Montag, 19. August 2019
Am Ort der Ausstellung, zu der der Bildhauer und ich ein environment beigetragen haben, regnete es gestern. Zuvor ward das Gras vertrocknet und im Gelände, das sich vom erhöhten Gut zu einem Bachlauf senkt, war es heiß gewesen. Allein am ersten Wochenende wurden tausend Gäste gezählt, das möchte niemand unerwähnt lassen. Wir wenigen sitzen nun fast alle regengeschützt unterm Glasdach der Terrasse, von der man einen weiten Blick in den Garten des Rittergutes hat. Es ist beinahe das Paradies, inmitten der Stadt, und die Vertreibung aus solchem ist Thema der Ausstellung. Der Bildhauer läuft mit dem Sohn der Adligen durchs Gebüsch und bastelt mit ihm einen schönen Holzhammer, ähnlich dem, mit dem wir die gespitzten Pflöcke, die die Leinen unseres Refugiums halten, in den Boden gehauen haben, nur kleiner. Am Tisch sitzt die Tätowiererin und sticht der Kuratorin das gewünschte Motiv in den Unterarm, einer älteren Dame mit haubenhaft verstrohtem, schwarzem Haar; früher in den 70ern war jene ein heißer Feger, wie ich Dudi zuraune, mit Absicht einen Begriff nutzend, der gleich direkt aus jener Zeit stammt.

Am meisten schätze ich die Gespräche mit den Besuchern der Ausstellung, die nach einer Runde durch den Park bei uns ankommen. Es ist mir sonderbar wichtig, dass sie unser Konzept verstehen, eben nicht bloß rational, und die meisten gehen mit und teilen berührende Erinnerungen. Eine alte Frau erzählt, wie sie als kleines Mädchen mit ihren Freunden in den Ruinen der zerstörten Stadt gespielt hatte, in keinster Weise sich darüber im Klaren, wie gefährlich das kletternde und suchende Spiel war, tatsächlich empfand sie es als paradiesisch, sorgenlos. Das Herzstück meines Teils der Arbeit ist eine Schatzkiste, in der ich Wundersames aufbewahre, u. a. eine schöne blaue Murmel, ein Stück Strickliesel-Strippe, glänzende Aufkleber, Münzen aus aller Herren Länder, eine Tube orangener Acrylfarbe, eine Schere für Wellenschnitt, selbstgeschnitzte Häkelnadeln, ein Foto meines Großvaters, dem Konditor, der meinem, in eine Minikonditorenkluft gekleideten, ungefähr fünf- oder sechsjährigen Vater in der Backstube über einen niedrigen Tisch gebeugt etwas zeigt. Die Betrachter meiner Schätze sind nun ebenso gebeugt und ihnen reiche ich selbstgebackene Plätzchen (sind das Haschkekse, fragen sie) aus der goldenen Blechdose aus fernen Zeiten. -- Und hier schließen sich genau die Stränge, die ich beabsichtigt habe zu schließen.




Dienstag, 2. Mai 2017
Ich dachte vorhin erst, da kommt ein Kerl, ruft der Nackte mir zu, als ich mich schon wieder ankleide. Mein erstes Sonnenbad am See, vor dem Wind versteckt im Gras. Was, ich? ruf ich zurück. Ja, so mit dem Rad und der Jacke und den kurzen Haaren. Und dann kommt da plötzlich ein wunderschönes Mädchen zum Vorschein! Ich lache über wunderschön und Mädchen. Auf jeden Fall bin ich die jüngste von den fünf oder sechs FKKlern, die sich eingefunden haben. Ich erzähle dem Bildhauer von dem Geschmeichel, das fände er ja auch immer, sagt er, weiterschmeichelnd.

