
Die Stengel der Holunderbeeren sehen aus wie rote Adern, die jemand aus Körpern herausgezogen und zum Trocknen aufgehängt hat. Oder wie Zweige von Stammbäumen. Der Chronist der Sch.’schen Ahnen hatte mit bestem Wissen und Gewissen noch 1940 von Blut und Boden geschrieben, dem er sich eher zugehörig fühlt als seine Vettern, die als Stadtmenschen kaum mehr an der Scholle hingen. Ein anderer entfernter Vetter, heute 70-jährig, hat den Stammbaum in den letzten zehn Jahren weitergeführt, digital erfasst und auf seiner Website zugänglich gemacht. 22.858 Personen in 8.625 Familien. Natürlich ist mein Familienname dabei und ich bitte Herrn Sch. per Mail, noch ein paar Daten meiner Familie hinzuzufügen. Auch von meiner Mutter finde ich Abschriften von Heiratsurkunden ihrer Vorfahren, die als Abstammungsnachweis in den 40ern angefertigt wurden, und nun kenne ich auch die Namen der Ur- und Urgroßeltern der mütterlichen Linie.
Ahnenverehrung gibt es auf der Welt anscheinend bei allen Völkern, nur nicht bei uns. Wen sollte man auch verehren können, über den nicht geredet wurde oder der selbst nichts mehr erzählt hat, weil er unter schauerlichen Kriegserlebnissen verstummt war oder anderes zu verbergen hatte, vielleicht als Täter oder Mitwisser. Dass mein Opa in der Partei war, sieht man auf Fotos am stolz präsentierten Abzeichen am Revers. Und Mama konnte sich an Onkel H. (den Venezulaner, es war der Onkel meines Vaters, sie ist ihm nie begegnet) nur in sofern erinnern, dass nicht über ihn gesprochen wurde. Was es bedeutet, wenn sich 1938 jemand vom Acker macht, könnte man sich denken. Ich hoffe, dass meine Kusine mir mehr dazu erzählen wird. Die Großelterngeneration bestand aus neun Geschwistern, drei Männer und sechs Frauen, einige ledig, andere verheiratet und deshalb fremden Namens. Auch ihre Gesichter erkenne ich nun auf den vergilbten Fotos wieder.
Jede/r meiner Ahnen hatte ein Leben, sei es glücklich gelebt oder vertan. Mein eigenes verliert durch meine Nachforschungen und Erkenntnisse an Wichtigkeit, trotzdem aber stellt es mich vor alle anderen 22.858, weil ich derzeit am Leben bin. Ich werde das Beste draus machen.
Nachtrag: Seltsamerweise existieren von meiner Großmutter väterlicherseits kaum Familiendaten. Ich habe sie natürlich noch kennengelernt, immerhin wohnten wir über 20 Jahre mit ihr nicht besonders glücklich zusammen im Eineinhalbfamilienhaus. Ich mochte sie nicht besonders, und ich habe sie kaum je etwas Persönliches gefragt. Sie war die zweite Frau meines Großvaters, und zuerst als Kinderfrau für seine vier halbwaisen Kinder eingestellt. Praktischerweise heirateten sie später und zeugten meinen Vater. Gestern fiel mir ein kleines Gebetbuch in die Hand, ein Andenken an Omas erste hl. Kommunion, ihr Name ist eingedruckt. Im Büchlein liegen zwei Sterbekarten. Solche Karten wurden wohl anlässlich der Beerdigung unter den Trauernden verteilt. Es gibt vorn ein Heiligenbild und auf der Rückseite einen Sinnspruch, gefolgt vom Namen der/s Verstorbenen und die Geburts- und Sterbedaten. Auf jeden Fall hatten beide Personen einen christlich-frommen Lebenswandel geführt und waren durch die hl. Sterbesakramente wohl gestärkt. Es handelt sich bei den Toten um ihren Vater und ihre Großmutter, nach deren Namen ich vergeblich gesucht hatte. Ich weiß, dass meine Oma bei ihren Großeltern aufwuchs, die näheren Gründe kenne ich auch hier nicht. Vielleicht war die Mutter früh gestorben und der Vater hatte sie zu den Großeltern gegeben. Mir scheint, die Familie ist durchzogen von früh gestorbenen Erstfrauen mit gemeinsamen Kindern, von Zweitehen mit weiteren Kindern. Auch der venezuelanische Onkel H. wies diese Konstellation auf.
