Dienstag, 13. August 2013
1984 von George Orwell ist eines der Bücher bzw. Filme, die mich am meisten deprimieren. Das Buch hatte ich erstmals in meiner Teenagerzeit gelesen und es ging mir schrecklich nah. Wahrscheinlich hatte ich es nicht mal richtig verstanden, denn ich steckte immer noch zu sehr in meinen kindlichen Bücherwelten, um zu verstehen, wie politisch der Roman ist, wie aktuell – und auf eine sonderbare Art philosophisch, wie ich nun wieder entdecken konnte, als der Film letzte Woche im TV gezeigt wurde. Er ist nicht ganz so ausführlich wie das Buch, die Liebe zwischen Winston und Julia wirkt auf mich nicht ganz so tief, die gehirnwaschenden Folterungen nicht ganz so brutal und zerstörend wie in meiner Erinnerung des Buches, die ich lange mit mir herumgetragen hatte.

Senate House der University of London, Vorlage für das "Ministry of Love"

Das verdrehte Konzept der "Liebe" dort irritierte mich zutiefst und ich hatte keine Ahnung, was Macht bedeutet und warum ein Machthaber andere Menschen täuschen und manipulieren wollen sollten. Mein reines Herz hatte nicht damit gerechnet, auf etwas zu stoßen, das seiner Reinheit so sehr entgegengesetzt ist. Erschütterung ist ein zu kleines Wort für das, was ich empfunden haben mag.

Mittlerweile habe ich die Menschen näher kennengelernt. Gern behaupte ich gegenüber der Busenfreundin, wenn sie mir etwas sehr Geheimes oder gar Schreckliches mitzuteilen hat, dasss mir nichts Menschliches fern sei, nur zu, ermutige ich sie, mir Einblicke in ihre dunkelsten Bereiche zu geben. Meistens sind sie harmlos und insgeheim belächele ich sie. Aber auch ich habe, zumindest in diesem Leben, nichts Schlimmeres erfahren als einen schlagenden, wütenden Vater und eine hilflose Mutter. Später in Kambodscha, im Genozid-Museum Tuol-Sleng in Phnom Penh, sah ich 30 Jahre alte Blutspritzer von Gefolterten an Wänden und Decken (was genau passiert war, damit Blutmengen so hoch oben landen, kann man nur erahnen), Fotos der Hingerichteten, Zeichnungen der Foltermethoden, winzige Gefangenen-Zellen und auf den Killing Fields menschliche Knochen- und Kleidungsreste, die aus dem Boden ragten, mit dem Boden verwachsen waren, über den ich eher wankte als ging und mich gruselte. Dies war echter als echt, das war das Schockierende daran.

Gegenüber all dem führe ich ein äußerst harmloses Leben. Die Auseinandersetzung mit dem Yoga aber und das tiefe Eintauchen seine Philosphie haben mich gelehrt, das Wesen des menschlichen Geistes, seine Wünsche, seine Sehnsüchte, aber auch seine Ignoranz kennenzulernen, indem ich mich selbst als Objekt in den Mittelpunkt meiner (meditativen) Betrachtungen stelle. Was da an Dunkelheit auf mich wartet, ist erschreckend genug – letztlich ist alles Böse der Welt in jeder Person enthalten, ob man's nun toll findet oder nicht.

Während der Yoga beschreibt, wie der menschliche Geist und die Persönlichkeit beschaffen sind, weist er gleichzeitig einen Weg beide zu kontrollieren. – In 1948 kontrolliert O'Brian Winstons Geist und zerstört ihn durch manipulative Lüge, die zu durchschauen Winston am Ende nicht mehr fähig ist. Julia und Winston, die ihre Liebe noch als unzerstörbar beschwört haben, beide werden sie in der Folter verraten (müssen). Grandios, wie George Orwell selbst die größten geistigen Errungenschaften des Menschseins – Liebe, Hingabe, Mitgefühl, Freiheit – durch O'Brian verdrehen und am Ende den Großen Bruder Besitz ergreifen und gewinnen lässt und das in einer von jämmerlicher Armut und Hässlichkeit durchtränkten Szenerie, in der etwas Schönes und Liebes niemals entstehen könnte.

Im Film noch eindrucksvoller als im Buch, weil hörbar und nicht abschaltbar, das ständige Beschalltwerden mit Propaganda. Welche in der Werbepause ungehemmt weiter dudelt, so kommt es mir vor, zwar nicht mit politischen, aber dafür mit kommerziellen Slogans, die genau den gleichen Zwang ausüben auf mich, die ich hier sitze und kaum aus der bösen Welt von 1984 herauszukommen vermag.

Ein angsterregender Roman durch seine überdeutlichen Parallelen, nicht nur zur heutigen Medienwelt.