Diese (anderen) Erlebnisse sind leicht. An einem Tag sind wir plötzlich zu siebt und fahren zum Bärlauchwald, um zu spazieren und ernten und dann in meiner kleinen Küche zu landen, schnell einen Topf Nudeln aufsetzen, die Gäste mit flinker Hand bedienen. Rotwein ist noch da und Kaffee, alle kennen sich und plaudern aufs erfreulichste. Oder, mein großer Patensohn hat einigen Aufenthalt am hiesigen Bahnhof, ich fahre schnell hin und lade ihn zu einer Asianudel ein, dazu gibt’s buddhistische Weisheiten – von ihm an mich. Dass er das Spirituelle so ernst nimmt; was für ein erstaunlich schöner Mann er geworden ist!

Und die Ausflüge mit dem Bildhauer. Wir lassen uns zu Plätzen treiben, die wir im Laufe der zweidreiviertel Jahre gefunden haben, zu jeder Zeit erscheinen sie uns freundlicher und bedeutender. Sogar dieser seltsame Ort Grohnde: Vom Fährhaus zu sehen, ragen die Kühltürme des AKW aus den Fluss-Auen. Wir beoachten Ruderer und Menschen in Schnellboten, hinter uns tönt eine Blaskapelle, und die Weser, trüb und still, macht mir Heimatgefühle.




Mittwoch, 8. Oktober 2014

Auf der Fensterbank wird es Herbst. Im Blumenkasten gibt es eine zweite Generation Kleeblüten, noch gern besucht von den letzten Bienen des Jahres. In weitere Töpfe hatte ich Samenbomben gesetzt, aus denen es freundlich und etwas unordentlich gesprießt hatte und nun langsam vertrocknet. Ab und zu hört man eine Walnuss von Nachbars Baum fallen, der schon deutlich entlaubt sich zeigt. Die Mittagszeit verbringen der Bildhauer und ich in einem Steingeschäft, ich suche einen schönen Crysopras, der gegen die leidigen Hitzewellen helfen soll, und er irgendwas. Nachdem wir die tausend Sorten Steine, von denen es jeweils wieder tausende gibt, ausgiebig betrachtet haben, nimmt er drei Bergkristalle und ich neben dem grünen Stein noch ein Stück Mammut-Elfenbein. Mammuts sind seit diesem Sommer meine Lieblingstiere, der Bildhauer hatte die verschiedendsten Bücher über sie neben dem Bett gestapelt und ich träumte davon, in der Steinzeit zu leben. Mit ihm.

Wir machen seltsame Dinge – gehen mit Pfeil und Bogen raus und probieren sie aus. Für ihn sind beide, Bogen und Pfeil, schön geformte Skulpturen, was aber nicht darüber hinwegtäuscht, dass sie funktionstüchtige Waffen sind, die Pfeile besitzen Stahlspitzen und eine erstaunliche Kraft. Während wir durch die Natur wandern, ich mit acht federbesetzten tödlichen Pfeilen im Köcher auf dem Rücken und in der Hand das warme, geölte Holz des Bogens mit der straffen Sehne, die an meinem Handgelenk reibt, fühle ich mich nah dran, dort hinten liegt ein Haufen Stroh, sieht er nicht aus wie ein bereits erlegtes Mammut?

An einem anderen Tag in der Kiesgrube schießen wir mit Zwillen rundliche Steine auf Verkehrsschilder, imaginäre Ziele und liegengebliebene Flaschen, die mit diesem unvergleichlichen Geräusch zerspringen. Auch die Zwillen hat der Bildhauer hergestellt und verkauft sie in einem Laden für Vintage-Bedarf. In beiden Disziplinen, dem Bogenschießen und dem Gebrauch der Zwille, erweise ich mich als geschickt, und wieder fühle ich Dieses, als ich mit der Zwille in der hinteren Hosentasche neben dem Bildhauer hergehe, wir wie zwei Burschen, die jeder Gefahr trotzen. Ab und zu legen wir uns im Gehen gegenseitig den Arm auf die Schultern. Scheiß auf die Geschlechterrollen! Von Beginn an waren diese angenehm verwischt und immer noch spielen wir damit. Ich könnte darüber schreiben, wie gut wir uns miteinander fühlen, aber aus irgendeinem Grund empfinde ich es als verfrüht, noch herrscht Verliebtheit und gegenseitige Bewunderung, möglicherweise ausgelöst durch verwirbelnde Hormone, die angeblich nach einer gewissen Zeitspanne verebben – wir werden sehen, was die Zeit aus uns macht.

