Freitag, 25. Juli 2025
seit ein paar Wochen verzeichnet mein kleines Blog erhöhte Besucherzahlen. Ob Sie nun echte menschliche Leser sind, bots, crawler, russische Abhörorgane oder gar sirianische Professoren – sagen Sie doch mal hallo, damit ich ungefähr weiß, wem ich hier halbwegs regelmäßig und möglichst wahrheitsgemäß meine Sicht auf die innere und äußere Welt erkläre präsentiere.

In der Zwischenzeit sehen Sie eine kleine Illustration vom frühen Weizenfeld, gezeichnet mit цветными карандашами.




Mittwoch, 23. Juli 2025
Zwecks Austauschens von Geburtstagsgrüßen spreche ich mit Cousin J., der ja auch immer nicht zum Arzt geht. Er hat eine verstopfte Ader, die mit einem Prozent Wahrscheinlichkeit einen Schlaganfall verursachen könnte, dagegenhaltend die zwei Prozent Wahrscheinlichkeit eines operativen Fehlschlags. Vielleicht hab ich's aber nicht richtig verstanden. Wer lässt sich schon einen Stent setzen mit so einer kopfschüttelnverursachenden Berechnung?

Während die Familie des Bildhauers jedem Schupfen mit Antibiotika begegnet, besteht die meine, mich eingeschlossen, aus arztkritischem Volk. Der nun tote L., den ich immer noch betrauere, nahm die Schulmedizin nur in Anspruch, um an die Morphine gelangen, die seine Schmerzen linderten. Zu einem echten Kampf gegen seinen Krebs machte er sich nicht mehr auf. Seiner Ansicht nach gab es da viele Möglichkeiten, manche sehr kostenintensiv, aber keiner mochte er vertrauen. Ich habe lange nicht verstanden, wie selbstbestimmt er diesen Körper aufgegeben hat – einfach in dem er nichts tat.

Ich selbst hab's im Vishuddha-Chakra, in der Kehle. Dort sitzt der Selbstausdruck, der Raum, aber auch die Angst. Da ist mal rechts, mal links, mal oben, mal unten ein Druckgefühl und manches Mal schlucke ich dauernd nervös herum, so wie da musste sie schlucken. Meine lange Liste mit den den Hals betreffenden Ausdrücken habe ich durchgearbeitet und stelle am Ende fest, dass ich Angst habe.

Um gleich auf den Punkt zu kommen – die größte Angst habe ich vor einem langen, kränklichen Herumgesieche, vor rat- und endlosen Arztbesuchen, mit gottlosem Herummedikamentieren um der Lebensverlängerung willen, als wäre der Körper eine Maschine, aufgelockert durch hoffnungsfrohe Phasen der Besserung. Jede Minute wäre durchzogen mit der Sorge um den Erhalt des Körpers. Nicht nur des eigenen, sondern auch den Körpern der Lieben – auch dem des Bildhauers. L. hat sich dieser Sorge und dem möglichen Aufkeimen neuer Lebenslust entzogen. Cousin J. macht es ebenso, er, der Rumpelnde, Dauermissgelaunte spricht von Gott und das in Seinen Händen liegende Schicksal. Die ein oder zwei Prozent Gefahr legt er Ihm mit auf die Waage und geht seiner Wege.

Die zehn Jahre, die ich der Mutter dabei zugesehen habe, wie sie sich auflöst, waren voller Schrecken und jede Facette dieser sie ummantelnden Angst wurden von mir im Gefühl und in der Seele aufgezeichnet und kommentiert. Ist es mein Schicksal, dies alles nochmal zu erleben? Mir mir selbst, mit dem Bildhauer, mit der Schwester. Was würde ich anders machen beim Zusehen, was würde ich anders machen mit mir selbst.

Im meinem Weltbild geht alles vom Geist aus, wird alles vom Geist erschaffen. Ich brauche also nur den Geist anders/neu auszurichten und schon ist alles fein. Durchzogen von unheilvollen Glaubenssätzen, die sich im Körper festgemacht haben – ich will mich diesen gern widmen und sie ans Licht bringen. Wie schwierig das ist, weiß ich.

