Montag, 2. Juli 2018
Der Mutter schräg gegenüber am Tisch im Tagesraum sitzt eine weißhaarige Dame. Sie schaut stets etwas beiseite, und so dachte ich anfangs sie wäre blind. Tatsächlich nimmt sie jede vorbeigehende Person wahr, auch wenn sie sie nicht direkt anschaut, und fragt, wie immer — wie jede, alles gut? Und wie immer antworte ich großzügig, so als hätte ich die Welt in den Händen, ja klar, alles gut! Wenn es die Umstände erlauben, füge ich noch einen Grund des Gutseins hinzu, das schöne Wetter z. B..
Wie sehr ich mir wünsche, dass einmal mir jemand versicherte, alles sei gut.
Alles.
Ich müsste mich um nichts sorgen.




Dienstag, 26. Juni 2018
In Hörweite gibt es eine Amsel, die die ersten vier Töne von Whole Lotta Love singt, rhytmisch astrein, den fünften variiert sie – mal zieht sie ihn in die Länge, mal kommt er tirilierend, dann wieder so schräg, als hätte sie sich in der Skala vertan. Oft sitzt sie wohl auf dem Schornstein und dann höre ich ihre Melodie, durch Kamin und Badezimmer noch verstärkt, in allen Räumen und freue mich, und wundere mich immer wieder, auf welche Weise so kleine Vogelkörper derart durchdringende Stimmen erzeugen.

Anderes Schönes entfaltet sich ebenso. Der Bildhauer und ich nehmen jetzt definitiv an einer Ausstellung teil, die im Herbst im berühmten Garten der Stadt ausgetragen wird. Ein Studienfreund des Bildhauers bildet mit einer imaginären Geschichtsalternative, die sich nach 1945 zugetragen haben könnte, die Erzählung, innerhalb derer wir unsere Objekte ansiedeln. Plötzlich bekommen die Flugskizzen des Bildhauers eine stimmige Heimat und auch meine 1:4-Objekte erfahren eine Sinnhaftigkeit, als hätte ich seit einem halben Jahr allein darauf hingearbeitet. Meine Wohnung ist voll von Knäueln und Bündeln verschiedener Garne und Schnüre, die meine gesamte Vorstellungskraft wecken, wie Farben und Texturen zusammenkommen, wie Kleidung und Knöpfe, Haare und Mützen die Persönlichkeiten meiner Objekte bilden.

Es ist eine Zeit großer Gestaltungskraft – ich hätte nicht gedacht, dass das möglich sei. Erhellend auch die ausdauernden Gespräche darüber, was Kunst sei, wer Künstler, und was gute schlechte interessante Kunst ausmacht. Wir wollen eine Geschichte erzählen und bieten eine Art Raum, der unsere Objekte enthält, die außerhalb dieses Geschehens eine gänzlich andere Berechtigung haben. Auf diese Weise müssen sie nicht einzeln erklärt werden, sondern bestimmen sich von selbst durch die sie umgebende Erzählung.

Über alldem liegt die große Trauer über die Mutter und ihren langsamen Abschied aus dieser Welt. Ich folge ihr nicht mehr – das zu versuchen, hat mich Kraft gekostet. Wie sich sich im Innern fühlt und was sie denkt, in welchen Welten sie sich aufhält, bleibt mir verschlossen. Sie wirkt ruhig, und sie spricht nicht mehr viel. Sie sucht nach Worten und gibt schnell auf, ich stelle es mir vor als eine Art Aufleuchten des Wunsches etwas Bestimmtes zu sagen, aber das Leuchten verschwindet, bevor die Idee reif ist, und bald auch der Wunsch und dann ist wieder Ruhe. Es ist wichtig, darüber nicht in Verzeiflung zu versinken. Jede Unsicherheit meinerseits bedeutet der Mutter, dass etwas nicht in Ordnung sei, außer Kontrolle geraten. Mit dem, was ich von den spirituellen Traditionen gelernt habe, versuche ich wenigstens für mich, Ordnung, Verständnis, Güte und was weiß ich noch zu gewinnen.

Das geht ganz gut.




