Montag, 28. April 2014
Ich rufe Mamas Nachbarn an, ob er mal nach ihr schauen möge, sie geht nicht ans Telefon, wo statt ihrer eine fremde Stimme erklärt, dass der Anschluss zur Zeit nicht erreichbar sei. Aber ich bin sehr erreichbar während der Viertelstunde, in der ich auf den Rückruf des Nachbarn warte: für allerhand Szenarien, die Mutter liegt tot oder bewusstlos neben dem Telefon, das ihr aus der Hand gefallen und zerbrochen ist. Oder ein Blitz hat eingeschlagen, das Telefon zerstört und, ach, ich weiß auch nicht, die Bilder drehen sich um das Auffinden von toten Menschen, friedlich im Sessel oder verkrümmt und blutig am unteren Ende von steinernen Kellertreppen. Um Gespräche mit Bestattern, die Blumenauswahl und den letzten Blick ins Grab. Wo ist die gita, ich weiß immer noch nicht, was sie für einen Spruch möchte. Wäre ich dem jetzt gewachsen? Ich mach mich bereit, sofort in die Heimatstadt zu fahren und fühle nach, ob ich fühlen kann, ob sie lebt oder schon gen Himmel schwebt. Wieso kann man das nicht spüren, und wieso geht sie nicht in der Nachbarschaft telefonieren. Diese blöde Hilflosigkeit. Dazu noch ihre nur mühsam versteckte Feindseligkeit, ja, sie ist überzeugt davon, dass die Welt ihr Feind ist.

Exakt 15 Minuten später entwarnt mich Herr W., bloß das Telefon sei tot, die Mutter hingegen wohlauf, sie reagierte recht schnell auf sein Klingeln und Rappeln an der Briefkastenklappe und kam im Morgenmantel an die Tür. Ich bin sowas von erleichtert! Er bietet sogar an, die Störungsstelle anzurufen, nein, das mache ich, der arme Mann muss ja jetzt nicht noch stundenlang in Warteschleifen hängen.

Dudi und ich versuchen schon seit Papas Tod sie mit Herrn W. anzufreunden, allerdings belegt er eine höhere Richter-Kaste und sie sei bloß Handwerkerin und Lehrersgattin, sowas ginge ja nicht. Und überhaupt, alle Männer seien doof. Herr W. verspricht, am Nachmittag nochmal bei ihr vorbeizusehen und ich, ihn gegen Abend anzurufen.

Es folgt das übliche Telekom-Gedöns mit SMSen und muffeligen Technikern. Sie kommen übermorgen. Ha, bis dahin könnte sich der Nachbar etwas um Mama kümmern, vielleicht wird das ja noch was mit den beiden.