Eine schöne Meditation unternahm ich, in der ich meinem zukünftigen Ich begegnete. Dazu setzte ich mich in meiner Vorstellung oben an den Waldrand über dem Lehen (das ich mit der lieben Freundin D. im Herbst bewohnt hatte) und wartete auf mich in zehn Jahren oder so. Ich sah mich selbst flinken Schrittes die Wiese heraufkommen, schlank, voller Kraft, angemessen gekleidet; rundherum die schöne Kulisse der Berge, ja, auch des Watzmanns und ich kam zu mir, ein paar lächelnde Falten mehr, das kurze Haar noch grauer und wir saßen zusammen, Schulter an Schulter und ich fragte mich. Wie ist es gelaufen, haben wir unser Ziel erreicht? Ich, die Ältere, sah mich nicht an, sondern ließ voller Ruhe meinen Blick über die Berge ziehen – ja, wir haben es geschafft, es ist alles gut. Was ist mit dem Hals? Irgendwann war es vorbei. Und der Bildhauer? Der ist ein guter Mann, wir sind gut. Ich habe nicht gefragt, ob er noch lebt, wer überhaupt noch lebt. Offensichtlich war ich (waren wir) allein in den Bergen, ohne Reisebegleitung und alle Wünsche für die neue Zeit wurden erfüllt, alle Sorge vorbei, mehr musste ich nicht wissen.




Donnerstag, 3. Juli 2025
Der dritte Online-Zeichenkurs bei der moskauer Kunstschule, простая школа, ein Sommermarathon in freier Natur. Wir gehen morgen in die finale Woche, an die letzte Aufgabe. Mit einer schönen Gleichzeitigkeit studiere ich an Paul Klee herum, lese seine Tagebücher und hoffe, aus seiner Reise nach Tunis vor über hundert Jahren und den dort entstandenen Bildern etwas zu lernen. Wie modern das alles wirkt! Und wie einfach! Seine Fähigkeiten zur Abstraktion sind beneidenswert, und obwohl die Reise nur zwei Wochen dauert, erkennt man die Entwicklung zur geometrischen Form. Ich mag seinen euphorischen Ausruf Ich bin Maler! – mein Bildhauer indes findet ihn pathetisch bzw. peinlich.

Die prostaya schkola (einfache Schule – die Erklärung zur Namensfindung wird in einem Filmchen lustig vorgetragen lass es uns einfach Schule nennen) hat sich, wie mir scheint oder vielleicht ist es auch offensichtlich, Paul Klees und sowieso die gesamte Bauhausidee auf die Fahnen geschrieben, als Logo ein einfacher roter Kreis. Das Bauhaus ist seit jeher eine Art gestalterische und mentale Heimat für mich; der Bildhauer bemerkt dazu, dass wir ja auch an einer Hochschule studiert haben, die in seiner Tradition steht. Wie immer man auch zu Walter Gropius' Stadtviertel steht, der Grobian hat die klare Linie nebst rechtem Winkel konsequent verfolgt. Schade um all die verstuckten Gebäude aus der Gründerzeit und ihre das Schönkörperliche betonenden Details. Darauf einfach ein Brandbombenmeer und schon ist alles fort (eine kleine Note des Bedauerns sei mir gestattet).

Die Aktiven des Zeichenkurses – es gibt auch welche, die nur zuschauen – werkeln sich durch die Wochenaufgaben und es gibt schöne Diskussionen zu Themen warum zeichnen wir überhaupt, welche Schnörkel lass ich weg, wie erreiche ich einen meditativen Zustand/Flow und welches Wetter haben wir. Amateure und Profis sind dabei und bei allen kann man eine Entwicklung erkennen. Ich freue mich besonders darüber, dass Strich und Form umfahrende Linie sicherer geworden sind, mir die Aufteilung des Blattes im vorhinein gelingt und Logik und Proportionen (halbwegs) stimmen. Ein anderes, bewussteres Sehen hat sich eingestellt.
Szene am Maschsee, abstrakter geht's kaum
Szene am Maschsee, abstrakter geht's kaum

Ich bin ja nun Rentnerin. Die Aufträge, die ich als Selbständige zu erledigen hatte, waren ohnehin seit einiger Zeit weniger geworden und dann ganz ausgeblieben. Die grafische Arbeit für die Schulgründung hatte mich wegen all der Dissonanzen ausgelaugt und jetzt bin ich froh, dass ich mir Schönheit und Freude selbst besorgen kann. Das Leben ist einfacher geworden, просто жить.