Sonntag, 11. August 2013
Jetzt weiß ich, wer immer nachts übers Dach läuft. Ich hab es gesehen, das kleine, rotbraune, große, niedliche Tier. Es kündigt sich mit einem leichten Poltern an und ich, die auf dem Sofa liege und lese, bin gespannt, was ich zu sehen bekomme. Vorsichtig drehe ich den Kopf zur Seite, da ist es, es hangelt sich über den Rand des Blumenkastens mit der Kapuzinerkresse, springt in den Topf des Olivenbäumchens, bleibt eine Weile und schaut zu mir ins Zimmer, um dann flink am Bäumchen hochzuklettern, von dort in die Dachrinne zu springen und sich zu entfernen. Ein Eichhörnchen! Hier oben am Dach! Ich bin doch erstaunt, wie groß es wirkt, die Eindrücke aus Wald und Park wecken ein Bild von einem Tierchen, das leicht mit einer Hand zu fassen wäre, dieses Exemplar ist doppelt so groß, wie ich geglaubt hätte, dass es sei. Sagt man das so? Ist egal, es sind sowieso ziemlich viele Tiere eingezogen, natürlich keine Säugetiere, eher Insekten, Spinnen und Nachtfalter. Stets halte ich alle Fenster geöffnet, genauso wie wahrscheinlich die Nachbarin, deren Türen immer noch im Wind klappern und schlagen, dass es seine Art hat. Noch einmal so ein hauserschütterndes Knallen und ich sag's ihr – das mach' ich dann aber doch nicht, weil, bald ist es Herbst und die Fenster wieder zu, und dann hört das Rumpeln auf. Hoffentlich.

Am Nachmittagssee ist es still und das Wasser klar und so dunkel, wie die Wolken, die drüberziehen und immer noch warm. Ein paar wenige Badegäste, die Frau mit dem langen weißen Haar, der Gandhi-Dünne mit der Schirmmütze, jemand Schlafendes, in eine Decke gehüllt, der freundliche Dralle, der sonst mit Gandhi abhängt, diesmal aber mit bei der Weißhaarigen quatscht, und ein junger Mann, der unschlüssig um den Steg herumlungert. Ich schwimme die kurze Strecke, einmal hin und zurück, das soll für heute reichen, ins große Badetuch gehüllt sitze ich noch eine Weile und schaue den Wolken nach.




Mittwoch, 7. August 2013
Durch die mit Atropingaben weit geöffnete Iris beleuchtet die Augenärztin mir des Augapfels Rückwand. Im Plural, weil es ja zwei Augen sind, in die sie hineinschaut: Durch die weit geöffneten Irissen … der Augäpfel Rückwände, was sich nicht sehr geschmeidig anhört, auch der Satz davor eigentlich nicht. Dies soll jetzt auch kein Text über Netzhäute werden, die Ärztin ist jedenfalls zufrieden und sie bescheinigt mir, dass die Netzhaut beider Augen kräftig sei, meine Befürchtungen über geplatzte Äderchen, die von ihrer neuen Kollegin, bei der ich vor zweidrei Wochen war, noch geschürt wurden, wischt sie hinfort. Sieht zwar dramatisch aus, sei aber harmlos. Ich mag sie vielmehr als die Andere, Jüngere; ihre vorherige ältere Kollegin ist nicht mehr da, vielleicht ein Zerwürfnis, vielleicht auch sie gestorben wie Angeler an Böschungen, ich hielt beide für ein lesbisches Pärchen (Lesbierinnen), die gemeinsam eine hübsche Augenarztpraxis eröffnet hatten und darüber gealtert waren, auch das Gebäude aus den 70ern zerfällt etwas, das Treppenhaus nicht mehr ganz so vorzeigbar und, so lese ich auf einem Zettel an der Pinnwand, man will Ende des Jahres in einen anderen Stadtteil ziehen, mal sehen, wer dann noch in meine Augen schauen wird, ich mag ja dieses Licht- und Linsengetue, und bei bestimmter Beleuchtung kann man die eigenen Äderchen sehen, die auf irgendeine Art zurückgespiegelt ins eigene Sichtfeld projeziert werden und von der Mitte aus, der Macula lutea wegfließen wie zarte Bächlein, die sich früh tausendfach verzweigen.

Wir führen noch ein Gespräch über Fliegende Mücken im Glaskörper, daselbst ein dunkler Klumpen so manches Mal meine Sicht stört, aber auch jene harmlos und altersbedingt bzw. bei Kurzsichtigen schon früher auftauchend.

Später liege ich auf dem Sofa und beglotze meine schwarzen Pupillen, ein bisschen unheimlich der Anblick, als mein Ex-Mitbewohner H. aus der J.-Straße anruft, um einen verspäteten Geburtstagsgruß zu übermitteln. Seit Jahren nicht miteinander gesprochen, er hat ja diese Freundin, die eifersüchtig über ihn wacht und er gesteht, dass er keine Bekannten mehr hat außer uns, der alten WG und den Schwimmfreunden. Was soll das Hängen am Alten, pflegt sie ihn aus der Welt zurückzuhalten, und sorgt so dafür, dass neue Freunde sich nicht einfinden können. Das Telefonat freut mich, trotz der Altfreundschaft, immerhin hatte er mal was mit meiner Schwester Dudi, die er sehr gern wieder gesehen hätte, er konnte aber nicht zum Geburtstagspicknik erscheinen – wahrscheinlich hat sie, die Partnerin, ihn davon abgehalten, füge ich in Gedanken hinzu und er tut nichts daran auszuräumen, dass es nicht so hätte gewesen sein können.

