Sonntag, 28. Juli 2013
Wenn ich krank oder anderweitig verzagt war, habe ich mich gern in die Bücherwelten meiner Jugend verzogen. Es bereitete mir stets Trost, Sätze, Abschnitte und Erlebnisse nachzulesen, die ich nach all den Jahren fast schon auswendig kannte. Eigentlich sind es nur zwei Bücher, zu denen ich immer wieder zurückfinde, wie oft ich sie schon gelesen habe, kann ich nur schätzen: Blauvogel von Anna Müller-Tannewitz unter dem Pseudonym Anna Jürgen und Irja von Annikki Setäla.

Beide Bücher hatte ich im Keller meines Elternhauses unter den Sachen gefunden, die mein Cousin nach dem Tod meiner Tante für eine Weile bei uns deponiert hatte. Eigentlich durfte ich dort nicht stöbern, aber am Ende hatten wir doch ein paar Gegenstände aus dem Sammelsurium behalten dürfen, eine alte Musiktruhe, die noch sehr gut klang und die ich eine Weile benutzte, bevor ich mir einen eigenen modernen Plattenspieler kaufen konnte, drei Beistelltischchen, die untereinander gestellt und im Bedarfsfall hervorgeholt wurden, einige LPs, die mein Cousin aussortiert hatte, was kein Wunder war, denn mir gefiel die Musik bis auf Nights in White Satin (von wem nochmal?) oder Procol Harum auch nicht. Aber die beiden Bücher – sie wurden meine größten Schätze.

Irja handelt von einem finnischen Mädchen, das in der unberührten Natur Lapplands aufwächst, sich lieber mit Jungskram beschäftigt und stolz ist, dem Vater nachzueifern, der in ihr immer seinen kleinen Jungen gesehen hat. Eines Tages kommt ein junger Forstmeister zu ihnen, um die Familie mit seiner Arbeitskraft zu unterstützen. In Irja erwachen zwiespältigste Gefühle dem weichen Mann aus dem Süden gegenüber, die zwischen heimlicher Zuneigung und verächtlichen Hänseleien hin- und herpendeln, aber die ebenfalls erwachende Leserin (ich) erkennt sich in diesem wilden Mädchen selbst und saugt diese Geschichte nur so auf. Am Ende, auf einem großen Fest zum Jahresende, gerade als sie bereit ist, Kero ihre Gefühle zu gestehen, entdeckt sie ihn und ihre sanfte Schwester beim Betrachten des Nordlichts, er hat einen Arm um Hilkka gelegt und Irja begreift, dass sie Kero verloren hat. Ein großartiger Moment und ein großartiges Buch, das nicht nur die Sitten und Gebräuche der Lappen beschreibt, sondern auch Zusammenhalt und Freundschaften, viele spannende Erlebnisse und alles zusammen ergibt einen unauslöschbaren Eindruck über die fremde Kultur hinter dem Polarkreis.

Blauvogel ist die Geschichte eines weißen Jungen, der von Indianern geraubt und adoptiert wird. Eindringlich wird erzählt, wie er sich nur mühsam in das Leben des nahe des Eriesees wohnenden Irokesenstammes einzufügen lernt, lange Zeit von übelwollenden Kindern und Fluchtgedanken geplagt, im Laufe der Jahre aber gewahr wird, welche Rollen die beteiligten Völker und Regierungen bei der Eroberung Amerikas, der Ausrottung ihrer Urvölker und der Ausbeutung der Natur wirklich spielen. Wie bei Irja werden nicht nur das alltägliche Leben, die Rituale, sondern auch politische Hintergründe beschrieben, es gibt verschiedene Abenteuer zu bewältigen, und am Ende, als die Indianer gezwungen werden, ihre adoptierten weißen Kinder zu deren Familien zurückzubringen, erkennt Blauvogel, wie sehr er sich von seiner weißen Ursprungsfamilie entfremdet hat und kehrt zurück zu den Indianern.

Was mein kindliches Herz an diese Bücher fesselt, die mein in der Welt sein so stark geprägt haben, ist ihr Sinn für Heimat und Zugehörigkeit zur Natur und zu freundlichen Menschen. In diesem meinem Herzen glüht immer noch ein lebendiges Bild nach dem Ersehnten. Ein Bild von einem wahren Zuhause und einer bestimmten Art von Rechtschaffenheit und Harmlosigkeit. Eine heile Welt. Wenn ich krank oder anderweitig verzagt bin, kann ich durch diese Bücher wieder heil werden.




Freitag, 5. Juli 2013
Ich muss jetzt einschreiten! Den weinenden Vater in einem Artikel über historische Putzlappen zu erwähnen, war etwas unsensibel. Dafür gibt es den zweiten Teil des Textes hier und ein Bild vom Bild:


Das fast schönste Objekt aber, neben dem Birkenbild, ist eine Kalligrafie einer Großkusine, in Fraktur mit blumigem Initial, das Papier gebräunt vom Alter. Über dem Psalm (73), vertraute mir mein Vater an, hat er oft geweint. Seine eigenen Tiefen aber ließ er mich nur ahnen.

"Dennoch bleibe ich stets an dir;
denn du hältst mich bei meiner rechten Hand,
du leitest mich nach deinem Rat
und nimmst mich am Ende mit Ehren an.
Wenn ich nur dich habe,
so frage ich nichts nach Himmel und Erde.
Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet,
so bist du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Teil …"




Donnerstag, 2. Mai 2013

Können wir uns ein Leben ohne Schienen überhaupt vorstellen?