Dienstag, 29. Mai 2018
Manchmal gönne ich mir einen Besuch bei dem Mütterchen, bei dem ich keine besondere Rolle spiele. Weder die der tröstenden oder zurechtweisenden, noch die der traurigen Tochter oder der nach einem aufmunternden Gespräch suchenden. Dann gehe ich zur Gartengruppe ins Heim. Eine der Betreuerinnen, Mama nennt sie Lehrerin, hat im hinteren Teil des Grundstücks einen Garten angelegt, mit kleinen Wegen und einer Sitzgruppe inmitten von bereits üppig wachsenden und blühenden Pflanzen, in Erdreich und Hochbeeten, in Töpfen und Kästen. Auch gibt es einen kleinen Brunnen, der niedlich plätschert, sobald die Sonne scheint, denn er läuft auf Solar. Sogar das Mütterchen weißt das mit dem Solar.

Die sechseckigen Hochbeete sind praktisch. Man kann mit dem Rollstuhl ranfahren, sitzend die Arbeit verrichten und sich mit den Ellenbogen auf dem Rand abstützen. Ich bleibe im Hintergrund und beobachte, wie Mama mit kleinen Bewegungen der Anleitung folgt, die Erde aufzulockern und frische glattzuharken. Sie hält die Handharke fest, die Linke streicht ebenfalls über die Krumen, sie wirkt dabei konzentriert und lebendiger als sonst.

Ich sehe ihre Schultern und ihre weißen, dichten Haare, die sie recht lang und ungebändigt trägt, – und ein Gefühl von Geborgenheit kommt über mich: Da ist meine Mutter, die im Garten herumgräbt und ich bin wieder ihre Tochter, die sie sorglos beobachten darf, nachher geht sie bestimmt ins Haus und kommt mit einer Limonade oder einem Kräutertee zurück, und dann sitzen wir rum und schauen auf das Geschaffene.

Nachdem die Erde bereit ist, sät die Lehrerin Möhren, Radieschen, Pflücksalat und Gurken aus. Gestern, nach fünf Tagen, sieht man schon die ersten Sprießlinge.




Freitag, 18. Mai 2018
Voller Bilder an diesen Tagen. Eine Unruhe, das alles umzusetzen. Für manches bin ich wie immer zu spät, für einiges zur rechten Zeit. Es macht wieder etwas richtig Spaß. Ein Hin und Fort zum und vom Mütterlein. Immer mehr ein Fort. Immer mehr ein Hin zum schöpferischen Arbeiten. Zu mir. Reiche Träume, bunt und golden. Es fließt Geld zu den Kindern, die müde und traumatisiert in zärtliche Arme fallen. Welten in Welten. Übereinkunft mit dem Bildhauer über Lächerlichkeiten. Alles verstehen wollen. Vieles beiseite lassen. Und offen bleiben.




Sonntag, 1. April 2018
Natürlich war ich nicht die ganze Zeit krank, weshalb ich nichts geschrieben habe, sondern beschäftigt. Heute fällt Ostern auf den 1. April, also aus. Es ist eine gute Zeit, zwar gespickt mit kleinen, aber leicht zu umschiffenden Schwierigkeiten, wovon die eine ein schmerzhafter Arm von zu vielem Arbeiten in Größe 1:4 ist. Kleine Pause davon. Ja, das war’s auch schon von mir.




Dienstag, 27. Februar 2018
Hatte ich bisher gedacht, ich sei unsterblich, bekam ich jetzt eine Grippe. Bin also auch dabei. Mir ist öde. Traue mich nicht, die Fenster zu öffnen, um die Bronchien nicht zu sehr zu reizen und frage mich, ist jetzt Vata erhöht oder Pitta, wegen des Fiebers? Einer ayurvedischen Lebensweise zu folgen, heißt ja nicht, dass man sie von Grund auf begreift. Aus Langeweile habe ich einen twitter-Account eröffnet, wohl wissend, dass ich dort nichts zu sagen habe. Vielleicht kann ich mal mit dem britischen Gitarristen kommunizieren, ich sehe aber, dass er Fans kaum je antwortet. Was soll man auch sagen zu ich find’ dich toll oder ich besitze alle deine Platten oder ich trage meine Haare wie deine? Oder lieber doch siezen? Das geht ja im Englischen nicht so gut, Mr. C.