Die Qualität des Tages aber ist durch nichts zu erschüttern. Kräftige Netzhaut. Daran halte ich mich für die nächsten Stunden und bin zufrieden.

Und jetzt folgt noch eine kurze Liste der Sachen, die heute froh machen:
  1. Kaffeertinken allein mit Zeitung, gedruckte Zeitung, so höre ich, wird in ein paar Jahren zum Luxusartikel
  2. Weiterhin: Kräftige Netzhaut
  3. Das Arbeitspensum
  4. Kühle Luft
  5. Karottenkuchen zum Mittag
Fliegende Mücken mal anders gesehen: Mouches Volantes




Sonntag, 4. August 2013


Insgeheim scheint mir als wäre ich auf dem Sprung. S., die Goldschmiedin aus dem Laden nebenan, setzt sich zu der Leserin und mir zum Kaffeetrinken, unter anderem berichtet sie, sie wolle eine der Wohnungen ihres Hauses vermieten, sie selbst würde dann ins Gartenhaus ziehen, das sie zu diesem Zweck gerade restauriert. Ein Interesse regt sich in mir und ich frage sie aus nach Preis, Lage, Größe, Mitmietern und so weiter. Wie klein die Welt ist, L., frage ich, welcher L.? Der Freund von U., antwortet sie, ich bin doch mit U. dort eingezogen, dann haben wir uns getrennt. Ach so. Seine Version dieser Geschichte hat mir U. damals auch erzählt.

Oft bin ich die, die beide Seiten kennt. Und beide Seiten sind selten einheitlich. Am spektakulärsten ist die Story meiner Nachbarn im ersten Stock, die ich über L., kenne, und die mich auf diese Wohnung aufmerksam gemacht hat, in der ich jetzt seit zwölf Jahren wohne. Glücklich, wie mir scheinen will. Bis auf das Geboller aus dem zweiten Stock, das neuerdings die Wände wackeln lässt, gern gegen morgens um sieben, und mich von meinem Futon aufschreckt, der nur durch einen Teppich gedämmt direkt mit dem Schwingboden Kontakt aufnimmt – ich weiß nicht, was die Nachbarin, die Näherin macht, aber es könnte sein, dass ihr morgens pünktlich die Nähmaschine aus den Händen fällt oder vielleicht hat sie ein sperriges Klappbett, dass sich nur mit großer Wucht betätigen lässt, jedenfalls schwingt der Boden noch eine Weile nach, zu kurz, um sich in einen neuen Schlaf einwiegen zu lassen, zu heftig aber, um unaufgeregt weiter zu schlummern.

Also, die Geschichte der Nachbarn ist lang und wirr und auch hiervon kenne ich die Versionen aller Beteiligten, es ging um lesbische Paarungen, die einen heimlichen Nacht & Nebel-Auszug vonnöten gemacht hätten, hätte es sich nicht um ein großartiges Missverständnis gehandelt, die aber vom Heteropartner massiv unterbunden wurde und mit gerichtlich erwirktem Hausverbot der Geliebten endete, die nicht nur die Ehefrau, sondern auch die ersteheliche Tochter des o. g. Heteropartners beschlafen haben sollte und darüber hinaus noch eine dritte Person und so weiter. Die Details habe ich vergessen. Da aber die Lesbierin eine meiner Freundinnen ist, kann ich nun meine Feiern und Geselligkeiten, sollte ich sie dabeihaben wollen, nicht mehr im Hause abhalten, es sei denn der böse Mann, der sich zudem noch mit einem anderen Pärchen, das ebenso im Haus lebt, überworfen hat, möglicherweise wegen dieser Geschichte, vielleicht aber aus aus anderen überaus humorlosen Gründen, ist außer Haus. Tatsache ist, dass die vormals zukunftsfreudige Gemeinschaft geplant hatte, dieses Haus dereinst als Alterswohnsitz gemeinsam zu erwerben, und nun aber vollständig verfeindet zumindest mental und seelisch in alle Winde zerstoben ist, obwohl man doch noch ziemlich nahe zusammenwohnt.

So sitzen also die Leserin, die Goldschmiedin und ich vorm Haus der Lesbierin, wo jene nun friedlich mit ihrer Freundin unterm Dach wohnt, unten das Café, und einen Hund beherbergt, der es nicht lassen kann, freudig an mir hochzuspringen, sobald er mich wahrnimmt, und reden über Wohnsitzwechsel in Naturnähe, und ich immer mit meinen mönchischen Bauwagenphantasien, aber eigentlich ist die Wohnung viel teurer und, wie sich herausstellt, an einer Straße gegenüber einem Friedhof, in den ich von der Terrasse hineinstarren würde, nachdem ich eines dieser Nöselgespräche mit L. geführt hätte, der ja dann mein Nachbar wäre und so ist diese Idee dann eigentlich auch gleich wieder gestorben. Dann lieber weiter mit dem bösen Mann in einer verkrachten Hausgemeinschaft wohnen, deren Historie mir weitgehend gleichgültig ist, solange noch die Sonne die Zimmer bescheint und die Pflanztöpfe auf der Fensterbank ebenso.

