Samstag, 26. April 2025
L.s Bücher, die ich mir ausgesucht habe, liegen griffbereit. Sie behandeln teils spirituelle, teils gesellschaftskritische Themen, manche sind aus den 70er Jahren, als der damals noch junge L. begann, sich für seine Umwelt und sein eigenes, damit verknüpftes Leid zu interessieren. Die Neuesten ringen um eine Aufarbeitung der Corona-Zeit. Es bereitet mir Unbehagen, in diesen zu lesen und so widme ich mich ersteinmal jenen über die verschiedenen Indianer-Kulturen und dem schönen Lila – Das kosmische Spiel nebst Spielfeld, das L. eigenhändig laminiert hat, dem Astrologie-Buch mit den wunderbaren Bildern aus Jahrhunderten und der Textesammlung zur Weisheit der Upanishaden.

Zwei Wochen Traurigkeit. Ich denke sehr oft an L. und ob/dass er sein spirituelles Ziel ereicht hat. Dem Jahr seit der Diagnose ist er mit einer Art therapeutischem Eifer im Garten begegnet und alles schien darauf hinzudeuten, dass er gesunden möchte. Wie wir einge Kubikmeter an frischer Erde in den Garten gekarrt hatten, wie er den Ertrag von Gemüse und Pflanzen aller Art (auch Hanf, den er mit dem Bildhauer geteilt hat) genossen hat, wie er noch den Schornstein gemauert hat, bevor Anfang des neuen Jahres das Anlegen neuer Öfen in den Schrebergärten nicht mehr gestattet war.

Ich selbst war in den Frühjahrsmonaten mit aufregenden Dingen beschäftigt, während es L. immer schlechter ging. Zwei Online-Kurse an der Moskauer Kunstschule fesselten meine Aufmerksamkeit und es war so, als würde ich für eine Auftragsarbeit noch was drauflegen. Dabei habe ich mir den Auftrag ja selbst gegeben. Collage und Zeichnen wählte ich aus. Dabei lernte ich viele neue russische Wörter wie bedingter Raum, wobei interessant ist, dass ich für einige Begriffe keine Entsprechungen im Deutschen fand. Sogar der Name des Kurses, der sich in etwa in Urbane Schnörkel übersetzen lässt, bleibt wage. Es gab überraschende Momente, als mein Blickwinkel sich komplett drehte, wenn die Lehrerin begann, Fragen zu Komposition und Farbe zu stellen und mir dann ihr Verständnis meiner Arbeiten vorlegte. Ohne die Aufgabenstellungen und besonderen Anleitungen wäre ich nie zu solchen Zeichnungen gekommen. Alle Teilnehmer hatten völlige Freiheit, sich auszuprobieren und das Sujet zu erforschen. Die vielfältigen Kursangebote, die besonderen Herangehensweisen und deren professionelle künstlerische Betreuung ziehen mich sehr an. Ich kann mich nicht erinnern, solch eine Begeisterung während des meines Studium erlebt zu haben und auch eine Gruppenbesprechung der Resultate fehlen, wenn ich zurückschaue. Vielleicht war ich damals auch nicht reif dafür und habe sie geschwänzt.

Uns beiden, L. und mir, ist gemein, dass wir der aktuellen Situation im Land ausweichen (ich hoffe, das klingt nicht unangemessen). In der Beschäftigung mit der russischen Sprache und der künstlerischen Arbeit habe ich ein reizvolles Konzentrationsobjekt gefunden. Seinerzeit übte ich Mantren in Sanskrit, jetzt russische Vokabeln und zwischendurch betrachtete ich ohn' Unterlass das zermürbende politische Geschehen (ein Trauerspiel). L. hingegen war draußen im Garten und jetzt ist er heraus aus der Welt. Neid ist sicherlich nicht das richtige Wort, aber ich muss gestehen, dass ich seinen Weg als nachahmenswert empfinde. Doch, es hält mich einiges: die geometrische Form, die jetzt gerade das Sonnenlicht durchs Fenster auf die Wand mir gegenüber wirft, die meditative Stimmung, die mich heute erfassen mag, wenn ich durch den Tag treibe, die Zubereitung eines gesunden Mahls (ja, ich sollte mit dem Zucker sparsamer umgehen), die Aussicht, mit dem Bildhauer morgen draußen zu sein und zu zeichnen, zu fotografieren, zu schnitzen. Wir werden sehen.