Das Russische selbst entschwindet mir dabei etwas. Ich hatte mir vorgenommen, alle Kommentare erst zu lesen und versuchen zu verstehen und dann erst die fehlenden Vokabeln rauszuschreiben. Nun kopiere ich die Texte gleich und lese sie im Übersetzungstool in deutsch. So verflacht sich leider das Ganze zusehends. Ich hoffe, bald wieder konzentrierter zu lernen. Ich merke aber auch, dass mich an der Sprache nicht so sehr das Sprechen interessiert, sondern der Geist, der sie hindurchweht. Ich fand es berührend und überraschend, die russischen Zeichenkursdamen (ja, es sind ausschließlich Frauen) über Zen/дзен fabulieren zu sehen.

Dürfen die das als Orthodoxe? Kleiner Einschub, ohne länger zu verweilen: Nach der Oktoberrevolution hatte man den russischen Menschen das Christentum nachhaltig ausgetrieben. Die Altgläubigen flüchteten in die Wälder, um Verfolgung und Gewalt zu entgehen. Siehe dazu Agafjas Geschichte, z. B. hier




Mittwoch, 11. Juni 2025
Neulich eine Menge Zeit damit verbracht, alte Texte zu lesen, hauptsächlich die eigenen, und jetzt in der Rückschau ist vieles deutlicher – die großen Themen, die Sackgassen und, wenn überhaupt, die Fortschritte und die Frage wohin geht's. Ich wünschte mich weiser, gereifter, vielleicht bin ich's. Allerdings zwang mich ein Impuls, die zweite Staffel von Berlin, Berlin anzusehen, da sind diese jungen Menschen, die sich das Leben mit dem Versuch, Verbindlichkeiten herzustellen, schwer machen, als da seien Partner, Ausbildung, Studium, Beruf und auf dem Weg dahin jede Menge Unsinn, Emotion und Chaos anrichten. Damals war ich bereits 20 Jahre älter als die Protagonisten, trotzdem hatte ich damals und jetzt wieder die Serie genossen und mich zurückgebeamt in den Zeitgeist der frühen 2000er. Es gab Neues, mit dem ich mich immer noch identifiziere – Musik, Mode allgemein (Trainingsjacken im besonderen), Haare, Taschen, Schuhe, Zeichenstil, Attitude bauchfrei. Ich sah mein äußerliches Leben dort gespiegelt. Ich fühlte mich damals auf der Höhe meiner Kraft.

Aber, in und unter all dem liegt stets die Sinnsuche, die Beschäftigung mit dem jeweils Wahren und Richtigen, mit dem Höchsten, mit Alldem. In den Erwägungen der Indienreisezeit 2005-2015 sind bereits Schlauheiten, deren Wiederlesen mich echt erstaunt. Nicht dass sie mir verlorengingen, aber sie sind nicht so sehr im Vordergrund. In den letzten Monaten widerfuhr mir einiges Angstmachendes, Herz und Darm waren in Unordnung geraten und verursachten eine körperliche Unsicherheit und Instabilität, die ich bisher nicht kannte. Jetzt stellt es sich heraus, dass die körperlichen Vorgänge nicht die Verursacher der Angst sind, sondern umgekehrt, nämlich dass die Seele und ihre Angst im Körper zu sein – fühlbar gemacht wird. Eine Angst, überhaupt da zu sein, jetzt zu sein und auf einem seltsamen Planeten zu wohnen, eher eine Angst vor der Gegenwart und nicht vor der Zukunft, die Fragilität des Ganzen zu verstehen – zu erkennen, dass Gefühl und Materie eins sind, dass beide gemeinsam laufen, ohne Verzögerung des einen. Wieder neu zu entdecken, wie das rechte Atmen sofort auf Herz und Nerven wirkt, wie der Atem die in Unordnung geratenen Gefühle schnell ausgleicht. Dass es Angst gibt, die aus dem Verstand kommt (vor der Zukunft, vorm Altwerden), während die andere Angst aus einer Art innerkörperlicher Mulmigkeit entsteht, unerklärbar, unkontrollierbar, was wiederum Angst macht. Eine für mich hilfreiche Erklärung des Ayurveda-Arztes ist allgemein ein Vata-Überschuss, aus dem Ayurveda mit zu viel Wind, Luft und daraus resultierender Unruhe und Angst, auch geistiger, übersetzbar.