Mit dem Herbst und den Steinen und Holzstücken, die sich in meinem Zuhause ansammeln, ändert sich die Stimmung. Ich weiß, dass der Bildhauer meinen geistigen Ideen ebenso nah ist wie ich seinen künstlerischen, manchmal, wenn ich darüber rede, reagiert er äußerst gerührt. Es würden Puzzleteile endlich zusammenfinden, behauptet er. Männliche und weibliche. Diese und jene. Obere und untere. Für mich sind die tantrischen Traditionen Indiens schon lange Heimat, für ihn gewinnen sie langsam an Bedeutung.

Ich habe eine Art Gelübde gemacht, ein stilles, mit Sankalpa Shakti. Es betrifft einen Bereich, der mich seit Jahrzehnten nicht losgelassen hat. Jetzt möchte ich ihn willentlich loslassen. Ich weiß, dass das gut so ist.




Dienstag, 17. Juni 2014
Das Motorrad ist wieder bereit. Wann war ich das letzte Mal los? Ist schon so lange her. Einmal im Sommer vor zwei Jahren ging ich mit dem Esoteriker zur Garage, ließ die kleine Maschine kurz an, sie pröttelte, aber wenigstens pröttelte sie überhaupt. Zum Fahren kam ich nicht, weil der Kerl mir meine gesamte Zeit raubte. Jetzt spring ich einfach auf, auf die harte Bank und kurve vom Hof der Werkstatt, als wäre ich niemals ohne sie gewesen, sie brummt und liegt straff zwischen den Schenkeln, Schalter und Hebel lassen sich gut betätigen, ja, die Kupplung war immer schon etwas hart, der linke Arm muss sich bemühen, und die Handbremse hat kaum Spiel, aber das gefällt mir, ich weiß genau, wo der Punkt liegt. Auf der Bundesstraße gebe ich ordentlich Gas, die Finger fest um die Griffe, die Bauchmuskeln halten den Körper aufrecht im kühlen Gegenwind. Mit dieser Brille aber hatte ich den Helm noch nicht getragen; weil die Bügel hinterm Ohr überstehen und so mit dem Helm in Berührung kommen, vibrieren die Gläser mit, das nervt etwas, vielleicht nehme ich wieder das uralte Gestell mit neuen Gläsern, das hat sich bewährt und ich kann auch Sonnenschutz draufklemmen.

Bekomme ich neue Lust am Krad? Ich war so lange nicht draußen zum Ausfahren, an der Weser lang durch ihr Bergland oder nach Norden, die etwas langweilige Strecke zur Bestenfreundin. Aus den Kilometern zu Mama doppelt so viel machen, mehrmals hin und zurück über das Wiehengebirge, oder zur Quelle am Süntel, frisches Wasser holen.




Sonntag, 27. April 2014
Ich hatte die Kamera nicht dabei, aber ich mag das Bild: eine Weide voll blühenden Bärlauchs inmitten von Buchen, noch licht und hellgrün. Am Waldrand grellfarbiger Raps und überm Horizont Quellwolken. Die Busenfreundin und ich wetten, wann das Gewitter kommt. (Gar nicht, erst Nachts ein einzelnes Donnern.) Jetzt steht sie klein und sammelt Blätter, das Jahr ist schon fast zu spät dafür. Weit und breit niemand und aus einem freien Gefühl heraus ziehe ich mir die Hose runter, hocke und pinkele dort, wo ich gerade bin.