Ich weiß nicht, wieso ich das schreibe. Solange sich die Mutter meiner Zuwendung erfreuen möchte, kann und will ich aus dieser Gegend nicht fort. Die großen Reisepläne müssen noch warten. Die Busenfreundin, deren Mutter in einer ähnlichen Lebensphase ist, also in ihrer letzten sozusagen, ohne zynisch zu klingen, verweigert sich dieser Hinwendung, nämlich sie wolle ihr Leben nicht ihrer Mutter opfern, wo sie sowieso noch nie ihr eigenes gelebt hätte. Darauf noch irgendetwas zu antworten wäre müßig. Unsere Mütter sind nette Frauen, die sicherlich ihr Bestes gegeben haben, mein Groll ist fort, sie sind die Mütter, wir die Töchter. So wie es immer ist und war und sein wird. Mehr ist nicht dran, nackt gesehen.

Also bleib' ich. Abgelaufener Holzboden. Küchenzeile mit Lücken. Polternde Näherin. Böser Mann. Riesengroßes Badezimmer. Zu wenig Steckdosen. Schwingboden. Blauer Himmel zwischen Fensterflügeln.




Mittwoch, 31. Juli 2013
Jemand hat ein Badethermometer am Steg befestigt, 24 Grad Wassertemperatur. Ich schwimme meine Runde, nach dem Regen ist das Wasser so klar wie den ganzen Sommer nicht, 24 Grad, das ist weder kalt noch warm, sondern fühlt sich an wie etwas, das sicher trägt, ein unauffälliges Medium, mit dem der Körper sich nahtlos verbindet. Gelassenheit.

In den letzten Wochen scheint in mir ein Widerstreit geschlichtet, den ich herumtrage, seit ich mich ernsthaft mit Yoga-Philosophie beschäftige. Wer Yoga immer noch für eine Art Gymnastik aus dem Osten hält, die von betuchten Mittelschichtsdamen betrieben wird, irrt (immer noch). Schlicht gesagt, ist er ein Hilfsmittel auf dem Weg zu erfülltem Menschsein und Sieg über den Tod unter Nutzung des gesamten menschlichen Potentials, mental, seelisch und körperlich. Dass Hatha-Yoga, der Teil, der sich mit den Körperübungen beschäftigt, im Westen so falsch verstanden wird, muss man erstmal so hinnehmen. Als die ersten Yogis in den Westen (meint die USA) gingen, (z. B. Yogananda oder Swami R., der Guru meines Lehrers Swami VB) waren sie sich klar darüber, dass sie nicht mit dem gesamten Paket rüberkommen, sondern die zunehmend körperfixierten AmerikanerInnen nur austricksen konnten, indem sie (erstmal) einen neuen Kult für den Körper installierten, so erzählt es jedenfalls Swamiji (VB). Kichernd berichtet er von seinen ersten Vorträgen vor einem verständnislos dreinblickenden Publikum, das in Erwartung entspannender Yoga-Classes (womöglich in sexy Yoga-Outfits gekleidet [Ausschmückung von mir]), nun gar nicht nicht damit gerechnet hat, von einem Mönch philosophisch belehrt zu werden.

Beim Versuch ein passendes Foto zu finden, das diesen Eintrag begleitet, ist mir einzig dieses würdig erschienen: DJ Nicki legt auf, Rishikesh März 2005.

Mein Dilemma bestand aus Mitgefühl vs. Leidenschaftslosigkeit, beides (Lebens-)Haltungen, die im Yoga empfohlen werden. Ich empfinde die englischen Begriffe noch gegensätzlicher: Compassion vs. Dispassion (vairagya in sanskrit, interessant übrigens wie es dem Namen der Pille ähnelt, die Leidenschaft hervorrufen soll). (Weil ich die bhagavad gita oder die yoga sutras zuerst in englisch kennengelernt habe, sind sie mir in der Fremdsprache geläufiger.) Mitgefühl haben, ohne selbst emotional beteiligt zu sein, bedeutete das für mich – wie soll das überhaupt gehen? Und war Leidenschaftslosigkeit nicht gleichbedeutend mit Desinteresse und Langweile? Was ist mit der Liebe? Sex ohne Leidenschaft? Ich glaube, ich habe mich die letzten acht Jahre mit den beiden tatkräftig herumgeschlagen. Auch wenn es nach Außen in Gesprächen oder Handlungen nicht darum ging, stets blieb ich doch Beobachterin der inneren Vorgänge des mind, bis mich im Angesicht der Ausweglosigkeit Leidenschaftlichkeit davontrug und klares Denken unmöglich machte.