Ja, eine Unruhe hielt mich in Atem, atman, die Seele, es ist ja alles das gleiche. Viel gelesen, gehört, gearbeitet, nachgedacht, und auch das Russischlernen und die Zeichenkurse drehen sich umeinander wie ein oder mehrere wilde Fahrgeschäfte.

Meinen (alten) Texte sind voller Rechtfertigung und Erklärung, und jetzt auch dieser. Ich erkläre mich dauernd; ich musste das tun, weil ich mich von niemandem verstanden glaubte. Die Erlaubnis aber, so zu sein, wie ich bin, bekam ich trotzdem nicht. Und nun das Erkennen, dass ich die ganze Zeit für mich selbst schreibe.
Das tut gut, ich versteh' mich gut und ich tu's weil ich's kann.




Freitag, 30. Mai 2025
Mit der lieben Freundin D. draußen, ausgehen nennt man das wohl. Zwecks Himmelfahrt gab es am nächsten größeren Platz ein paar Buden mit ungesunden Nahrungsmitteln, Getränken und eine Bühne, von der schnell getaktete Musik erscholl. Es regnete leicht und wir standen unter einem großen Volksregenschirm und besprachen das Leben. Meine Blicke schweiften zum Publikum, Leute beobachten, nennt man das wohl, manche hatten schon mittags begonnen zu saufen. Junge und Alte, da drüben stehen L.s Nachbarn, mit denen grüße ich mich sogar, sagt D.. Sie versucht, ihr Leben neu zu takten, L. fehlt mir, die Tages- und Abendgestaltung, die kleinen Gänge im Viertel, das Rumgesitze – auch ich hatte es gern, von ihnen Abends noch raustelefoniert zu werden, wir trafen uns dann auf dem Platz und, ja, taten genau dies: Leute beobachten. Heute nur ist L. nicht mit dabei, er kommt nicht mehr.

An uns vorbei geht dann so ein Mann, vom Aussehen her Rock-Musiker, einer, dem ich vor zwanzig Jahren noch monatelang herzblutend zu Füßen gelegen hätte seufz, gute Haare, markantes Gesicht, braune Augen, coole Klamotten und ein T-Shirt, auf dem im Kreis we're all fucked up steht, was mich besonders reizt, wenn er es politisch meinte. Wie ich ihn angeschaut hatte? Mir sind wohl die Gesichtszüge entglitten, D., die mit dem Rücken zu ihm steht und mich ansieht, lacht.

Diese Szenerie hat mich sowieso in ein längst vergessenes Sujet katapultiert, wo Männer und Frauen mit modischen Attributen aufgewertet und mit Blicken abschätzend sich gegenseitig suchend den Markt betreten. Ich bin nicht auf der Findung (und hübsche 40jährige Männer landen wohl nicht mehr freiwillig in meinen Bett Heim) und deshalb überrascht es mich, wie stark ich (doch) (noch) auf solche Männer reagiere. (Ich schreibe dies mit dem inneren Lächeln einer etwas älteren Frau, die jetzt schon zum Sterben herkommt die von der niederen Minne nicht mehr gestreift werden möchte/kann/darf/muss... ach du je.)

D. und ich wären auch noch ins nahegelegene Etablissement für gute Musik eingekehrt, wenn ich nicht so durchgeregnet gewesen wäre. Zu allem Überfluss dachte ich eine zeitlang an den uraltverflossenen Geräuschemann, der möglicherweise dort am Abend die Tontechnik betreut. Da hätten mich noch mehr Retro-Gefühle erwischt – letztendlich hatten sie mich ja schon – ich weiß wirklich nicht, ob ich ihm jemals würde normal begegnen können, fröhlich und ohne mich wieder selbstbehaupten zu müssen.

Dieser Text möchte gern aus der Spielzeugabteilung abgeholt werden. (Da sieht man, was passiert, wenn man mal wieder unter Menschen geht. Viel zu viel Worte um eine Nichtigkeit.)




Montag, 26. Mai 2025

Ich habe wieder angefangen zu zeichnen, hier eine grobe Skizze des Raumes auf ebenfalls sehr rauhem Füll-Packpapier, das ich zu einem Heft gebunden habe. Ich versuche, eine eigene Handschrift zu finden – die Bilder sind noch recht lieb, die Proportionen stimmen nicht – jahrzehntelang bin ich ja mit Grafik beschäftigt gewesen. Zu erkennen wären die Bäume, die außerhalb der Bibliothek stehen und im Traum viel größer waren, das Sofa ohne Vater, der Handlauf der Balustrade und der Tisch mit Dokumenten, der etwas ungeschickt platziert wirkt. Trotzdem, das Unfertige daran gefällt mir. Ein angedeuteter Boden ist durch einen Klebestreifen ersetzt. Auf in einen schönen Sommer.