Wir sammeln noch anderes, Gundermann, Brennessel, Wiesenschaumkraut, Knoblauchrauke, und später mische ich alle Kräuter in den Pfannkuchenteig.

Heute ruft sie mich mit noch kleinerer Stimme zwischen zwei Kotzanfällen an und sagt ab – wir wollten eigentlich mit Freunden im Park nochmal sammeln gehen und danach bei I. gemeinsam kochen. Ein bisschen bin ich froh, so habe ich den Tag für mich und kann lesen und was schreiben.




Montag, 24. März 2014
Neuerdings beschäftige ich mich ja mit Gartensachen. Die Saat begießen und so, und warten bis sie sprießt, also mit dem Leben in seiner ursprünglichen Funktion, als äh, Lebensspender. Anscheinend geht damit einher, dass die kleinen Probleme des persönlichen Lebens, wenn nicht verschwinden, so doch wenigstens unwichtiger werden.

Zwecks Erkundung größerer Lebenszusammenhänge fuhren eine Gruppe Interessierter mit Bahn und Bus los, um den Niedernstöckener Friedenshof zu besuchen. Sieben Menschen leben dort auf einem Bauernhof mit jeder Menge Fachwerk und Lehm. Das Konzept der Gemeinschaft beruht auf dem der Arche, die in den 70ern aus der Friedensbewegung entstanden ist. Die Begründer, ein Ehepaar, sind demnach Alt-68er, ein weiteres Paar ist etwa so alt wie ich und die jüngsten Mitte 20. Zum Lebenserwerb bewirtet man den Hof, hält Schafe und baut Gemüse und Obst an. Des weiteren werden Seminare angeboten, die sich mit rechtem Menschsein beschäftigen, durchzogen von Achtsamkeit und Spiritualität, angesiedelt irgendwo in der Mitte aktueller Strömungen (Buddhismus, Christentum, Yoga, Kunst- und Stimmtherapie etc.).

Praktizierte Achtsamkeit. Speziell ich bin besonders achtsam, was subtile Anzeichen von Esoterik betrifft. Ich kann mich aber entspannen. Bis auf anthroposophisch gerundete Ecken an selbstgezimmerter Innenarchitektur und lieb gemeinten bunten Lehmfresken ist die Gestaltung der Häuser, Gärten und Felder erdverbunden und folgt praktischen Erwägungen. Es gibt Gästezimmer unterm Reetdach und in Bauwägen, gemeinsames Kochen, morgendliche Meditationen, abendliches Feuer im Garten und stündliches Glockengeläut, das zum Innehalten läd. Unsere Gruppe ist neugierig und wir schauen und fragen und prüfen die Möglichkeiten, die ein verbindliches Miteinanderleben bringen. Wäre das nicht auch was für uns?

Bevor wir einen Rundgang über das Gehöft unternehmen, schnippeln wir gemeinsam Kartoffeln, Rüben und Sellerie, von denen die Frauen des Hauses ein veganes Mittagsmahl bereiten, das in der großen Halle des über 400 Jahre alten Haupthauses eingenommen wird, einfach und sehr lecker, im Rücken Ofenwärme, obendrüber vom Alter und offenen Feuern aus vergangenen Zeiten geschwärzte Eichenbalken. Während der Begehung schauen wir in jede Ecke, die Holzwerkstatt wird gewürdigt, das Rundbeet für heimische und andere Wild- und Heilkräuter, das Zwei-Hektar-Feld mit Bauwagen weit hinten als Rückzugsmöglichkeit, romantische Sitzecken, ein uralter Brunnen, weitere Beigebäude auf plattem Land und die Scheune, in deren Nord-Ecke helle und dunkle runde Milchschafe stehen und sich sofort kraulen lassen, ihre Wolle so dick, dass die Finger kaum bis zur Haut durchkommem, während die frechen Hühner überall auf dem Gelände herumscharren. Auf laut krähende Hähne hat man auch hier keinen Bock, sobald sie geschlüpft sind, "gibt man sie weg", was auch immer das bedeutet.