Montag, 14. April 2025
Lieber L., jetzt bist du nicht mehr hier bei uns. Du hast deine Reise angetreten, und während S. und ich mit dem Hund durch die Dämmerung liefen, über Felder im Taunus, über schotterige Wege in den dunkler werdenden Abend liefen und der Mond immer höher stieg und meine Gedanken bei dir waren – ich dachte, dass du diesen wunderbaren Vollmond als Abschiedslicht nehmen könntest, du tatest es auch, aber ich wusste noch nichts davon, erst als ich wieder zurück war und mich D.s Nachricht erreichte – S. und ich liefen mit dem Hund und ich dachte, allein würde ich mich vielleicht verlaufen, aber der Mond war still und hellgelb und S. und ich hatten ausgeredet, den ganzen Tag redeten wir, nicht ohne Missverständnis und ich fühlte mich unwohl, weil ich ihr dieses angeraten, jenem abgeraten, ihr Bemühen, sich zu erklären, nicht bestätigt hatte, weil ich es nicht verstand, noch nicht verstehen konnte, erst jetzt auf diesem Gang, es war mittlerweile dunkel, verstand ich es und ich entschuldigte mich dafür, und bei dir, lieber L., hatte ich das gleiche gemacht und mich selbst nicht verstanden. Ein paar Tage zuvor hatte ich begriffen – dass es nicht um mich geht, und wahrscheinlich ging es dir nicht mal um dich selbst, denn du warst damit beschäftigt, dich von dir zu lösen, von deinem schmerzenden Körper, und vor diesen paar Tagen, auf einmal, plötzlich, verstand ich, dass ich mich um dich nicht sorgen muss, es fiel alles ab und das war schön. Dies war ein egoistisches Gefühl von Leichtigkeit, das mir gegönnt wurde, und ich fühlte mich wieder ein bisschen eigen, aber dann nahm ich es so. Ich nahm Abschied von dir, ich nahm den Abschied an.

Der Bildhauer und ich sitzen im Garten und weinen. Lieber L., du bist der einzige Mann, mit dem mein Bildhauer nicht auf diese launische Art geredet hat, wie all diese Künstlerfreunde, in irgendeiner alten Konkurrenz gefangen und nicht fähig, ganz einfach, ohne Zynismus, ohne Abwehr, sich auszutauschen, sich anzufreunden und wie schön war es, wenn ihr beide in einer Ecke des Gartens verschwandet, über Kräuter und Pflanzen spracht, über Holz und Schnitzen und vielleicht auch ein bisschen über Männersachen, wer weiß, während ich mit deiner lieben Freundin D., die auch meine liebe Freundin geworden war, in einer anderen Ecke in der Sonne saß.

Ich erinnere mich... wir drei kannten uns noch nicht lange, wir wollten doch eine kleine Schule gründen, wir saßen in der Kirche bei einer Ausstellungseröffnung, M. begleitete die Veranstaltung auf dem Klavier, wir hockten in den Bankreihen und du sagtest, guck mal, der da hinten sieht aus wie der Bruder von Rainer Mausfeld. Es stimmte, aber die Idee, dass ich mit euch beiden in dieser Kirche die einzige sei, der Rainer Mausfeld ein Begriff war, war derart komisch, dass ich fünf Minuten Tränen gelacht habe – wer in dieser Quatsch-Stadt kennt schon den Herrn Mausfeld. Solcherart waren deine Witze und du hast mich oft zum Lachen gebracht. Auch du warst gern bereit, über meine kleinen Sachen zu lachen, selbst an diesem Abend, als es dir so schlecht ging, als du um deine Schmerzen geweint hast, selbst da hast du irgendeinem unwichtigen Detail meiner unwichtigen Erzählung gelauscht und gelacht.

Alles, was ich übers Leben und Sterben gelernt habe, von anderen oder selbst erfahren, steht mir nun zur Verfügung. Ich weiß, dass mein Mitempfinden deiner unendlichen Reise eine gewisse Genauigkeit besitzt. Ich weiß in etwa, wie es ist, Raum und Zeit zu verlassen und frei zu sein. Wie alles wird auch deine jetzige Erfahrung gefärbt sein von deinem Leben und deinen Erwartungen oder Befürchtungen an das Danach, vielleicht kannst du dich aber auch schnell lösen. Das weiß ich nun nicht.

Der Bildhauer und ich im Garten. Wir sagen fast gleichzeitig, und wir, machen wir weiter? Lieber L., es ist verlockend, dir jetzt zu folgen. Aber nein, wir bleiben, es gibt noch zu tun. Dieses kleine Land auf diesem verrückten Planeten; ich dachte, du würdest noch bleiben, um die Veränderungen mitzuerleben, auf die wir gehofft haben, noch immer hoffen. Ich hatte insgeheim auf ein Wunder gehofft. Deine Genesung, eine Erscheinung. Ich hätte an deinem Wunder teilgenommen, an deinem Glanz. Ich wäre mit dir gefestigt.