Dispassion mit Gleichmut zu übersetzen, ist mir bisher nicht eingefallen. Während in Leidenschaftslosigkeit Kälte mitschwingt, ist Gleichmut eine freundlichere Übertragung. Gleichmut, ich kenne dich doch! Die Momente, wenn ich den wirren (und sie selbst aufregenden) Geschichten der Busenfreundin zuhöre – und mich nicht aufrege, mich nicht ereifere, Schlaues beizusteuern und vermeintlich Hilfreiches, das ihre Situation entspannen könnte. Sitzen und zuhören – und mitfühlen. Erstaunlicherweise geht nur beides zusammen: Mitgefühl und Gleichmut. Gleiches erfahre ich auch im Umgang mit der Mutter. Es gefällt mir nicht, ihrem Altwerden zuzusehen, genausowenig wie eigene ähnliche Prozesse wahrzunehmen. Aber – es gibt dafür keine Lösung! Ich und niemand anderes hat die Macht, Vergänglichkeit zu stoppen, und sie ist es, die mir so Angst macht.

Ich kann nur zusehen. Ihren klein gewordenen Rücken, ihre dünnen Arme und die runzelige Haut, die Kraftlosigkeit in den Beinen, ich kann sie stützen, wenn wir gehen, ich kann sie zum Lachen bringen, wenn sie verzagt. Vielleicht ist Leidenschaft mit Angst besetzt oder entsteht sogar aus der Angst – und nicht aus Freude, vielleicht habe ich das die ganze Zeit falsch verstanden. Ohne Leidenschaft keine Lust, ohne Lust keine Liebe und ohne Liebe alles öd, dacht' ich. Welche Schönheit Mitgefühl besitzt, hatte ich nicht begriffen. Dass Mitgefühl nicht Leidenschaft ist, sondern im Mitgefühl Gleichmut sein muss, damit ich nicht daran verbrenne, hatte ich nicht begriffen. Es war das Verbrennen, vor dem ich solche Angst hatte. Das Vergehen.

Bei 24 Grad brennt nichts. Der Körper schwimmt in einer weichen neutralen Flüssigkeit, die ihn trägt und stützt. Geschmeidig arbeiten Muskeln und Sehnen zusammen mit dem Knochengerüst und den Sinnen, Beobachtung, der Atem fließt aus und ein und obendrüber fliegen Wolken dahin, ihr Aussehen verändert sich ständig, das ist ihre Natur. Gelassenheit.

Zum Lesen: Paramhansa Yogananda: Autobiografie eines Yogi




Sonntag, 28. Juli 2013
Wenn ich krank oder anderweitig verzagt war, habe ich mich gern in die Bücherwelten meiner Jugend verzogen. Es bereitete mir stets Trost, Sätze, Abschnitte und Erlebnisse nachzulesen, die ich nach all den Jahren fast schon auswendig kannte. Eigentlich sind es nur zwei Bücher, zu denen ich immer wieder zurückfinde, wie oft ich sie schon gelesen habe, kann ich nur schätzen: Blauvogel von Anna Müller-Tannewitz unter dem Pseudonym Anna Jürgen und Irja von Annikki Setäla.

Beide Bücher hatte ich im Keller meines Elternhauses unter den Sachen gefunden, die mein Cousin nach dem Tod meiner Tante für eine Weile bei uns deponiert hatte. Eigentlich durfte ich dort nicht stöbern, aber am Ende hatten wir doch ein paar Gegenstände aus dem Sammelsurium behalten dürfen, eine alte Musiktruhe, die noch sehr gut klang und die ich eine Weile benutzte, bevor ich mir einen eigenen modernen Plattenspieler kaufen konnte, drei Beistelltischchen, die untereinander gestellt und im Bedarfsfall hervorgeholt wurden, einige LPs, die mein Cousin aussortiert hatte, was kein Wunder war, denn mir gefiel die Musik bis auf Nights in White Satin (von wem nochmal?) oder Procol Harum auch nicht. Aber die beiden Bücher – sie wurden meine größten Schätze.

Irja handelt von einem finnischen Mädchen, das in der unberührten Natur Lapplands aufwächst, sich lieber mit Jungskram beschäftigt und stolz ist, dem Vater nachzueifern, der in ihr immer seinen kleinen Jungen gesehen hat. Eines Tages kommt ein junger Forstmeister zu ihnen, um die Familie mit seiner Arbeitskraft zu unterstützen. In Irja erwachen zwiespältigste Gefühle dem weichen Mann aus dem Süden gegenüber, die zwischen heimlicher Zuneigung und verächtlichen Hänseleien hin- und herpendeln, aber die ebenfalls erwachende Leserin (ich) erkennt sich in diesem wilden Mädchen selbst und saugt diese Geschichte nur so auf. Am Ende, auf einem großen Fest zum Jahresende, gerade als sie bereit ist, Kero ihre Gefühle zu gestehen, entdeckt sie ihn und ihre sanfte Schwester beim Betrachten des Nordlichts, er hat einen Arm um Hilkka gelegt und Irja begreift, dass sie Kero verloren hat. Ein großartiger Moment und ein großartiges Buch, das nicht nur die Sitten und Gebräuche der Lappen beschreibt, sondern auch Zusammenhalt und Freundschaften, viele spannende Erlebnisse und alles zusammen ergibt einen unauslöschbaren Eindruck über die fremde Kultur hinter dem Polarkreis.