Die neuesten kreativen Arbeiten bewegen sich in Miniaturwelten von 1:4 oder so. Der Bildhauer hat mir einen Bogen gebastelt, dazu drei befiederte Pfeile in einem Köcher aus feinstem Fensterleder. Noch nie habe ich so ein schönes Geschenk erhalten!




Samstag, 17. Februar 2018
Einiges an Unruhe im Außen, innerlich beschäftige ich mich mit Häkelanleitungen und wie ich einen passablen Fuß hinbekomme, ohne im Detail zu verpeinlichen. Einige neue Ideen wabern herein, ich fühle mich schöpfungssicher und großherzig. Der Bildhauer macht eine Nahrungsumstellung wegen seines Rheumas. Interessant, wie der Geist mit Ungewohntem umgeht und sich am Falschen ab-krisisiert, gegen das unerkannt Richtige revoltiert, sich an seiner Revolte stärkt und gar nicht merkt, wie schicksalsergeben er eigentlich ist. Fast muss ich lachen, und ich bin froh, dass er fähig ist, sich nicht allzu ernst zu nehmen. Ein paar aufregende Monate stehen bevor, in denen auch ich mich neu messen kann an meinen Ideen. Alles geeignet, um aus der Grübelschleife wg. Mama zu gelangen, die erkanntermaßen zu nichts führt. Hier geht es jetzt weiter, es ist bunt und gehäkelt und hat tolle Haare. David Bowie wurde zitiert, es sei ihm wichtig, dass sich die Leute positiv an seine haircuts erinnern, nach seinem Tod. Finde ich auch.




Montag, 22. Januar 2018
Dieses Wochenende bin ich bei meinem Bildhauer. Wir wechseln uns ab; wer des anderen Gast ist, braucht sich um nichts zu kümmern. Bekommt Leckereien aus der Küche gereicht, in der geschnibbelt und gekocht wird. Ein Gläschen Wein? Wärmflasche? Jetzt sitze ich im Wohnzimmer auf dem Sofa mit Blick auf die neueren Gelben Objekte und den Schreibtisch mit Gegenständen, die teils benutzt, teils bewundert werden können, wie Schnitzmesser, Schnüre, Astgabeln oder besonders geformte Steine und Versteinerungen. Gestern hatte ich mein Telefon zu Hause vergessen, Panik, ich muss doch erreichbar sein, falls Mama stirbt. Am Vormittag hat sie mich wieder nicht gehen lassen, sie klebt so an mir, gesteht mir ihre Liebe und ist sehr weinerlich dabei, es ist nur sehr schwer auszuhalten, diese Liebe, von der ich nicht weiß, wem sie wirklich gilt. Mit dem Argumentieren sollte ich aufhören: Nächste Woche kommt Dudi dich besuchen. Dann macht ihr wieder was Schönes. Sie könne sich nicht erinnern, kontert sie, hoffentlich sei die nicht so spröde wie ich. Spröde, lache ich halbwegs verzweifelt. Das Wort hängt mir lange nach.

Ich rufe dann im Heim an und gebe des Bildhauers Nummer durch, ein lustiger Dialog, weil ich für einen Moment seinen Nachnamen vergessen habe. Den nutze ich naturgemäß selten, wir siezen uns schon lange nicht mehr. Gerade kommt er rein und dreht die Tulpen zurecht, macht den Globus an und guckt, als ob er wüsste, dass ich über ihn schreibe.

Am Morgen träumte ich: In der Agentur, die mittlerweile von der Lieblingschefin komplett übernommen ward, entdeckte ich in einer Truhe einen Stapel Schneidematten, sie waren ein einziges Mal benutzt worden, um mit Kunden zu basteln, eine schmeichelhafte Werbeaktion. Ich empfinde das als große Verschwendung, eine Schneideunterlage ist für mich ein besonderer Schatz, der einiges kostet. Der Arbeitstisch ist mit Materialien überfrachtet, regelrecht zugemüllt. Ich rege mich total auf wegen all dem Kram. Ich brauche ja bloß ein Stück der hellblau karierten Reinzeichenpappe, die ich nicht finden kann.