Topic: oh Jugend
Na, hast du dir Fotos angesehen, frage ich, als ich das Album auf dem Tisch liegen sehe. Ja, antwortet sie mit kleiner Stimme, und meiner Nachfrage, ob es ihr gefallen habe, stimmt sie zu, ja, und sie habe jetzt auch herausgefunden, wer ich denn sei, nämlich die kleine Niedliche, die immer so süß aussah und die Nachbarskinder wären vorbeigekommen und hätten mit mir gespielt. Kein Name, kein weiteres Attribut –
Das Rote Album, Bilder aus den späten 60ern. Nochmal das Hin- und Her, wer Mutter, wer Tochter, wer überhaupt wer. Bilder von ihr hätte sie nicht gesehen, nein. Ich erinnere mich, dass unser Vater uns Schwestern für eine Gartenserie vor Teich, Rose und Beet drapiert hatte, so wie Objekte, in Badeanzügen in dunkel- und hellblau, die den Garten verschönern, und dann knips –
Die Mutter ist sehr still und wir gehen am besten raus, einmal um die große Wiese rolle ich sie, wir sehen das Storchenpaar ganz nah und ich trage den Rest des Tages eine diffuse Traurigkeit in mir. Ich weiß ja, dass sie mich für verschiedene Menschen hält, neulich sogar für ihren kleinen Bruder (wieso siehst du eigentlich aus wie ein Junge), wir hatten auf dem Sommerfest im Pflegeheim ein bisschen getanzt, dazu hatte sie die Betreuerin beispielhaft aus dem Rollstuhl ins Stehen gewuppt, ich hab’s nachgemacht und hatte die kleine Mutter im Arm, einfach ein bisschen mit dem Po wackeln, rate ich, wo doch die Beine nicht mehr, ja sagt sie das Rechte und so weiter, es ist ein bittersüßer Tanz zu Hammondorgelschlagern, die sie alle auswendig kann, dieses ganze Bittersüße will nicht aufhören, ich frage mich, wie lange sie das noch macht, morgen gehen Dudi und ich zum Notar, um das Elternhaus zu verkaufen, und Dudi weint ins Telefon, ob nicht ihr Sohn vielleicht drogenabhängig sei, sie mache sich Sorgen, aber eigentlich sind es Selbstvorwürfe, sie hätte so vieles falsch gemacht, meine Güte, wer soll diese Menschen bloß trösten –
Und die Busenfreundin springt von Thema zu Thema, sie stellt langwierig ausformulierte Fragen, in denen eine mögliche Antwort schon mitschwingt und hört dann meiner schon nicht mehr zu. Und die Bestefreundin verrennt sich in ihrem Vegansein, die nachgemachte Chorizo aus Gluten liegt genauso schwer im Magen wie ihre Filmrecherche über den nahenden Weltuntergang per Polsprung, ich glaube, die Welt ist auch ohne den schon nah am Untergang, völlig selbstgemacht, während ich darauf hoffe, dass mich das Geld aus dem Hausverkauf durch die nächsten fünf bis zehn Jahre bringt, ach, das ist alles so verdammt zukunftszentriert und angstbesetzt, das bin ich doch gar nicht –
Das Rote Album, Bilder aus den späten 60ern. Nochmal das Hin- und Her, wer Mutter, wer Tochter, wer überhaupt wer. Bilder von ihr hätte sie nicht gesehen, nein. Ich erinnere mich, dass unser Vater uns Schwestern für eine Gartenserie vor Teich, Rose und Beet drapiert hatte, so wie Objekte, in Badeanzügen in dunkel- und hellblau, die den Garten verschönern, und dann knips –
Die Mutter ist sehr still und wir gehen am besten raus, einmal um die große Wiese rolle ich sie, wir sehen das Storchenpaar ganz nah und ich trage den Rest des Tages eine diffuse Traurigkeit in mir. Ich weiß ja, dass sie mich für verschiedene Menschen hält, neulich sogar für ihren kleinen Bruder (wieso siehst du eigentlich aus wie ein Junge), wir hatten auf dem Sommerfest im Pflegeheim ein bisschen getanzt, dazu hatte sie die Betreuerin beispielhaft aus dem Rollstuhl ins Stehen gewuppt, ich hab’s nachgemacht und hatte die kleine Mutter im Arm, einfach ein bisschen mit dem Po wackeln, rate ich, wo doch die Beine nicht mehr, ja sagt sie das Rechte und so weiter, es ist ein bittersüßer Tanz zu Hammondorgelschlagern, die sie alle auswendig kann, dieses ganze Bittersüße will nicht aufhören, ich frage mich, wie lange sie das noch macht, morgen gehen Dudi und ich zum Notar, um das Elternhaus zu verkaufen, und Dudi weint ins Telefon, ob nicht ihr Sohn vielleicht drogenabhängig sei, sie mache sich Sorgen, aber eigentlich sind es Selbstvorwürfe, sie hätte so vieles falsch gemacht, meine Güte, wer soll diese Menschen bloß trösten –
Und die Busenfreundin springt von Thema zu Thema, sie stellt langwierig ausformulierte Fragen, in denen eine mögliche Antwort schon mitschwingt und hört dann meiner schon nicht mehr zu. Und die Bestefreundin verrennt sich in ihrem Vegansein, die nachgemachte Chorizo aus Gluten liegt genauso schwer im Magen wie ihre Filmrecherche über den nahenden Weltuntergang per Polsprung, ich glaube, die Welt ist auch ohne den schon nah am Untergang, völlig selbstgemacht, während ich darauf hoffe, dass mich das Geld aus dem Hausverkauf durch die nächsten fünf bis zehn Jahre bringt, ach, das ist alles so verdammt zukunftszentriert und angstbesetzt, das bin ich doch gar nicht –
akrabke | 20. Juli 2017, 15:07 | 0 Kommentare
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