Erst viel zu spät fällt mir ein, dass ich die Lieblingschefin hätte fragen können, was denn mit ihr los sei. Viel zu spät bedeutet dabei auch, dass ich mir zu viele Gedanken darüber mache, was denn überhaupt los ist. Sie neigt zur freundlichen Attacke, mit diesem Lächeln und dem besorgt schräg gehaltenen Haupt, ich möchte sie hier auch nicht kritisieren, denn eigentlich haben wir uns lieb und hätten beinahe mal geknutscht. Vielleicht ist die Mischung brisant, eine durchaus körperlich zu nennende Freundlichkeit zusammen mit der sicherlich notwenigen Chefinnen-Strenge, die jede Erotik wieder zertrampelt, wo sie gerade angeblüht war.

Was peinliche Gefühle anderer betrifft, so bin ich taktvoll, ich kenne sie nur zu gut und möchte die andere verschonen, verdränge aber, dass ich mich selbst dabei nicht schone. Ich kenne die Lieblingschefin so gut und als wir beinaheknutschten, war zwischen uns solch Behutsamkeit und Sanftheit, dass mir schon Bilder einer möglichen Zukunft ins Hirn waberten, dramatisch und ebenfalls peinlich, so bin ich bei der bloßen Empfindung geblieben, ihre pfirsichzarte Wange an meiner, mein Handrücken an ihrem Sommersprossenarm, und da war Lächeln und Seufzen und ich wusst' nicht, wohin damit.

Mit mir war jetzt jedenfalls nichts los, aber mir ihr. Hätte ich sie zurück gefragt, wäre sie sicher in Tränen ausgebrochen, aber derart blieb die Pein bei mir und hielt mich Nachts wach.

Das sind alles so kleine Dinger, die zusammengehören.

Googeln nach "Abgrenzung", denn ich hielt jetzt meine mangelnde Fähigkeit hierzu für den Auslöser nicht nur dieser Szene, sondern auch vieler anderer Probleme, viel zu viel, innerlich folgten Listen, wohin mich meine dauernde Verfügbarkeit schon gebracht hatte. Verfügbarkeit ist ein noch krasseres Wort als Erreichbarkeit, ersteres hat (für mich) zusätzlich eine körperliche Note, und da beginnt das ganze intim zu werden, zu nah. Ich fand einige Texte (z. B. hier http://www.medizin-im-text.de/blog/2011/886/abgrenzung/) und las mich im Thema Hochsensibilität fest, eine Art emotionalem Pendant zu Hochbegabung. Kannte ich noch nicht. Es gibt Fragebögen, die mich zu 100% als HSP (hochsensible Person) ausweisen und obwohl ich das Erschaffen von und sich Einordnen in Kategorien irgendwie unangenem finde, konnte ich mich spontan zugehörig fühlen. "Wir HSP" – in entsprechenden Foren war mir das dann aber doch zu fett, eine Gruppe HSPler ist an sich ein Witz.

Trotzdem, jetzt verstand ich Vieles. HSP haben keine Filter, um Stressvolles auszublenden, sind kreativ, emphatisch bis zur Selbstauflösung, durchdringen Stimmungen, Unausgesprochenes und Lügen sofort und so weiter. Der Verstand rast und möchte alles begreifen, nicht zuletzt das eigene Dasein und den Tod, es mangelt an Ruhe und der Fähigkeit, zwischen deinem und meinem zu unterscheiden, der Abgrenzung. Was oft wirkt wie schroffe Ablehnung und Verschlossenheit ist eher ein zu großes Mitgefühl, das den Menschen schnell erschöpft.

Meine Recherchen haben mir auch gezeigt, dass bereits ein Psycho-Markt entstanden ist und Therapeuten und Coaches Therapien und Methoden anbieten, um die Symptome zu lindern, nein, keine Symptome, schallt es durch die Foren, HS sei ja keine Kranheit, aber immerhin 15-20 % seien davon betroffen.

Allerdings habe ich das Gefühl (haha), dass mein gesamter Bekanntenkreis hochsensibel sein muss. Dass die Geschichten, die ich hier berichte, die Streitereien mit der Busenfreundin, die Sorgen um die Mutter, die Dialoge mit der Buddhistin, der Liebeskummer, die Reflexionen, die Wirrungen, die Selbstzweife und nicht zuletzt die spirituelle Suche dadurch so reichhaltig werden. Der Umgang mit HS sei lernbar und die Umwandlung von Empfindsamkeit und Verschlossenheit in Offenheit und Herzlichkeit durch Kreativität und Humor steht in Aussicht.