In der Nacht deines Abschieds träumte ich – ich sitze in der Straßenbahn und mache Dönekens mit einem Jungen, wir quatschen und lachen, die Bahn hält an deiner Haltestelle, der Junge springt heraus und ich sehe es kommen – er läuft direkt auf die Straße (hätte ich dich halten können, deine Schulter, dein Hemd greifen), aber ein Lastwagen ergreift ihn, fährt direkt in ihn hinein, mit diesem Geräusch, sehr laut, ich wende mich ab, ich will nichts sehen, die Leute starren aus den Fenstern, reglos, ich kniee auf dem Weg und weine. Dann drehe ich mich vorsichtig, um zu überprüfen, ob es wahr ist, ob ich wache oder träume. Vor dem LKW liegt allein – der LKW berührt sie mit den Vorderreifen – frische, dunkle Erde.




Freitag, 26. Juli 2024
behauptet die Nachbarin, "... alles, was man ein Jahr lang nicht benutzt hat, kann weg." Ich räume gerade in großem Stil auf, und anscheinend rede ich oft darüber, denn ich bekomme viele unterschiedliche Antworten auf gar nicht gestellte Fragen. (Daran bleibe ich gerade hängen, an den Antworten auf nicht gestellte Fragen. Wie heißen die? Ansichten? Aussagen? Be- und Anmerkungen?) Einige entschuldigen sich, dass sie nicht zum Ausmisten kommen würden, obwohl sie wollten, denn zum Beispiel die Tassensammlung sämtlicher Urlaube der 80er und 90er Jahre läge ihnen sehr am Herzen. Oder sie machen Witze über einen chaotischen Geist in einem unordentlichen Körper. Naja.

Ich sinne über künstlerische Ausdrucksformen, die keinen MottenbeAbfall verursachen oder einen möglichst geringen. Es bietet sich Zeichnen an. Dazu eine Schachtel Buntstifte, nicht zu viele, denn sie lassen sich kaum transportieren – zwölf in einer flachen Schachtel sollten reichen. Vielleicht muss man aber auch gar nicht raus zum Zeichnen. Der Blick vom Sofa durchs Fenster auf den Baumbestand im Hof im Wechsel der Jahreszeiten bietet genügend Abwechslung. Vors Fenster könnte ab und zu ein Stuhl, ein Tisch oder ein Sessel gerückt werden, auf der Fensterbank Glas und Karaffe, von Zeit zu Zeit kommt das Eichhörnchen vorbei und gräbt in den Blumenkästen nach einer Nuss. Rot- und Grüntöne herrschen vor (und ergeben Braun), ach nee, da ist ja der Himmel und die durch Lichtstimmung veränderlichen grauweißen Schattierungen der Innenwand.

Die Kuratorin/Malerin lebt in einer Riesenwohnung mit mehreren Zimmern, welche mit aneinandergelehnten großformatigen Leinwänden vollstehen. Eine DinA4-Mappe mit 70-Gramm-Papierbögen hat viel geringere Ausmaße und wäre nach einem Jahr mit einer Zeichnung pro Tag zwar gut gefüllt, könnte aber in einen Schrank gelegt werden, nachdem man etwas alte Wäsche in die Altkleidersammlung getragen hat. So müsste das gehen. Die Buntstiftschachteln werden mit losen Buntstiften neu befüllt, die Anspitz- und Radiergummireste kommen in den normalen Hausmüll.

Bei insta bin ich auf eine russische Kunstschule (простая школа – einfach Schule) aufmerksam geworden. Sie bewirbt Online- und Kurse vor Ort und veröffentlicht dazu Gespräche mit Lehrern, die ihre Arbeitsweise oder die Art des Kurses beschreiben – Malerei, Zeichnung, Collagen, Straßenskizzen. Jetzt, Anfang August, wird eine Residenzzeit geboten – dazu verbringt die Studentengruppe eine ganze Woche gemeinsam und arbeitet an der jeweiligen Aufgabe. Die Lehrer stehen zu Anleitungen und Auseinandersetzungen zur Verfügung, es wird zusammen gesund gekocht und gegessen, Yoga gemacht und überhaupt soll eine achtsame, zen-artige Stimmung entstehen und die künstlerische Selbstfindung gedeihen. Die Lehrergespräche sind auf YT zu finden und anhand der zuschaltbaren Übersetzungen lassen sie sich gut verfolgen und bieten mir Russischschülerin eine Möglichkeit, die Sprache zu vertiefen und mir ein passendes Vokabular anzueignen.

Wie gern wäre ich dort. Da ich aber aller Voraussicht erst nach drei Jahren sprechen werde (dann aber in ganzen Sätzen), ist es jetzt im zweiten Jahr für mich noch zu früh. Ich höre mir einen einminütigen Auszug eines Gespräches mit einer älteren Künstlerin an (leider ohne Untertitel) und verstehe kaum ein Wort. Es dauert ewig, das Gesagte zu übersetzen – noch vermag ich die Füllwörter nicht einzuordnen oder Phrasen wie на самом деле (tatsächlich, in der Tat) versperren mir den klaren Blick auf den Satz. Was sie dann aussagt, ist toll, dass Malen Bergmannsarbeit ist, anstrengend, erst nur eine nebulöse Idee, und nicht mal eben so wie, ach, da küsst mich grad die Muse.