Indes melden sich die Enkel des Kaisers auf meinem Handy, sie wollen Mama eine Weile nehmen, damit ich mal wieder ausschlafen kann. Ich weiß nicht genau, ob ich ihnen trauen kann, immerhin sind sie nur die Enkel und nicht der Kaiser selbst.

Ich schaue bei mir zuhause vorbei. Dort war ich anscheinend eine Weile nicht. Das Schlafzimmerfenster ist vorgekippt, und auf dem Fensterbrett steht ein größerer Blumentopf, aus dem etwas Grün sprießt, das Krautbüschel steht schief und ich will es geraderücken, da ist noch etwas anderes, vertrocknetes im Topf. Mit dem Finger pule ich dran herum, etwas braungraues, zerzaustes, strohig – zum Vorschein kommt der Kopf meiner Katze! Sie ist tot, unwiderruflich, ihre Augen nur noch vertrocknete schwarze Schlitze. Was für ein schrecklicher Anblick! Wie konnte ich meine geliebte Katze vergessen? Sie muss vor Wochen in dieser Wohnung verhungert sein, in der Blumenerde zum Sterben eingegraben. Wie ich das vor den anderen Menschen, die zu Besuch sind, verheimlichen kann, überlege ich wirr. Ich könnte den Topf (mit Katze) in den Biomüll werfen ... nur langsam wache ich auf und werde mir erleichtert klar, nur ein Traum.

Ihn zu deuten, ist einfach. Sorgepflicht vernachlässigt, vergesslich geworden gegenüber der Verpflichtung. Einer meiner größten (wenn auch eingebildeteten) Fehler gegen mein Liebstes.

Was denn mein Liebstes sei? Das weiß ich ja.

Am Mittag fahre ich mein Handy holen. Im Hof ergeht sich die schwarze Katze. Seit Monaten habe ich sie nicht gesehen, wir laufen aufeinander zu, Freunde, Freude, bücke mich zu ihr, winterdick, mein Gesicht dann voller nasser Nasenstüber, ich wühle und rieche in ihrem kurzen, festen Fell, das einige weiße Haare bekommen hat, sie maunzt, gurrt und schnurrt, versichert, wie lebendig sie ist – und ich erzähle ihr auch alles.




Samstag, 6. Januar 2018
...ja, der gestrige Rückblick ist etwas im Weihnachtsgeschehen versackt. Das ist nicht schlimm, denn wir wollen ja aufarbeiten, was geht.

Manchmal fühlt es sich an, als wäre meine eigene Persönlichkeit kaum vorhanden, das meint die eigene Färbung des, äh –
Das Mütterlein klagt über etwas Ähnliches, ich hoffe, wir haben nicht die gleiche Schacke. Sie weiß jetzt definitiv nicht mehr, wer ich bin, sie ruft mich zwar freudig beim Namen, wenn ich auftauche, dabei hält sie mich gleich für mehrere Personen. Es gibt da diesen Jungen, der sie beim Tanz auf eine Weise geführt hat, wie ein Junge das mit einem Mädchen macht. Außerdem sei er immer sehr lieb. Ich frage nach Namen und Herkunft, die kennt sie aber nicht, er sei vielleicht mein Sohn? Als ich meine orangefarbene Winterjacke anziehe, bemerkt sie, ihre Mama hätte die gleiche. Das sind schon mal zwei Leute. Ihr Papa hätte sie hier ins Heim gebracht, drei, und dann natürlich noch ihre älteste Schwester Ch., die sich sehr nah standen (vier). Darüber hinaus meint sie manches Mal ich zu sein, so als säße sie vor einem Spiegel, und redete mich als ihr Bild an. Aus eins mach fünf.

Ich weiß nicht, wie ich darauf reagieren soll, validieren, wie es die Gesprächstechnik für Demente vorschlägt, kann ich das nicht, für mich käme es einer Lüge gleich. Und so spielen wir oft das Heitere Personenraten, mich amüsiert es, ihr macht es wahrscheinlich Angst, weil sie merkt, wie wenig ihrer Wahrnehmung noch stimmig ist.