Wir sehen und lernen viel. Eine grundsätzliche Frage nimmt in mir Gestalt am: Wo kommt das Geld her? Am Nachmittag ist Zeit, ausführlich darüber zu reden, wir treffen uns im Seminarraum unterm Dach des kürzlich erbauten Niedrigernergiehauses. Es gibt ein bisschen Eso-Alarm, als wir Morning Has Broken singen und etwas Rumtanzen. Ist dann aber doch ganz schön. Die Buddhistin, die auch dabei ist mit Freundin, zwinkert mir zu.

Jetzt sitzen wir alle in der Runde auf wohlgestopften Meditations-Kissen und jede/r, die Ausflugsgäste und die Bewohner erzählen von ihren Vorstellungen, Wünschen und Hoffnungen, die sich an ein Leben in Gemeinschaft knüpfen. Da wir mittlerweile einen Einblick bekommen haben, wie eng sowas sein kann, stelle ich fest, dass mir mein Leben in der Stadt, allein in einer lieben Wohnung, Freunde, die um die Ecke wohnen und einem guten Café, viel zu gut gefällt, als dass ich es gegen das hier eintauschen würde. Natürlich fehlt mir manchmal die Natur und eine geistige Gemeinschaft, all das könnte ich hier finden, in dem ich ab und an zu Besuch komme, ein bisschen im Garten buddele und in der Küche Selbstgeerntetes zubereiten helfe. So stelle ich mir das vor, und offensichtlich ist dafür auch Raum und Bedarf. Es gäbe immer viel zu tun, und gerade in den letzten Jahren, berichtet die Älteste, hätte sie weniger Freizeit denn je gehabt. Wer sich hier als Gast zurückziehen möchte, wird kaum Gelegenheit finden, sich mit einem guten Buch auf die schöne Bank dort unterm Baum zu setzen, weil jede helfende Hand vonnöten ist, das System aufrecht zu erhalten.

Da ich ausgeklügelte Finanzsysteme grundsätzlich erstmal nicht verstehe, kann ich nur grob wiedergeben, wie dieses hier funktioniert. Es gibt einen Verein, bei dem die Bewohner z. T. angestellt sind und der Geldmittel vom Staat abgreift, und eine andere Gruppe von Interessierten, denen der Hof gehört und ihn ohne Gewinninteresse an die Gemeinschaft vermietet. Die Seminare sind eine weitere Einnahmequelle und auch die Überschüsse aus der Landwirtschaft, ebenso Spenden. Es gibt eine gemeinsame Kasse, in der alles Geld verwaltet und Ausgaben getätigt werden. Wenn Arbeiten anfallen, die keiner der Bewohner ausführen kann, z. B. dieses Jahr das Reetdach neu decken, werden Fachkräfte dafür normal entlohnt werden müssen. Auf die Frage, wie das alles funktioniert, wird lachend erwidert, das wüsste man nicht ganz genau, aber es würde seit über 30 Jahren irgendwie gehen. Na, schön. Trotzdem entdecke ich den Zipfel Kapitalismus und würde gerne mal an ihm zupfen. Es gibt also Geldgeber, ohne die man den Hof nicht hätte erwerben können. Und auf die Gelder vom Staat lässt sich auf keinen Fall verzichten. Natürlich, den Versuch, vollkommen autonom zu leben, hätte man schnell als unrealistisch aufgeben müssen.

Fast schon am Ende der Runde schwebt ein weiteres Thema im Raum, die Altersvorsorge. Da die Arche-Projekte allesamt noch keine Erfahrungen damit haben, wird man es auf sich zukommen lassen. Es klingt aber schon an, dass der Friedenshof kein Gnadenhof sein kann, der seine alt gewordenen Menschen zu pflegen imstande ist. Die Älteste ist immerhin schon 74 Jahre alt, aber noch rüstig genug, um mitzuwirtschaften. Da alle Bewohner nur minimal in die Rente einzahlen konnten, wird das Wenige der Gemeinschaftskasse nicht für alle reichen, wenn jemand wegen Altersschwäche ausfällt.

