Die Leserin und ich stehen an der Haltestelle Tannenstraße und warten auf die Straßenbahn, die uns zu unserem Domizil im Gewerbegebiet bringen wird. Wir sind erstaunlich betrunken für zweieinhalb Gläser Rotwein und faseln bereits. Wir vertragen ja nichts mehr. Ich hatte mir eine schöne Blog-Überschrift ausgedacht, aber schon bald restlos vergessen, worüber wir überhaupt so angeregt gesprochen haben, des Nachts dort in Dresdens Neustadt.

Mit der Leserin ist gut kurzreisen. Schon die ewig lange Bahnfahrt vergeht wie nichts, wir müssen nicht mal das Kartenspiel rausholen, um eine Patience zu legen, zack, sind wir in Leipzig zum Umstieg, essen Kuchen am Bahnhof und bald schon laufen wir durch die vielen Weihnachtsmärkte Dresdens. In jedem halbwegs geräumigen Winkel der Stadt befindet sich eine Ansammlung Glühweinhütten und Häuschen mit Billigkrempel und gebranntem Nusswerk. Welcher nun der berühmte Striezelmarkt ist, will sich mir nicht erschließen, wir sind hier auch nicht zum Striezeln, sondern zwecks einfachen Daseins. Und die Sixtinische Madonna müssen wir unbedingt ansehen, die hängt im Zwinger.

Vor ziemlich genau zehn Jahren war ich hier mit dem Jungen Mann, die Frauenkirche war noch nicht ganz wieder aufgebaut, und auch diesmal finden die Leserin und ich keinen Einlass, weil das ZDF ein Konzert vorbereitet. Ein eigenartiges Gefühl verursacht mir der Anblick einer ebenso großen wie tiefen Baulücke, vor zehn Jahren frisch ausgehoben wegen imposanter städtebaulicher Pläne, wie mir der Junge Mann erklärte – und jetzt, wie nach einer Zeitreise, starrt eben dieses leere Stück Stadt, gewaltig wie einhundert nicht gebaute Schwimmbäder voller Gestrüpp zu uns nach oben.

Wir laufen zwischen den bedeutungsvollen Gebäuden herum, durch Menschenmassen und Wogen dieses peinlichen Dialekts quetschen wir uns bis zur Elbe und erklären uns gegenseitig halb-, viertel- und noch weniger gebildet die Stadt, dort die mittlere Brücke, auch die Mittlere Brücke genannt, die anderen heißen Rechte und Linke Brücke, hier das Gebäude aus der Bierwerbung, der Zwinger müsste es sein, ja, die Madonna schauen wir morgen an, wieso hängt die eigentlich hier und nicht in Florenz? Ein Geschenk an die Stadt? Eine Auftragsarbeit? Geklaut gar? Das werden wir alles im Internet nachlesen, wenn wir wieder daheim sind, verprechen wir.

Mit beiläufig eingestreuter Kapitalismuskritik vertreiben wir uns die knappe Zeit, die beuten sich alle selbst aus, sage ich nicht nur einmal zur Leserin, kaufen fast nichts, jedenfalls kein Nippes, sondern Suppen, koreanische Reis- und Nudelgerichte zum Abend, Wein zur Nacht, Croissants zum Frühstück und finnischen Lachs zum anschließendem Mittagessen. Der Erwerb eines Rentierfells steht zur Debatte, das können wir aber ebenso gut auf dem heimischen Weihnachtsmarkt.

Jetzt schnell zur Madonna. Mit einer Wahrscheinlichkeit von eins zu Unendlich treffen wir den Exmitbewohner der Leserin nebst Liebhaber, ein freudiges Hallo entfacht sich dort im Treppenhaus, es ist einfach erstaunlich. Eine für 14 Uhr anberaumte gemeinsame Kaffeezeit (incl. Gespräch über alte Zeiten) ergibt den Verzehr von fünf Stücken Torte, die allerdings ausnahmslos in des Exmitbewohners Lovers Magen landen! Es gibt ein wenig Beziehungskritik.

Ja und endlich betrachten wir die Madonna, die Raffaelo Santi für den Hochaltar der Klosterkirche San Sisto in Piacenza 1512/1513 gemalt hat. Das Bild ist riesig und während wir davor stehen, verlieben wir uns unsterblich. Anhand von Vergleichen mit anderen Werken, die hier ausgestellt sind, erkennt auch der Ungeübte die herausragende Meisterschaft Raffaels. Die geometrische Bildkomposition ist mir beinahe hörbar: wie sich das Tuch der Madonna in einem imaginären Windstoß nach rechts bauscht, um die Mittelachse nicht zu gefährden, wie sich die Blicke der Personen kreuzen und zu anderen Bildelementen führen, wie die Farben der Kleider sich zueinander bekennen – und dann der Blick des Kindes, sein entspanntes Lehnen in den Armen Mariens, wie beider Augenpaare mit Sixtus' Augen eine Linie und ihre linke Brust zart gewölbt mit dem angezogenen Bein des Kindes eine Parallele dazu bildet, wie Sixtus' beschatteter Finger durch den hellen Ärmel kontrastiert zu uns hin zeigt, ach, und die hübschen Füße der Madonna und all die anderen unglaublichen Einzelheiten des Gemäldes – grandios! – Die erheiternden Putten unten am unteren Rand haben eigenständige Berühmtheit erlangt.

So, genug der Worte, damit ist die Reise auch schon fast erzählt. Wir kaufen mehrere Postkarten der Madonna, auf einer zeichnen wir während der Rückreise alle Linien, Kreise, Ovale, Quadrate, Dreiecke und Bögen nach, die wir erkennen können.