Samstag, 24. Mai 2025
Ein Traum: In der Bibliothek fanden wir uns ein, Studenten, die Menschenlebensläufe erforschten, vergangene und zukünftige. Das lichte, sehr neue Gebäude bestand aus Holzstreben, deren Fächer verglast waren, wohindurch die Sonne schien auf Holzelemente im Inneren wie Regale, Tische und Stühle. Die höheren Regale konnten mit Treppen, die zu Balustraden führten, erreicht werden. Es gab abgeschiedene Sofaecken auf und unter niedrigen Ebenen, halb versteckt zum ungestörten Arbeiten. Glänzende Drahtseile schienen die Struktur zusammenzuhalten wie ein Fluggerät aus den frühen Tagen der Fliegerei.

Mein Vater war da. Er hatte Papiere auf einem flachen Tisch ausgebreitet und beugte sich über sie. Er war in seinen Vierzigern, Kopf- und Barthaar länger und schon etwas grau, die Kleidung leger wie zum Naturerleben. Ich beobachtete ihn eine Weile, wir kannten uns nicht, jedenfalls nicht als Tochter und Vater, möglicherweise war er einer der Professoren. Ich selbst war mit einer kleinen Gruppe anwesend, wir wollten das Leben einer bestimmten Frau studieren. Viel Material hatten wir noch nicht zusammen und suchten nun in den Dokumenten dieser besonderen Sammlung. Bei uns allen war eine Aufregung zu spüren, die von der lichtgetragenen Stimmung des hohen Raumes noch verstärkt wurde.

Die Studien sahen ein größtmögliches Eintauchen in das Leben der jeweiligen Persönlichkeit vor, die wir uns ausgesucht hatten, eine Verschmelzung geradezu. Die Kriterien der vorausgegangenen Suche waren – natürlich – das leidenschaftliche Interesse an diesem bestimmten Leben, besonders die Psychologie mit ihren lichten und unlichten Seiten, die Seelenstruktur, ihre Eigenarten und die gewählte Inszenierung auf der selbstgeschaffenen Bühne nebst Einsatz der Gefährten.

Unser Individuum war schwer zu fassen, es gab nur wenig öffentliches Material. Wir suchten es hier zu erweitern. Ich ließ meinen Blick wandern – in den Regalen lagen nicht nur Bücher, sondern auch gerollte Papiere, Ordner, Pappschachteln und Metalldosen, Altes, Neues, an manchen hingen mit Borten oder einfachen Schnüren befestigte Etiketten. Auf die Szene fiel das vom Holz warm reflektierte Licht und das Grün der Bäume draußen mit einem dunkelblauen Himmel. Die Sorgfalt und Schönheit dieses Anblicks nahm mir den Atem.

Wir sichteten, wir versanken in unserem Tun, im Stöbern, Lesen, Betrachten, in der Aneignung. Eine halbdurchsichtige Plastikbox fiel mir auf, undeutlich nur war der Inhalt zu erkennen, durch einen Aufkleber halb verdeckt. In meinem Herzen regte sich eine Möglichkeit – ein Empfinden erst, aber dann mit Macht die Erkenntnis: hier würde ich fündig werden. Hier würden sich alle Optionen des gesuchten Lebens mir erschließen! Die Begeisterung, welche meinen Geist erfasste, war süß und voller Leben. Ich hatte eine Entdeckung gemacht. Sie war die meine. Dieses Leben war das meine.

Dann erwachte ich.