Blauvogel ist die Geschichte eines weißen Jungen, der von Indianern geraubt und adoptiert wird. Eindringlich wird erzählt, wie er sich nur mühsam in das Leben des nahe des Eriesees wohnenden Irokesenstammes einzufügen lernt, lange Zeit von übelwollenden Kindern und Fluchtgedanken geplagt, im Laufe der Jahre aber gewahr wird, welche Rollen die beteiligten Völker und Regierungen bei der Eroberung Amerikas, der Ausrottung ihrer Urvölker und der Ausbeutung der Natur wirklich spielen. Wie bei Irja werden nicht nur das alltägliche Leben, die Rituale, sondern auch politische Hintergründe beschrieben, es gibt verschiedene Abenteuer zu bewältigen, und am Ende, als die Indianer gezwungen werden, ihre adoptierten weißen Kinder zu deren Familien zurückzubringen, erkennt Blauvogel, wie sehr er sich von seiner weißen Ursprungsfamilie entfremdet hat und kehrt zurück zu den Indianern.

Was mein kindliches Herz an diese Bücher fesselt, die mein in der Welt sein so stark geprägt haben, ist ihr Sinn für Heimat und Zugehörigkeit zur Natur und zu freundlichen Menschen. In diesem meinem Herzen glüht immer noch ein lebendiges Bild nach dem Ersehnten. Ein Bild von einem wahren Zuhause und einer bestimmten Art von Rechtschaffenheit und Harmlosigkeit. Eine heile Welt. Wenn ich krank oder anderweitig verzagt bin, kann ich durch diese Bücher wieder heil werden.





Fünfeinhalb Sieben Hektar Wasserfläche, fünf Meter tief.




Donnerstag, 25. Juli 2013
Heute schon früh am Morgen zum See, schwimmen. Der Regen gestern hat gut getan, durch diesig verschleiertes Sonnenlicht fahre ich am Fluss entlang, eine vereinzelte Ente schläft noch auf dem Steg der Ruderer, Hasen springen durchs feuchte Gras, überhaupt ist der Tau wunderbar und hängt in großen Silbertropfen an erdnahen Gewächsen. Noch sind wenige Menschen unterwegs, ich möchte mal wissen, was die Kriterien sind, die Menschen nach draußen locken, dieser Morgen ist so besonders, auch am See ist es leer, nur ein Fahrrad steht auf der Wiese, als Gestell für die Kleidung, die ja jetzt nutzlos ist, da der Inhaber weit – was heißt schon weit bei einem See, der angeblich 5,5 ha groß ist, weit hinten auf der anderen Seite schwimmt jemand in lockerem Rhythmus, das will ich auch tun, dazu bin ich hier, binde das fahrbare Eisengestell an, entkleide mich, sanfter Südwind hat alles ekelige Treibgut in die winzige Bucht mit dem Steg geschwemmt, auch die puscheligen Flugsamen, die bereits bräunlich im Wasser vor sich rotten, irgendwann kippt der See wie jeden Sommer, dann gedeihen Blaualgen, die eigentlich grün sind und doch hübsch anzusehen, der ganze See wird dann einer grün-dicklichen Pampe gleichen, noch ist das Wasser klar und noch erfrischend, aber mit dem Fuß muss ich mir einen sauberen Einstieg freirühren, dann einmal um den See, dafür benötige ich ca. 50 Minuten, die ungefähr 1.300 Meter entsprechen, so genau weiß ich das nicht, ist eigentlich auch egal, nah an furchtlosen Enten vorbei und den neonrot leuchtenden Schwimmern eines Anglers, sein Fahrrad erkenne im Gebüsch, der Mann selbst hält sich verborgen, vielleicht schon gestorben, die Schwimmer schon schnurlos, jedenfalls spielen sie in meiner Bugwelle, Rückenschwimmen und Brust – Kraulen habe ich immer noch nicht gelernt, was für eine Freude, durch die Dioptriengläser der Schwimmbrille alles scharf zu sehen, Libellen, Wasserläufer, nun auf der Nordseite nur noch wenige Blätter und tote Gräser und am Südwestzipfel wirkt die Vegetation eigenartig ungezämt, als würde niemand je bis hierher kommen, dann an der kleinen Landzunge vorbei, die mich mit urwüchsigen Algenpflanzen im seichten Grund immer aufschreckt, hinüber auf die Nordseite, vertrautes Gewässer, in dem ich noch eine weile herumplansche und mich strecke und bald bin ich zurück am Steg, wo ich zwei Menschenfiguren erkenne, eine macht sich bereit einzutauchen, die andere ist wie ich zurück von ihrer Runde und trocknet sich schon ab.