Sicher ist es auch so mit einer Zeichnung. Wo fange ich an, was interessiert mich überhaupt? Die zehn rotbraunen Früchte meiner Fensterbanktomatenpflanze? Zeichne ich sie realistisch oder bloß Umrisse einfangend? Eigne ich mir diesen ungeduldigen Stil an mit großflächigen Schraffuren in Grau plus Farbakzent – einer von Zwölfen, Zweie komplementär oder bunt opak? –

Sie hören von mir.




Samstag, 13. Juli 2024
Zwischen den alten Familienfotos befinden sich jede Menge 6x9-Negative. Zu groß für meinen Durchlichtscanner, aber eine viel einfachere Möglichkeit ist es, sie ans Fenster zu kleben und abzufotografieren und mit einem Kurzbefehl im Bildbearbeitungsprogramm ins Positive zu konvertieren. Dabei kommt so etwas zum Vorschein:

Die Großeltern trinken Kaffee im Angesicht des Watzmanns

Die Eltern meines Vaters waren mit ihm bereits dort, in der zweiten Hälfte der 30er Jahre. Vielleicht ein Reiseziel von Anhängern einer gewissen Partei, der Opa A. ja unzweifelhaft angehörte. Alle Bilder wirken fröhlich in Szene gesetzt, sicherlich war es für meinen sechs- oder siebenjährigen Vater eine unbeschwerte Zeit vor dem Großen Vaterländischen Krieg 2. Weltkrieg, die er später wieder einzufangen suchte mit seinen eigenen Kindern.




Freitag, 12. Juli 2024
Ich musste das nachschlagen, das o, vielleicht hätte ich об benutzt. Jetzt, nach ungefähr zwei Jahren des Russischlernens kommen mir bereits ganze Sätze in den Sinn. Mama erzählte immer, dass ich mit drei Jahren noch nicht sprechen konnte, man hatte sich bereits Sorgen gemacht. Dann aber, endlich, sprach ich und zwar in vollständigen Sätzen. Was wir für ein seltsames Kind haben, sagten sie sich vielleicht am Abend.

Vor einer Weile fand der Bildhauer in einem alten Reisemagazin eine schöne Abbildung des Watzmanns im Herbst. Das ist dieser Berg, Sie wissen schon. Einmal war ich mit meinem Vater auf die Spitze geklettert, mit 12 oder so. Wir übernachteten im Watzmannhaus, damals ein einfaches Steinhaus, das mit Stahlbefestigungen dem Wetter trotzte. Es gab frische fettige Kuhmilch, von der wir beide uns übergeben mussten und am Morgen wuschen wir uns im eiskalten Bergwasser, das in einen Holztrog plätscherte.

Das Foto musste von einem Ort aufgenommen worden sein, den ich genau kenne, nämlich hinter einem kleinen Waldstück oberhalb des Lehens, in das wir uns während der Ferien eingemietet hatten. Ein herrliches Anwesen, das meine Kindheit auf beinahe mystische Weise geprägt hat. Der Anblick des äußerst detailreichen Bildes löste in mir den Wunsch aus, wieder einmal dort sein zu wollen, dort zu sitzen und den Blick zu genießen, den diese bestimmte Bank bietet.

Viele Jahre lang ist mein Vater weiterhin zu Ferienzeiten dort eingekehrt, ohne uns, hatte dort mehr Freundschaften als zu Hause und wenn er wieder zu Hause war, beschäftigte er sich mit Berichten und Zeitungen des Ortes, mit Bildbänden und Landkarten. Auch ich kenne immer noch die Namen der Erhebungen, Steige und Auen.

Auf einer Reisewebsite fand ich einen Eintrag des Lehens, wo es Fotos, Beschreibungen der Räumlichkeiten und Buchungsoptionen gibt. Endlich, nach einem Jahr des Zögerns klicke ich mich ein, buche gleich den ganzen Oktober und schreibe eine persönliche Nachricht an die Familie dazu. Nach einigen Minuten klingelt bei mir das Telefon, ah, eine Nummer mit 089, wer kann das sein. Eine tiefe, warme Stimme mit vertrautem Dialekt spricht mich mit meinem Namen an und mir hüpft das Herz aus reiner Freude, es ist der P., der Sohn des alten Herrn. Schnell sind wir im Gespräch über Vergangenes, kichernd, als wären wir immer noch 12 oder (er) 24, geben wir die aktuellen Alterszahlen an, unglaubliche 50 Jahre später, gleichen Erfahrungen ab, und ob es den alten Holztrog noch gibt, und wann unsere Eltern gestorben sind, und ja, damals hatte es noch Kühe und die Großmutter sorgte sich, dass das Gemuhe die Gäste stören könnte. Jetzt ist das Haus runderneuert und ich könne die Ferienwohnung haben, in der wir damals schon gewohnt haben.