Bedeutet alt oder krank sein den Auszug aus der Gemeinschaft, für die die beiden Ältesten sich ihr halbes Leben mit Leib und Seele eingesetzt haben? Um dann am Ende des Lebens verarmt in einem hässlichen Heim zu enden, wo der Pfleger nur drei Minuten Zeit für sie hat? Es macht mich traurig, dass es sich fast so anhört. Aber wer weiß, vielleicht wird auch diese Unmöglichkeit gemeistert werden.

Voller widersprüchlicher Eindrücke kehre ich zurück, kuschele mich in mein Bett und genieße Einsamkeit und Stille.




Dienstag, 18. Februar 2014
Als ich ein Kind war, war das Kaiser-Wilhelm-Denkmal in Porta Westfalica für mich die höchste erreichbare Erhebung in der Nähe. Mit dem alten, von meinem Vater gesteuerten DKW ging es die Serpentinen hinauf, ab einer bestimmten Kurve lichteten sich Häuser und Bäume und ich bekam einen ersten Blick in die Ferne. Oben am Gasthaus angekommen, wurde das kleine Auto geparkt, und den Rest bis zur Aussichtsterrasse gingen wir zu Fuß. Das kam mir weit vor und meine Ungeduld war groß. In der Erinnerung ist alles groß und weit, der Blick rüber zum Fernsehturm, oder rauf zu Wilhelms Knie oder runter auf die Weser, die hier durch die Bergkette ihren Weg nimmt. Die Aussicht nach Norden liebte ich mehr als die nach Süden, wo die Sonne hügeligem Land folgte. Zur anderen Seite war der Blick plan und frei – bis nach Grönland, wie ich mir einbildete, wenn das Wetter klar war oder mindestens bis zur Nordsee. Sowas wie die Erdkrümmung kannte ich damals nicht.

Wie stets plagten mich beim Anblick von Ferne und Höhe äußerst tiefe existenzielle Gedanken. Warum bin ich Ich und nicht Du, war eine meiner Standards; heruntergebrochen auf Wer Bin Ich ließ mich diese Frage dort oben eine Einsamkeit spüren, die ich mit niemandem teilen konnte. Dazu sind Einsamkeiten ja auch nicht da, wüsste ich mich heute zu trösten. Damals aber war ich hin und hergerissen zwischen dem Wunsch, mich meinen Eltern gegenüber verständlich zu machen und dem heimlichen Wissen, wie die Welt in Wahrheit beschaffen ist: Mit blauem Himmel gefüllte Stille, von einem sanften Wind durchzogen.

Meine Welt war magisch. Und das ganz ohne Kobolde oder unsichtbare Freunde, die mir hätten zur Seite stehen können. Heute frage ich mich, wie es zum Verlust der Magie kommen konnte. War es die Aneignung der Weltsicht meiner Eltern (oder ähnlicher Autoritäten), weil die meine permanent von jenen geleugnet wurde und ich nicht standhaft genug war, sie zu verteidigen? Es war mir unmöglich, mich durchzusetzen. Natürlich hatte ich Welten, in die ich zeitweise entschwinden konnte, die der Bücher und des kindlichen Spiels, aber die sogenannte Realität der Erwachsenen war brutal in ihrer Penetranz und hatte eine zerstörerische Auswirkung auf jede zarte Erkenntnis.




Freitag, 22. November 2013
In der SZ las ich heute "Haut ab". Über eingesessene Berliner oder nicht so eingesessene, die Fremde vertreiben möchten. Für mich wären Häutungen eine Spur zu brutal, dachte ich eine Textspalte lang, bis ich merkte, dass die Fremden zum Abhauen aufgerufen werden. Schade, doch keine Splattereien auf offener Straße. Fremde vertreiben ist genauso zweideutig wie Haut ab – Vertrieb von Fremden und anderen Häuten.