Also wieder eine Schublade. Die ich sofort verlasse, nachdem mich mancherlei Erkenntnis geflasht und dann entspannt hatte. Wie herrlich ich schlafen konnte. So als wäre eine Erlaubnis geschehen, so sein zu können. Eine Erlaubnis, die ich mir selbst gebe, natürlich.

Jetzt möchte der nimmermüde Geist natürlich gleich versuchen, das Konstrukt in die Yoga-Philosophie zu integrieren, denn es muss ja alles passen. Das kann er gerne machen, aber ohne mich. Ich ruh' mich derweil etwas aus.





Es ging mir bei der Konfrontation mit dem Thema ganz ähnlich. Die Erkenntnis darüber, dass das Phänomen auch andere erfahren und erleben und dass man einen Namen dafür hat, stand der Schubladenerfahrung gegenüber. Es ist erleichternd, eine Erklärung für das zu finden, was einem in der Vergangenheit als Fehler angelastet wurde ("Meine Güte, Du bist aber auch empfindlich!"). Gleichzeitig wehre ich mich mit Händen und Füßen gegen eine Pathologisierung, und auch dieser übertriebene Stolz ("Wir HSP!") ist meine Sache nicht.

(...) die Umwandlung von Empfindsamkeit und Verschlossenheit in Offenheit und Herzlichkeit durch Kreativität und Humor (...) - bei der Aussage dreht sich mir dann wiederum der Magen um. Empfindsam und verschlossen zu sein ist halt doch nicht akzeptabel, man muss schon irgendwie lernen, herzlich und offen zu sein - diese Maßgabe ist es dann, die einen doch wieder vom Kurs der Selbstakzeptanz abbringt und darin endet, dass man Spiele spielt, Theater macht und über Grenzüberschreitungen mit "Humor" hinweggeht. Tödlich! Wenn einem Körper und Psyche sagen, es ist genug, dann hat das Gründe.

Es freut mich, dass Sie gut schlafen konnten. Ich weiß, was das wert ist.

Wobei "Kreativität und Humor" ganz allein für mich wären, nicht für die anderen und auch nicht gespielt. Nichts ist schöner, wenn eine Abgrenzung mal geschafft ist, und der eigene Blick mit "Humor", meinetwegen auch Ironie oder einer Prise Zynismus von ferne auf das Geschehen fallen kann, und das hat bei mir den Effekt dass ich lachen muss, kein böses, sondern ein befreites Lachen. Und die Kreativitätsschübe, die folgen, wenn eine Sache durchlebt und durchschaut ist, sind ein Genuss – nicht für (oder gegen) die anderen, die haben dann damit gar nichts zu tun.

Die Akzeptanz suche ich dann nicht im Außen, es ist gerade schön, dass ich einfach akzeptieren kann, dass ich so bin. Dass mich Situationen stressen und ich mir erlaube, davon fern zu bleiben. Zu erkennen, dass verschiedene belastende Begegenheiten nicht auf meinem Fehlverhalten beruhen. Allgemein Verständnis, ja und daraus entsteht dann durchaus Schönes.

An Kreativität und Humor habe ich auch gar nichts auszusetzen, im Gegenteil. Ich finde einfach, dass man sich von den äußeren Anforderungen frei machen muss, um herausfinden zu können, was für einen selbst funktioniert. Wenn Sie also Kreativität und Humor in sich selbst finden, wenn die einfach rauswollen, dann gilt es, das zu genießen. Inklusive Selbstironie.

Vielleicht ist es ebenfalls besonderer Empfindsamkeit geschuldet, dass ich Anforderungen von außen überall wittere (wir hatten es ja auch schon mal über Erwartungsdruck). Dazu kommt, dass ich in meinem Leben oft mit Aussagen konfrontiert war wie "Verstehst Du keinen Spaß?" oder "Du nimmst Dich/alles viel zu ernst!" Auf diese Weise lässt sich eben auch sehr effektiv über Gefühlsäußerungen hinwegbügeln, und schon ist man dann wieder beim Thema Grenzüberschreitung und mangelnder Akzeptanz für das Sein.

Dass man es in allererster Linie selbst sein sollte, die akzeptiert, stimmt. Es ist eine aufregende Erkenntnis, wenn man merkt, dass einem das gelingt, ohne dass innere Stimmen werten, meckern, kritisieren und degradieren.