Abgemacht.




Donnerstag, 11. Juli 2024
Statt das Rad zu nehmen und zum See zu fahren, warte ich auf den nächsten Regenschauer, es dunkelt drumherum, aber auf dem wunderbar hübschen windy.com sehe ich, wie der Regen mir und meinem Viertel ausweicht. Blitze sind dort grafisch zu sehen und machen ein kleines knisterndes Geräusch. Online-Aktivitäten haben etwas zugenommen. Ich lese in einem Forum auf telegram mit und schreibe ab und zu etwas zu berührenden Themen. Jemand fühlte sich aus Idolsgründen gestalkt und ich habe mich an meine starken Sehnsüchte bezüglich bestimmter Musiker, Künstler oder Autoren erinnert: wie ich viel Zeit verbrachte mit lang und breit bebilderten Ideen, wie sich ein Treffen gestalten könnte und warum überhaupt. Wohl aus einem Mangel an Liebe und Aufmerksamkeit heraus. Plan, die eigenen Kunstfertigkeiten zu vollkommnen und sich selbst das geliebte Idol zu sein.

Jetzt ist der Regen über mir, über uns. Auf der Fensterbank gedeihen Kräuter, die ich nicht ernte, sie blühen und geben Samen fürs nächste Jahr. In der Rotte, angelegt in der Regenrinne, die vom Fenster des Arbeitszimmers zu erreichen ist, liegen Nutzhanf-Stengel, auf die es jetzt ordentlich schüttet. Ich möchte Fasern gewinnen und mir ein Kleid daraus häkeln, angeblich sind jene der männlichen Pflanzen weicher.

Am Nachmittag treffe ich die Schlagzeugerin zum Häkeln und Stricken. Ich arbeite an einem Kunstobjekt, das im Herbst in einem Stadtgarten ausgestellt wird. Es ist eine Art Decke mit einem eingehäkelten Motiv, das ich schon vor einiger Zeit begonnen hatte. In einem Plastikkasten ward es aufbewahrt zusammen mit den Puppen. Leider waren schon die Motten im Puppenhaar, die ich durch Lagerung im Eisfach zu töten versuchte. Das war anscheinend nicht gelungen, ich ahnte es bereits und zögerte das Sichten der Wollarbeiten monatelang heraus. Draußen im Hof dann – als ich den halbdurchsichtigen Behälter die Treppe heruntertrug, sah ich schon Krauchen- und Fliegendes – überkam mich Ekel beim Öffnen des Deckels; mittlerweile war alles komplett zugemottet, welch deprimierender Anblick! Das Kunstobjekt Decke wies interessante Löcher auf, mitten im Hauptmotiv und auch an den Rändern. Ich beschloss, das künstlerisch Beste draus zu machen, das Konzept umzudeklinieren und die Löcher als gewollt einzubetten, Vergänglichkeit, Sie wissen schon, daraus sollten dann die gehäkelten Ranken wachsen, die offensichtlich das Gewebe zerstörerisch durchdrongen. Ну да.




Dienstag, 2. Juli 2024
Kann man überhaupt dazwischen sein? Im Moment drehe ich eine Runde durch den Stillstand. Aber im Traum heut Nacht bezogen wir, drei Designer für Grafik und Textil, neue Räume in einer Burg in meiner Heimatstadt. Wir kannten einander noch nicht sehr gut, gerade die Arbeiten des asiatischen Mitstreiters hatte ich bisher nicht gesehen. Die Begeisterung aber, die uns durchfloss, ließ keinen Platz für Zweifel an unserer Unternehmung. Die Burgräume waren hoch und luftig – gegenwärtig – wehende Stoffe teilten Bereiche zwischen frisch geweißten Wänden, durch die Fenster mit Rahmen aus Holz blickten wir über Felder, die von wenigen unbefestigten Wegen durchzogen waren, in der Ferne sanfte Berge, die sich im Sfumato verloren.

Die Schulgründung begeisterte mich damals über alle Maßen. Die bunten Vorstellungen einer fröhlichen Schar von Menschen jeden Alters verloren sich im Grau der Gegenwart, des politischen Gerangels, undurchsichtiger Finanzpläne und Besserwisserei.

Благодарю Бога за тот поток, который идет через меня. So kommentierte jemand ein YT-Video der russischen Band DDT. Ist dieser Strom in mir zum Stillstand gekommen? Ist es nur ein Urlaub (отпуск) von oder ein Gehenlassen (отпустить) und dann ganz menschenleer (пустынный)?