Ich allerdings verbringe manchmal Tage damit, meinem favorisierten Gitarrenspieler nachzuforschen. Dann betrachte ich Bilder im Netz und sehe Videos an. Seine Gestalt und sein Gesicht rühren Tiefes in mir an, peinlich einzugestehen, dass er aussieht wie eine junge Version meines Vaters und somit meine ich auch für mich Ähnlichkeiten zu erkennen. Hat er nicht Hände wie ich? Augen, Nase. Und die Haare! Ich neige dazu, meine Friseurgänge mit seinen abzustimmen, zur Zeit, wie man es in aktuellen Auftritten sehen kann, trägt er sein Haar länger. So auch ich. Eigentlich englischer Herkunft, ist jener Musiker aber in der Nähe meiner Heimatstadt geboren, was eine außereheliche Affäre meines Vaters möglich machte. Das wäre doch toll, ich hätte einen Halbbruder, der so aussieht wie ich.

Kurzum. Ich erinnere mich, dass ich mindestens seit der Jahrtausendwende dem Laster anheimfalle, mir unsere gemeinsame Familiengeschichte auszumalen. Alle paar Monate, aber wenigstens einmal im Jahr begebe ich mich in das geliebte Gedankengebäude und merke, wie wenig ansprechbar für anderes ich in der Zeit bin. Gestern habe ich sogar die Gitarre zur Hand genommen, um ein aktuelles Stück nachzuspielen, aber verdammt, die Finger sind nicht gemacht für Barrégriffe. Es ärgert mich, dass er so gut ist, und so drehe ich wieder und wieder die Runde durch Konkurrenz, Rechtfertigung und Heilsversprechen. –

Das laugt mich aus, es ist ein bisschen wie eine Sucht, ich habe das Gefühl, ich hätte kein eigenes Leben und müsste, wie ein Zwang, das des Musikers tracken. Was natürlich nicht geht. Spätestens nach dieser Erkenntnis fange ich an, zu mir und meinem eigenen Leben zurückzukehren, langsam, mit Blicken zurück, erst kann ich nur wenig damit anfangen, später sehe ich den Wert und die Fülle wieder, die das Meine ausmachen.

Was mich anfällt, ist schwer für mich zu verstehen. In der Phase der Ahnenforschung im letzten Herbst merkte ich, wie gut es tut, dass da noch jemand anderes ist bzw. war, eine Art Halt und Stärke vielleicht von der Urgroßmutter mit ihren neun Kindern kommend. Auch dort eine Freude, wenn ich meine biologische Herkunft sichten konnte, ah, diese Großtante sieht mir ähnlich, die braunen Augen, sieh her. Das war für mich ein großer Trost. Die jungen Jahre meines Vaters, mit Nicki und Bollerhose, mit gestreiftem Pulli und diesen schönen Haaren, auf den Fotos stets bereit zu einer Grimasse oder sich im Gesicht herumfriemelnd. So wie ich das mache, und so macht es auch der Musiker. Friemeln. –

Genug dessen. Meine echte Beziehung zum Bildhauer indes ist von gelassener Einfachheit und Freude. Wir treffen uns regelmäßig und machen was. Er bringt mich zum Lachen, und auch ich kann sein dunkles Lachen herausfordern, wir reden über das meiste, was es gibt und uns begeistern praktisch die gleichen Interessensgebiete, anzunehmen ist, dass er auch solche Gedankenburgen belebt, und das sehe ich an seiner Kunst. Zur Zeit ist sie gelb, Zitrone, indisch, Kurkuma, ein bisschen mehr rot, da wird alles angemalt und steht zur Betrachtung herum. Ich lass dann meinen Blick schweifen und finde es schön. Was kümmern mich dann noch Barréakkorde wie F, Gm oder A#.