Es mag neun sein, aber die Wiese immer noch leer, es traut sich wohl niemand her wegen der magischen Stimmung, vielleicht zieht man das grelle Licht vor, damit Körperschmuck und rasierte Geschlechtsteile sichtbarer zieren, ich weiß nicht, nichts kann meine sinnlichen Gefühle verderben, der Körper, meiner, bedeutet mir nur Wohlgefühl, auch sehe ich die kleine Kummerrolle an Bauch und Hüften dahinschwinden, langsam zwar, war sie doch seit drei Jahren nicht abzuspecken, wegen des Geräuschemannes. It's good that you're over him. Vielleicht bin ich wirklich endlich über ihn hinweg.




Mittwoch, 24. Juli 2013
Eine Reihe besonderer Tage. Geburtstag im Park mit launigen Freundinnen, jede bringt was zum Essen mit, und viel Gelächter. Wie meine Schwester die Pistole unseres Großvaters aus dem ersten Weltkrieg über die holländische Grenze schmuggelt … BB-Bad Bentheim. Wie Schildkröte Elke über die Wiese zu uns geschlendert kommt und herzhaft ein Stück Melone verspeist, hat er zur Pflege, ruft der junge Mann zu uns rüber, ja-ja, malen wir uns die Großmutter aus: "Mit Elke habe ich mir damals schon den Opa geangelt." Nackte Beine, leckere Speisen und nach acht Stunden sah das dann so aus:


Guru Purnima, ein spirituelles Fest zum Julivollmond, nicht nur um die Gurukraft zu ehren, auch die Schüler dürfen sich feiern für ihre unermüdlichen Anstrengungen auf dem steinigen Pfad zur Selbsterkenntnis. Hinterher Bier mit der Buddhistin.

Verabredungen treffen. Freundschaften genießen. Schwimmen im See. Die Kresse beobachten. Schlafen bei geöffneten Fenstern und Türen, Windhauch auf der Haut.


Vertrauen haben. Nichts wollen, Ruhe finden.




Dienstag, 16. Juli 2013
Neben dem unangenehm holzigen Kohlrabigemüse zur Mittagszeit gibt es wenig Schlimmes zu berichten. Ein paar Gedanken beschäftigen mich, z. B. wie ich überzähliges Interieur geschickt in der Wohnung verteile, damit es nicht nervt – vielleicht sollte ich es einfach verschenken. Drei Tatamis, je 90 x 90 cm, sind übrig und irgendwie auch eine der Küchenbänke. Ich habe nie mehr so viel Besuch, dass ich dringend beide Bänke brauchte, meinen Geburtstag Ende der Woche werde ich im Park feiern und da wird auf Decken gesessen.

Die freudig wachsenden Kapuzinerkresse- und Ringelblumensprösslinge wären da noch. Oder die Aussicht auf eine weitere zweistündige Thai-Massage am Donnerstag. Von fachkundigen Händen massiert zu werden, ist neben der Meditation das schönste Nicht-Tun, das ich nun kenne. Die Thai-Massage ist angeblich für buddhistische Mönche erfunden worden, um ihre vom langen Sitzen versteiften Körper geschmeidig zu machen und Blockaden zu lösen. Die Masseure selbst üben derweil metta (liebende Güte) aus, um karma abzubauen. So haben alle was davon.

Die Dame bittet um Entkleidung, obenrum frei und für die untere Hälfte reicht sie mir eine dünne schwarze Baumwollhose, anziehen, sagt sie, und auch sonst sind ihre Anordnungen einwortig, hinlegen, umdrehen, anfassen, der Rest ist Stille, bis auf die raschelnden Geräusche, die sie macht, während sie ihre Positionen ändert. Der Raum ist angenehm, buddhistische Wandbilder, sanftes Licht und in der Mitte die genau richtig graduierte Matte auf dem Holzboden. Drücken pressen biegen kneten bis an die Schmerzgrenze, manchmal sogar darüber, die Seiten der Oberschenkel und der rechte Arm tun besonders weh. Hauptsächlich bin ich wegen des mich nicht verlassen wollenden Schmerzes im Kreuzlendenbereich hier, zwei Stunden für 69 Euro, ich komme mir ein bisschen ausbeuterisch vor, die Thailänderin schuftet ja ohn' Unterlass mit vollen Kräften an mir herum.