Ich werde heute schauen, wie es sich mit allem verhält. Bleiben Sie dran (falls überhaupt noch jemand mitliest).




Dienstag, 21. Mai 2024
Als ich letzte Woche meine Aufarbeitung der Schulgründung begonnen hatte, wurde mir beinahe schlecht, während ich den Text schrieb. Die Unterströmung gefiel mir nicht. An der Oberfläche war alles ganz wunderbar. Ich arbeitete freudvoll an einem wichtigen, zukunftsorientierten Projekt mit, gab meine Ideen ein und sorge dafür, dass alles, was das Haus verlässt, gut aussieht. Scheinbar nie versiegende, in Farben ausgemalte Phantasien begleiteten mich Tag und Nacht. Die Unbeschwertheit unserer Ideen war begeisternd, belebend, verjüngend. Wie wir alle in einem tollen Gebäude zusammensitzen, Erwachsene und Kinder, Eltern, Lehrer, Begleiter, Handwerker, Organisatoren, Freunde, Helfer. Ich dachte mir Unterrichtseinheiten für Schrift, Gestaltung, Zeichnen, Stricken und Häkeln aus, die anderen mochten Ähnliches im Sinn gehabt haben, und feilte mit an Aussehen, Rechtschreibung und Grammatik des Gesamtkonzeptes. Sogar Möbel waren bereits organisiert, die Bestefreundin wollte gemütliche Sitzgelegenheiten spenden und auch das Klavier bot sie an, ja, wir brauchten unbedingt Musikinstrumente, auch ein Gewächshaus draußen, innen Teppiche und Kram zum Spielen und Lernen.

Gleichzeitig wurden aber Strukturen geschaffen, ohne dass ich sie so recht wahrnehmen wollte. Die Eltern, deren Mitarbeit dringend benötigt wird, wurden in AGs organisiert oder angewiesen, sich selbst zusammenzufinden. Die Anweisungen unserer Speerspitzen-Lehrerin wurden strenger, nicht alle Eltern, oder eigentlich niemand wusste um die Einzelschritte einer Schulgründung, woher auch. Vertrauensvoll ließen wir zu, dass Anregungen zu alternativlosen Anweisungen mit kaum verhohlenem Befehlscharakter wurden. Der rauhe Ton begann uns zuzusetzen, in heimlichen Chatgruppen wurde schon über die diktatorische Leitung gelästert. (Ich selbst bin in zwei abgespaltenen Gruppen der Ratlosigkeit.)

Der Punkt, an dem ich ausstieg, war ein politischer. Bisher hatten wir es geschafft, gesellschaftspolitische Meinungen tolerant abzupuffern und nicht in die Diskussionen mit einfließen zu lassen, obwohl klar war, dass es verschiedene Meinungen gab. Die Lehrerin, daselbst bei jenen Demonstrationen zugegen, die sich gegen eine gewisse Partei aussprachen, forderte in einem unsäglichen Keifton, dass nun wir uns als Schule ebenfalls zu positionieren hätten. Im Zuge dieser ganzen politischen Schuld- und Unrechtszuweisungen waren auch wir hintenrum als demokratische Schule in Verdacht geraten, von völkischen Interessen, Schwurblern und anderen Antidemokraten unterwandert zu sein blabla.

Wohl die Hälfte der Gründer, darunter auch ich, wollten sich nicht positionieren müssen, denn in allen offenliegenden Schriften, Websites, Flyern und Informationsmaterialien geben wir uns deutlichst als Demokraten, Verfassungsfreunde etc. zu erkennen. Es sei unnötig, dieses dauernd zu wiederholen, fanden wir. Es wurde darüber nicht demokratisch abgestimmt. Sowieso schien sich das Demokratieverständnis unserer Speerspitze in einer Suppe aus Gift und Galle zersetzt zu haben. Und so erschien auf unserer Website eine Erklärung, die gleich in den ersten Zeilen von negativen Reizworten nur so strotzte und nun, allen Suchmaschinenoptimierungsempfehlungen zum Trotz (oder gerade deswegen), findet man unseren Schulnamen gemeinsam mit den unliebsamen Attributen. Eine Ironie des Schicksals, oder?

Am nächsten Tag kündigten T. und ich unsere Vereinsposten – zum Kuckuck mit dieser scheinheiligen Demokratie, mit ihrer Weltoffenheit (nach Westen) und einer Ansammlung "freiwilliger" Arbeitskreise. Dieses ganze Gedöns ging mir zudem ans Herz: Ich verbrachte schlaflose Nächte mit Grübeln und sorgenvolle Stunden mit Herzrhythmusstörungen. Kaum hatte ich mich erklärt, die Diskussionsgruppen verlassen und einige der Akteure im Messenger blockiert, ging es mir besser!