Freitag, 5. Januar 2018
Der auch ein Rücklick sein könnte, wenn man sich schon gleich bei der Überschrift verschreibt. Nochmal drüberlecken und dann wech. Was habe ich gewartet auf das Neujahr, um nun doch wieder in einer ähnlichen Schleife zu hängen. Wenigstens waren die Weihnachtstage vorbei, während deren ich mich in die alten Muster stürzte, wollte ich doch das Mütterlein mit Anwesenheit erfreuen. An ihm ging das alles recht spurlos vorüber, es dachte bereits am zweiten Advent oder in der folgenden Woche, dass Weihnachten schon gefeiert ward, und ich sah mich am Heiligen Abend der ökumenischen Andacht lauschen (und ich sah mich am zweiten Weihnachtstag Kalbfleisch essen), von meinem Sitzplatz von hinten auf den Klavierspieler blickend, dessen Fuß zitterte, und der sich so manches Mal verspielte, es aber spielerisch zu umspielen verstand, jawohl. Zu Bethlehem geboren wurde nicht angestimmt, aber Mama kann es bis zur dritten Strophe auswendig und wir sangen es oft gemeinsam. Es hat ganz offiziell die gleiche Melodie wie Die Blümelein, sie schlafen und so ist es auch nicht ganz so peinlich, wenn man es, auch nach Weihnachten, zuhause singt und damit rechnen muss, dass die Nachbarn mithören.

Der Liedtext beschreibt eine ganz und gar kompromisslose Liebe zu dem Jesuskindlein und ich betone Mama gegenüber, wie sehr mir das gefällt. Schon die zweite Strophe In seine Lieb’ versenken / will ich mich ganz hinab; / mein Herz will ich ihm schenken / und alles, was ich hab’, … da kann man jetzt lange reden, wem das gilt, Jesus oder dem Göttlichen an sich oder überhaupt etwas Höherem, dem Höchsten, dem Absoluten. In der fünften Strophe geht es richtig zur Sache: Dich, wahren Gott, ich finde / in unser’m Fleisch und Blut; … Ich hatte diese das erste Mal zu einer Nachtmesse gehört, die ich im Dom der Heimatstadt mit Mama erlebte, damals, und mir stockte das, äh, Blut. Gott sitzt also in meinem Fleisch und Blut! Ist das nicht Ketzerei?

Als Mama noch denken konnte, haben wir speziell darüber oft diskutiert. Mich dünkt, dass die christliche Kirche immer schon versucht hat, Gott von den Menschen fernzuhalten, wir hier unten ganz klein, und Gott dort oben mit voller Macht über allem, ohne Verbindung. Gerade der alttestamentarische Gott spielt sich als gemeiner Richter auf und ist mir gänzlich unsympatisch. Mit großem Eifer hatte ich Mama davon zu überzeugen versucht, dass Gott in unseren Herzen wohnt, in der Philosophie des Yoga wird das noch ganz anders und detaillierter gesagt, aber ich will hier nicht schon wieder –
Also. Mama hat einen Traum: Ich sei nun als Nonne den Johannitern (also ihrer Heimorganisation) beigetreten und sie würde es nicht fassen, dass ich mich für sowas hergebe. In ihrer Stimme klingt Abscheu, so als würde ich bei einem Porno mitmachen. Erstaunt über ihre heftige Reaktion bitte ich um Erklärung, nicht ohne hinzuzufügen, dass Nonne-sein ich tatsächlich auch für mich für möglich halte, eventuell so gegen Lebensende. Das gefällt ihr überhaupt nicht und ihre Mimik dazu ist seltsam entgleist. Sie nimmt das ernst.

Sie nimmt es sehr ernst, sie erkennt die Gefahr, dass ich mich dem Jesuskindlein hingebe, anstatt ihr! Und sie spürt, wie nah ihm bin, immer schon war und nicht ihr!

Wie kann das sein, dass man in einem katholischen Haushalt aufwächst, zu regelmäßigem Gottesverkehrdienst gezwungen wird, mit bigott-doublebind-iger Erziehung konfrontiert, wenn man sich dann wirklich mit richtiger Ehrlichkeit auf die Suche nach dem Absoluten machet – daran gehindert, gar mit Verachtung bestraft wird? Mit wirklicher Ehrlichkeit: Ich fass es nicht! –

Diese Ungeheuerlichkeit hielt mich ein paar Tage beschäftigt. Gerade wieder muss ich an das Märchen Marienkind denken, über das ich hier einmal schrieb. Vielleicht kommen an diesem Punkt viele Lebenslinien zusammen, vieles erklärt sich, das scheinheilige Verhalten (m)einer Mutter, die die einzige wahre Mystikerin der Familie verstößt, zumindest verbal, aber wir wissen ja, dass eine ordentliche Verwünschung auch nicht von schlechten Eltern ist, oder eben doch.