Die schmerzende Stelle im Rücken geht sie nicht direkt an, aber alles, was sie macht, reicht bis dahin und tut wahnsinnig gut. Außerdem biegt sie meinen Körper in diverse Yoga-Asanas hinein, die Kobra z. B., dazu steht sie breitbeinig über mir, die ich auf dem Bauch liege, bittet mich, ihre Handgelenke 'anfassen', sie hält meine und dann zieht sie meinen Oberkörper zu sich nach hinten. Wow. Oder die Drehbewegung der gesamten Wirbelsäule, sie drückt mein Becken bis zum Anschlag zur Seite, da knackt es ordentlich im KLB wie ich es gern hab. Dem gesamten Rücken widmet sie sich mit besonderem Eifer, aber eigentlich bekommt jedes Körperteil ihre Aufmerksamkeit, manchmal stöhne ich voller Wonne, damit sie weiß, wie schön das ist, was sie da tut und manchmal lächeln wir uns an, wenn ich für einen Moment die Augen öffne, um zu sehen, wie sie das eigentlich tut.

Nach der Behandlung bin ich 90 % weniger holzig als vorher. Aufstehen. Anziehen. Schwupps (etwas zu schwupps für die zwei Stunden körperliche Nähe) ist sie in den hinteren Räumen verschwunden, wahrscheinlich um ein bisschen zu auszuruhen. Mir bleibt nur noch, das bereitgestellte Glas Wasser zu leeren, meine Bezahlung zu leisten und ein paar Worte des Wohlgefallens mit dem freundlichen älteren Herrn zu wechseln, der offensichtlich der Zuhälter Vater Ehemann der einen ist, sicherlich Thailandfahrer erster Stunde, komm' mit mir nach Deutschland, heirate mich, wird er ihr gesagt haben, und wir werden reich ich mache dich reich – über ihre Familienverhältnisse möchte ich dann aber doch lieber nicht nachdenken.

Jedenfalls geht so Sommer. Schwimmen, lesen, essen, schlafen. Mehr muss nicht.




Mittwoch, 10. Juli 2013
Es war mir ernst. Beinahe hätte ich, wenn es möglich gewesen wäre, meine Seele verkauft, um nochmal 17 zu sein. Mein Patensohn I. war zurück von seinem einjährigen Austausch in den Staaten. Wie erwachsen er geworden ist, und Tante Krabbe so, meine Güte hast du dich verändert, und wir liegen uns in den Armen, er ungefähr einen Kopf größer und ich fühl mich wie ein Mädchen.

Na klar, da ist viel Selbstdarstellung, auch bei den Freunden, die nach und nach zum Grillabend eintrudeln, hey Alter, hey Digga, I. schon fast mit Ami-Akzent, später reden sie nur noch englisch mit ebenfalls gerade Zurückgekehrten aus ähnlichen Ländern. Die Bestefreundin und ich begaffen die Szene, mehr oder weniger sprachlos. I.s Begeisterung ist sowas von ansteckend, ich würde mich gerne auch begeistern, ich würde mich gern in einen schönen Jüngling mit Mandelaugen und brauner Haut verlieben und alberne Sachen machen. Aber wir sind ja 35 Jahre älter und haben nichts zu melden, dafür essen sie unsere Bratwürste, unser Currygemüse und genießen die bereitgestellte Atmo.

So sitze ich mit beängstigendem Neid auf der Bank und halte die Füße ans Feuer, der Abend hinter uns ist kühl, aber der Geist rast und versucht, das Sehnen im Zaum zu halten. Vielleicht ein Bier? Die Bestefreundin versucht, Geschichten zu erhaschen, die ihr Sohn noch nicht erzählt hat. I. hatte in Amerika eine Freundin gefunden, auf Facebook konnten die mittlerweile tausend Freunde Bilder ihrer Zweisamkeit betrachten, jetzt nennt er sie schon Exfreundin, natürlich wird das alles zu Erzählenswertem verwurstet und die jungen Freunde übertreffen sich gegenseitig in ihren Berichten über das letzte Jahr.

Und was habe ich im letzten Jahr erlebt? Ich spüre, wie Lebendigkeit mich verlässt, während die Lücke zwischen ihren und meinen Erfahrungen sich krasser und krasser darstellt. Obwohl ich weiß, dass es in einigen ihrer Familien nicht sonderlich einfach hergeht, beneide ich, wie sie ihr Leben und ihre Jugend feiern mit tollen Haaren, hübschen Körpern und angeberischer Attitüde, die ich ein bisschen peinlich finde. Mit 17 war bei mir alles schrecklich und ich hatte Selbstmordgedanken. Und diese Jungs aber hier machen ihr Ding, I. und R. verdienen ihr Taschengeld mit Straßenmusik, treffen ihre Kumpels, trinken – sie sind richtig cool und offensichtlich scheren sie sich um nichts, die Ferien sind noch lang und das Leben heißt sie sowas von Willkommen. Ich würde gerne mitmachen, die tolle Tante Krabbe sein, statt dessen bin ich sehr still und fühle mich unendlich einsam.

Meine Verrückung ebbt dann gottseidank langsam ab. Die Bestefreundin und ich reden jetzt doch flüsternd miteinander, ich schildere ihr meine verwirrenden Gefühle, sie schiebt sie wieder zurecht, setzt sie auf realen Boden, von dem ich vor Verblendung schon abheben wollte. Es sind einfach Leben. Dort ihres, dies meines.

Erfahrungen.