Akteure ist auch so ein Wort aus dem Kauderwelsch der Akteure. Die deutsche Sprache hat mittlerweile ordentlich zugelegt an unschönen Begrifflichkeiten, die einen Batzen schwerst erklärungsbedürftigen Inhalts mit sich führen. Ganz zu schweigen vom Gendern mit seinen kunstvoll eingebrachten Wort*innen-Lücken, bei denen mir beim Zuhören jedesmal der Atem stockt.




Freitag, 17. Mai 2024
Naja, wir haben es versucht und manche versuchen es noch. Die Nachbarin T., Mutter des Schulkindes, fragte mich, ob ich die Grafik machen könnte. Natürlich, eine schöne Arbeit, ein interessantes Thema für mich als Lehrerstochter, endlich. Ich war sogar bereit, für den Trägerverein ehrenamtlich zu arbeiten, um dieses Herzensprojekt auf den Weg zu bringen mit professionellem Design.

In Deutschland gibt es die Schulpflicht. Bisher war mir nicht klar, was das für Eltern bedeutet, die ihre Kinder nicht in eine staatliche Schule schicken möchte. Die T. kennt sich da aus. Bekannte von ihr schlossen sich Freilernergruppen an, nahmen Bußgeldverfahren auf sich, meldeten die Kinder aus Deutschland ab, ließen das Kind von einem Arzt oder Psychologen für nicht schulbar erklären, verließen das Land oder liefen irgendwie unterm Radar des Systems.

Das große Vorbild unserer Schule ist Summerhill in England, die vor 100 Jahren gegründet wurde und noch immer schlaue und stolze Schüler gut ausgebildet ins Leben entlässt. So etwas wollten wir auch!

Seit Dezember 2022 war ich dabei. Die Arbeit machte mir großen Spaß, die grafischen Ergebnisse ließen sich sehen und brachten eine Helligkeit und Ordnung ins bisher eher muffige Aussehen. Ich mochte die Menschen, die ihre Zeit, Energie und Liebe in diese Idee steckten, und mit D. und L. haben sich echte Freundschaften gebildet.

Das nötige Fachwissen für eine Schulgründung aber und ein ungehemmtes Durchhaltevermögen brachten R. als Lehrerin und H. als Jungpolitiker mit Finanzwissen mit. R. schrieb das Schulkonzept und H. rechnet an Finanzplänen herum und trifft sich mit Politikern. Sie waren die Speerspitze, wir anderen arbeiteten ihnen zu. Ein Architekt, engagierte Eltern und ein paar gute Denker bereichern die Initiative. Sie war schon 2018 gegründet, als langsam in Gang kommender Versuch, die Welt zu retten. Dann kam die Pest Corona, die Bemühungen erlahmten – nahmen dann aber wirklich Fahrt auf, als wir Neuen dazukamen.

Es war kompliziert. Ungleich viel Zeit ging damit einher, für ein bestimmtes Gebäude Nutzungskonzepte zu entwerfen, Baugenehmigungen einzuholen und Gespräche mit Stadt, Banken und Geldgebern zu führen. Eine ehemalige Sonderschule, deren Grundriss an eine quadratische Burganlage erinnert, in 13 Jahren durch verschiedenste Wohn- und kulturelle Projekte abgenutzt, verunstaltet, veraltet, war Ziel unseres Speerspitzenpaares. Wir wollten es sanieren.

Genau das ist der Punkt, von dem mir jetzt klar wird, dass er im Dunkeln liegt – warum ausgerechnet dieses viel zu große, zu teure, zu schwierige, allerdings schöne, dennoch heruntergekommene mit einem Architekturpreis geehrte Juwel, nun von dummen Menschen verwohnt, besprüht, beschmutzt – das regte mich so auf.

R+H, unsere Speerspitze, wollten das so. Ich verstand es nicht. Es wurden Zahlenreihen und Argumentationen ins Feld gebracht, es gab beleidigte Reaktionen, wenn man andere, einfachere Ideen vorschlug, es wurde gezwängt und gedrängt, und doch vertrauten wir dem Plan. In der Rückschau wirkt es auf mich wie eine riesengroße Profilierungsschau unseres angehenden Jungbonzen, dem wir blauäugig hinterherrannten. Für Gespräche wurden in der letzten Minute Präsentationen aus dem Boden gestampft, die ich mich in der allerletzten Minute beeilte, zu aller Zufriedenheit zu gestalten. Es wurde nicht ausreichend oder gar nicht kommuniziert mit den hoffnungsvollen Eltern, die bereits ihre Kinder angemeldet hatten, wir durften nichts über die Verhandlungen mit der Stadt nach außen dringen lassen.