Freitag, 16. Mai 2025
Im Friedwald ist es frisch, der Wind weht und ich bin froh, dass der Bildhauer die Wolldecke dabei hat, die ich mir umlege und auch er kuschelt sich mit drunter, während wir auf den Holzbänken Platz nehmen, unsere Blicke auf den Redner heften, manchmal aber sehe ich mich um, alle frierend, die Kinder in den großen Jacken der Erwachsenen versteckt. Die Rede würdigt L.s gesamtes Leben. Ich sinke etwas in mich hinein, weil ich (mit einer Sonderform von Scham) begreife, wie wenig ich über ihn weiß. Fast nichts. Seine Sehnsucht nach einer besseren Welt hat uns zusammengebracht, uns Schulgründer. Seine Talente und Leidenschaften, sein Streben, sein Tiefblick, seine Abkehr vom normalen Herumgelebe. Die Sinnsuche. Alles ähnelt der meinen und ist doch anders, irgendwie eher auf der schweren, dunkleren Seite geblieben, wo ich mich doch auf dem Pfad der Erhobenen Herzen meine. Der Redner zitiert die Frauen mochten L. und er mochte die Frauen. Eine leise, sonderliche Eifersucht gerinnt in mir. Ich habe L. nicht als Mann gesehen, den ich zu erobern suchte. Unsere Begrüßungs- und Abschiedsumarmungen waren sorgfältig, fest und mittellang, und eher empfinde ich uns als Geschwister des Geistes, die sich spät erst getroffen, aber nicht zu Ende kennengelernt haben und nun ist er fort.

Ich glaubte mich ihm gegenüber als weiser, geklärter, beide aus dem Geschlecht der Besserwisser und Belehrer, auch Schwurbler, und doch meinte ich, ihm Ratschläge geben zu müssen, dann wiederum sah ich ihn als meinen Mentor, das stimmt auch. Politik, Ernährung, Meditation, gesundheitliche Maßnahmen. Wir beide hatten unsere eigenen Köpfe, natürlich.

Nach der Rede und etwas Musik, die uns zum Weinen und Lachen brachte, noch ein Blick auf das bereitgestellte Foto aus jüngeren Jahren und wieder das Gefühl, dieser jüngere L. ist mir fremd, dann den Weg zur letzten Ruhestätte. Ich kenne nur Begräbnisse mit Sarg und einer großen Öffnung im Erdreich, meist mit Plastikrasen umlegt und einer Art Holzsteg. Die kleine Höhle am Fuß des Baumes, dort bei der Lichtung – endlich ist es uns wieder warm, nach dem kurzen Gang dorthin und der Sonne auf den Schultern – übersehe ich fast. Nach ein paar geneigten Worten wird die Urne, die sich in einem halbdurchsichtigen Beutel befindet, an der Schnur herabgelassen. Jeder streut Blumen oder Erde hinein. Der Bildhauer und ich gehen zusammen mit T. und den Kindern und streuen auch. Unsere kleine Gruppe entfernt sich als erste. Die Kinder sind ungeduldig und wir auch.

Später im Garten sind alle wieder da und verzehren mitgebrachte Speisen. Die Stimmung ist sehr schön. An der Hecke sind mit kleinen Wäscheklammern Fotos von L. befestigt. Wieder schaue ich mit vorsichtigem Blick und sehe ein Leben, das mir nun endgültig verschlossen bleibt, L. und D. viel jünger, beide mit langem Haar und hippiesk am Strand mit ebensolchen Fahrzeugen oder im wilden Garten. Schnipsel ihrer beider Leben – L.s Blick in die Kamera und somit zu mir als Betrachter ist offen und intensiv. Ich fühle mich ertappt.




Montag, 28. April 2025
Anfang Oktober reisten D. und ich Richtung Südost, um den Berg anzusehen. Statt meiner Eindrücke gibt es erstmal ein bisschen Gemaule, weil ich gerade entdecke, dass ich nicht weiß, wie Time-Machine funktioniert. In der Hoffnung, dass die Вфеут вфтт ыфсрщт шкпутвцщ huch, falsche Taste – dass die Daten dann schon irgendwo liegen, wenn ich sie wirklich brauchte, mache ich regelmäßige Backups. Jetzt suche ich ein Bild vom Berg. Die liegen alle in verschienenen Ordnern! Ich hatte darauf verzichtet, eine ordentliche Kamera mitzunehmen, nur das kleine Nokia 3310 (new) mit seinen erstaunlichen zwei Megapixels (um den Berg zurückzurufen). Und solche stimmungsvollen Bilder kommen dabei heraus:



Wir liefen im Regen durchs Wimbachgries, links der Berg Watzmann) und rechts der andere (Hochkalter). Es war wunderschön. Seelisch erhebend, obwohl wir so klein hier unten – der Berg wirkte viel mächtiger als in meiner Kindheitserinnerung, sonst ist es ja umgekehrt.