Dass es so aussieht, als würde ich ständig in Cafés rumsitzen und Wache halten, ist die eine Sache. Anscheinend bin ich nicht die einzige, mittlerweile kennt man sich vom Sehen, die Inhaberin des Schmuckladens, der Künstler, dessen Bilder im Café hängen und die ich allesamt schrecklich finde, der Glatzköpfige, dem ich ein gewisses Misstrauen entgegenbringe, weil er aussieht wie der Geräuschemann, mittlerweile sagen wir hallo, zumindest an Samstagen; dann sind da die Mütter aus dem Viertel, alle so um die 40 und die Kinder untereinander entsprechend gleichaltrig. Mit der Leserin treffe ich mich einmal die Woche dort zum Frühstück, B., die eigentlich Webdesignerin ist, aber einen Schrebergarten besitzt und deshalb hier die Gärtnerin genannt wird, rufe ich ab und zu von ihrem Arbeitsplatz daheim raus, und dann sind da noch die eher unregelmäßigen Kaffeepausen mit der Busenfreundin und der Buddhistin.

Ab und zu gebe ich den Kaffeekonsum für Wochen auf, trinke daheim ein Gebräu aus Lupinenkaffee mit geschäumter Ziegenmilch und hoffe immer wieder, dass ich den Rhythmus von zwei Cappucchinen die Woche einhalten kann. Bisher ist es nicht gelungen.

Was ich gestern über die maya schrieb, ist die andere Sache und beeinhaltete einen Denkfehler. Es sind ja nicht wir und die maya oder wir in der maya, sondern das Bewusstsein webt die maya, die wir sind. Da gibt es keine Trennung. Eigentlich. Und doch passiert es immer wieder, und das versuchte ich mit dem Swami zu erörtern, dass ich mich wie ein Objekt unter Objekten fühle, alles sauber voneinander getrennt und das genau mache das Verlorensein und die Ohnmacht aus. Als würde etwas einrasten, wurde mir der Denkfehler gestern Nacht wieder klar, und sofort rückte alles wieder näher, um mich dann vollständig zu durchdringen, die Verbindung war wieder da, die Bindung an eine freundliche Welt, die es mit Kräften zu gestalten gilt, sei sie auch noch so flüchtig und scheinbar.

Bis zur nächsten Vergessenheit. Bis zum nächsten Dualitätsanfall.




Sonntag, 28. April 2013
Von hier aus ist es nicht weit ins Grüne. Die Straße entlang, über die Kreuzung, dort beginnt schon der Weg hinunter an den Fluss. Zwar hört man noch die Stadtgeräusche, die hört man eigentlich immer, weiter draußen fahren S-Bahn und Güterzüge, die bei Südwind laut ins Fenster wehen. Ich nehme den Weg zu den Teichen, die Jacke muss ich geschlossen halten, die Hände habe ich in den Hosentaschen, so frisch ist es, aber der Himmel ist blau und durchs wilde Gebüsch kann man schon fast nichts mehr sehen vom Braun des Winters, so grün und bunt blüht es schon. Zum Fkk-Teich und zurück sind es zweieinhalb Stunden zu Fuß, an Pferde- und Gänsewiesen vorbei, an kleinen Teichen mit Schilf und Birken, Schwänen und Reihern, an alten Bäumen, Sümpfen und Moosen. Verschiedene Gerüche nehme ich wahr, manches moderig, manches duftet schon süßlich und voll, Hummeln und Bienen sind unterwegs, um davon zu kosten.

Richtung See

Als ich in den Pfad zur Wiese biege, scheint der Platz leer, doch näherkommend sehe ich ein paar Nackte sich ins Gras kauern, erkenne den mit Schirmmütze und Schnäuzer, dünn wie Gandhi, die Frau mit den weißen langen Haaren und die Dicke mit ihrem Elektrorollstuhl, den sie weiter hinten abgestellt hat. Ich gehe auf den Steg und sehe ins klare Wasser hinunter, Fische mit rötlichen Flossen schwimmen auf. Der eisige Wind ist hier nicht zu spüren, die Sonne, vom Wasser reflektiert, brennt im Gesicht und ich beschließe, mich auszuziehen und eine Weile in der Sonne zu liegen. Ein Viertelstündchen.

Dann kommt einer der Nackten heran. Ich setze mich auf, das Wasser hat bestimmt nicht mehr als zehn Grad oder so. Es ist ja immer so eine Sache – wenn man selbst sitzt und jemand Nacktes steht in der Nähe rum, da muss man aufpassen, wo man hinsieht. Gehen Sie rein?, stelle ihm bzw. seinem Gemächt die Standardfrage. Natürlich. Dreht seinen Rücken Richtung See, nimmt das Geländer in die Hände, steigt die Stufen hinab und ohne Zaudern versinkt sein Körper im Gewässer. Ich beobachte ihn dabei.

Nach ein paar Zügen erklimmt er die Leiter und ist wieder bei mir auf dem Steg, wir plaudern ein wenig über Eisschwimmen und den langen Winter, und ob ich nicht auch mal, nein, ich traue mich noch nicht, ach, wenigstens den Fuß mal eintauchen, dann kommt die Weißhaarige noch dazu – mit ähnlicher Gelassenheit gleitet auch sie langsam ins Nass und trocknet sich, zurück auf den Holzplanken, mit einem kleinen Handtuch ab, das auch ein Fensterleder sein könnte.

Mittlerweile bin auch ich aufgestanden, mir wird kalt, so sehr liegt der Wind auf uns, und kleide mich an, unterbreche mit meiner Verabschiedung die beiden in ihrem regen aber belanglosen Gespräch über Temperatur und Wassertiefe, und mache mich auf den Weg zurück nach Hause.




Dienstag, 2. April 2013

mit einem Fluss und einem Berg im Hintergrund. Auf dem Berg befindet sich ein Fernsehturm.