Kurz gesagt, es war ein irres Spiel. Natürlich zankten wir uns, natürlich gab es unschöne Momente, es wurde geschmeichelt und gedroht, es gab aber auch Zusammenhalt, Begeisterung, wenn wieder ein Schritt getan wurde, einer unter Dutzenden aufreibenden, nervenden Schritte, die Wochen auseinanderlagen, die jetzt, am Ende... wie soll ich's sagen
wir bekommen das Gebäude nicht. Es ist vorbei. Es ist zu groß für uns. Wir haben keinen Plan B oder C.




Donnerstag, 9. Mai 2024
Die Geräusche und Klänge, die im Innenhof zu hören sind, deute ich mal als friedlich. Irgendwo ausländische Radiomusik, ein Klappern wie von einer Leiter, ein hölzernes anderes Klackern. Meine Hausnachbarn sitzen auf der Terrasse, die sich auf dem angebauten Atelier befindet und unterhalten sich leise. Ich kann von oben auf sie herabschauen. Sie lümmeln auf Liegen, die sie auf schwarze Matten gestellt haben, um das Teerdach vor Abdrücken zu bewahren.

Ich habe lange nichts geschrieben. Jedenfalls nicht hier und weniges mit der Tastatur des Laptops. Bleistifte sind jetzt die Schreibgeräte meiner Wahl. Aus den handschriftlichen Texten in meinen Russisch-Heften lassen sich so die Fehler gut ausradieren. Immer noch bin ich mit Begeisterung Schülerin der russischen Sprache und der kyrillischen Schrift. Viel hab ich gelesen über Lernmethoden, und da ich wirklich ungern Vokabeln lerne, praktiziere ich jetzt Lernen durch Hören. So wie ein Kind lernt. Es hört, und dabei entwickelt es langsam ein Gefühl für Klang, Rhythmus und Modulation. Irgendwann entsteht Sinn durch Reihenfolge und zunehmende Kenntnis einzelner Begriffe, gemeinsam mit Gestik und Mimik des Sprechers.

Letzte Woche hatten Ilya, mein russischer Brieffreund, und ich unseren ersten Videochat! Nach einem Jahr hauptsächlich schriftlichen Austausches (incl. Küchenfotografie und gefilmten Petersburger Straßenszenen) sehe ich nun in sein Gesicht. Er ist ein junger Mann Anfang 30 mit hellem Haar und einer Nase, die Mama Märmelnase (von Murmel) nennen würde. Diese Nasenform gehört zu meiner Familienausstattung und ist gar nichts Außergewöhnliches, fällt mir aber sofort auf. Sie läuft eben nicht spitz zu, sondern rund wie eine Kugel, nicht als Aufsatz, sondern einfach rund an ihrem Ende. Sein Gesicht habe ich mir anders vorgestellt, doch es ist angenehm. Von einem Schneidezahn fehlt eine kleine Ecke. Die Haare stehen nach oben, genauso wie ich es zur Zeit halte, nur dass meines grau ist und ich ungefähr 30 Jahr älter bin. Wir beide tragen Kapuzensweatshirts. Aber es geht nicht um Äußerlichkeiten. Und auch nicht ums Alter. Oder?

Einfach rein ins Gespräch – es ist schwieriger als wir dachten. Wir haben unsere Übersetzungstools dabei und lesen die Übersetzungen ab bzw. ich lasse lesen, weil ich fremde Wörter noch nicht flüssig aussprechen kann. Wir sind beide nicht die deutlichsten Sprecher und ich nuschele manchmal so für mich hin, was er natürlich nicht verstehen kann. Das lässt sich alles üben, und wir haben offensichtlich Spaß und Nutzen genug, sodass wir uns über zwei Stunden konzentriert mit beiden Sprachen beschäftigen. Texte des unteren Levels, A1 oder A2, bearbeiten wir, trotzdem aber ist es mit begrenztem Vokabular schwierig zu verstehen, warum haben verschieden angewendet wird, einmal als besitzen und zum anderen als Hilfsverb für das Präteritum. Selbst in diesen einfachen Texten für Anfänger gibt es Ausdrücke und umgangsprachliche Phrasen, die ausgiebiger Erklärung bedürfen. Trotzdem: Wie wunderschön unsere Sprache doch ist.

Schon mehrmals bin ich gefragt worden, wieso ich angefangen habe Russisch zu lernen, schließlich sei Putin doch ein böser Diktator und sein völkerrechtswidriger Angriffskrieg... interessant finde ich daran, dass jemand diese zwei Wörter überhaupt fehlerfrei über die Lippen bekommt, völkerrechtswidriger Angriffskrieg. Ich sag dann, na, wegen der Menschen, der Kultur und Völkerverständigung, wegen des Weltfriedens, gerade jetzt und jetzt erst recht.

Und dann wird ein bisschen skeptisch geguckt, während ich mir innerlich ausmale, wie ich in St. Petersburg spazieren gehe, mir das Denkmal des Hausmeisters ansehe und что, да ну dabei murmele.