Samstag, 26. April 2025
L.s Bücher, die ich mir ausgesucht habe, liegen griffbereit. Sie behandeln teils spirituelle, teils gesellschaftskritische Themen, manche sind aus den 70er Jahren, als der damals noch junge L. begann, sich für seine Umwelt und sein eigenes, damit verknüpftes Leid zu interessieren. Die Neuesten ringen um eine Aufarbeitung der Corona-Zeit. Es bereitet mir Unbehagen, in diesen zu lesen und so widme ich mich ersteinmal jenen über die verschiedenen Indianer-Kulturen und dem schönen Lila – Das kosmische Spiel nebst Spielfeld, das L. eigenhändig laminiert hat, dem Astrologie-Buch mit den wunderbaren Bildern aus Jahrhunderten und der Textesammlung zur Weisheit der Upanishaden.

Zwei Wochen Traurigkeit. Ich denke sehr oft an L. und ob/dass er sein spirituelles Ziel ereicht hat. Dem Jahr seit der Diagnose ist er mit einer Art therapeutischem Eifer im Garten begegnet und alles schien darauf hinzudeuten, dass er gesunden möchte. Wie wir einge Kubikmeter an frischer Erde in den Garten gekarrt hatten, wie er den Ertrag von Gemüse und Pflanzen aller Art (auch Hanf, den er mit dem Bildhauer geteilt hat) genossen hat, wie er noch den Schornstein gemauert hat, bevor Anfang des neuen Jahres das Anlegen neuer Öfen in den Schrebergärten nicht mehr gestattet war.

Ich selbst war in den Frühjahrsmonaten mit aufregenden Dingen beschäftigt, während es L. immer schlechter ging. Zwei Online-Kurse an der Moskauer Kunstschule fesselten meine Aufmerksamkeit und es war so, als würde ich für eine Auftragsarbeit noch was drauflegen. Dabei habe ich mir den Auftrag ja selbst gegeben. Collage und Zeichnen wählte ich aus. Dabei lernte ich viele neue russische Wörter wie bedingter Raum, wobei interessant ist, dass ich für einige Begriffe keine Entsprechungen im Deutschen fand. Sogar der Name des Kurses, der sich in etwa in Urbane Schnörkel übersetzen lässt, bleibt wage. Es gab überraschende Momente, als mein Blickwinkel sich komplett drehte, wenn die Lehrerin begann, Fragen zu Komposition und Farbe zu stellen und mir dann ihr Verständnis meiner Arbeiten vorlegte. Ohne die Aufgabenstellungen und besonderen Anleitungen wäre ich nie zu solchen Zeichnungen gekommen. Alle Teilnehmer hatten völlige Freiheit, sich auszuprobieren und das Sujet zu erforschen. Die vielfältigen Kursangebote, die besonderen Herangehensweisen und deren professionelle künstlerische Betreuung ziehen mich sehr an. Ich kann mich nicht erinnern, solch eine Begeisterung während des meines Studium erlebt zu haben und auch eine Gruppenbesprechung der Resultate fehlen, wenn ich zurückschaue. Vielleicht war ich damals auch nicht reif dafür und habe sie geschwänzt.

Uns beiden, L. und mir, ist gemein, dass wir der aktuellen Situation im Land ausweichen (ich hoffe, das klingt nicht unangemessen). In der Beschäftigung mit der russischen Sprache und der künstlerischen Arbeit habe ich ein reizvolles Konzentrationsobjekt gefunden. Seinerzeit übte ich Mantren in Sanskrit, jetzt russische Vokabeln und zwischendurch betrachtete ich ohn' Unterlass das zermürbende politische Geschehen (ein Trauerspiel). L. hingegen war draußen im Garten und jetzt ist er heraus aus der Welt. Neid ist sicherlich nicht das richtige Wort, aber ich muss gestehen, dass ich seinen Weg als nachahmenswert empfinde. Doch, es hält mich einiges: die geometrische Form, die jetzt gerade das Sonnenlicht durchs Fenster auf die Wand mir gegenüber wirft, die meditative Stimmung, die mich heute erfassen mag, wenn ich durch den Tag treibe, die Zubereitung eines gesunden Mahls (ja, ich sollte mit dem Zucker sparsamer umgehen), die Aussicht, mit dem Bildhauer morgen draußen zu sein und zu zeichnen, zu fotografieren, zu schnitzen. Wir werden sehen.