Auch Berlin bleibt für mich zweideutig. Vor ein paar Jahren reiste ich zwecks Beziehungspflege regelmäßig in die Stadt. Wie sich herausstellte, war unser Zusammenkommen (lieber Leser, Sie können daraus jetzt gern zusammen Kommen machen, das macht mir nichts) für die Gegenseite hautpsächlich körperlich, obwohl ich selbst all diese Reisen aus anderen Erwägungen unternahm. Mir war nämlich durchaus ernst. Ich bildete mir sogar ein, unsterblich zu lieben, und dass dies was ganz Großes sei. Naja. Ich glaube das noch immer, wenn auch aus völlig anderen Gründen. Jedenfalls ist die Stadt unauslöschlich mit den körperlichen Freuden verbunden, die der Mann und ich uns gegenseitig bescherten. Entweder wir kamen gerade aus dem Bett und liefen, noch durchströmt von verschiedensten Gefühlen, durch die Kulissen oder wir liefen durch die Kulissen zurück ins Bett, um uns weiteren Gefallen anzutun. So ging das viele Monate, wenn nicht Jahre und machte Berlin für alles andere untauglich. Heute noch erinnert mich jede Hauswand, jede Sehenswürdigkeit, die Art der Bürgersteigbepflasterung, die Negativausschnitte des Himmels zwischen den Häusern, einfach alles immer noch daran und meist bin ich darüber wütend und mache den Mann dafür verantwortlich. Es gibt vieles, das ich sehr mag, architektonisch oder auch vom Wetter her, gleich welchem, aber dauernd rutscht mir unser damaliges Treiben in das Gegenwartsempfinden wie äh, Treibsand. Ich war dünnhäutig, scheu und lief mit Verhaltensstörungen an der Seite des Mannes durch die Stadt, der sie mir präsentierte, als hätte er sie selbst gebaut. Ich könnte auch sagen, der sich mir präsentierte, als hätte er sich selbst gebaut. Was ja auch stimmt, denn der Geist erschafft den Körper.

Wo war ich? Jedenfalls. Heute mag ich die Menschengesichter. Es ist mir eine Freude, in sie zu blicken, als blickte ich gerade jetzt in all die Wahrheiten, die sonst versteckt sind. An diesem nebeligen Tag leuchten sie mich an. Ich hätte nichts dagegen, wenn sie blieben.




Sonntag, 1. September 2013
Ich weiß gar nicht, ob ich lieber lesen oder schreiben will, habe Bücher der halbindianischen Schriftstellerin Louise Erdrich überall herumliegen und bin nun bei "Der Club der singenden Metzger". Alles Lesen und Filmschauen heuer immer noch im Zeichen der amerikanischen Ureinwohner. Obwohl deren Geschichte, wie Jede ausgerotteter Kulturen, todtraurig ist, schöpfe ich Kraft daraus, dass es eine Art heiler Welt (wie ich sie verstehe) gegeben hat und geben kann. Die Dokumentarreihe "500 Nations" über das Leben der Völker im vorkolumbianischen Amerika, beginnt Herausgeber Kevin Costner mit der Feststellung, dass für die Christen der Garten Eden, aus dem die ersten Menschen vertrieben wurden, für immer vergangen war, während dagegen die Indianer seit jeher in diesem ihrem Garten gelebt haben, aufs engste verbunden mit Tieren, Pflanzen und Mineralien, und einer Unendlichkeit, die auf alles schaut (und sieht, dass es gut ist).

Louise Erdrich erzählt mit lebendiger Wucht und feinem Blick von Menschen, die sich, ihrer Entwurzelung bewusst, zunehmend auf alte Kräfte und Rituale besinnen, während sie noch an den hässlichen Strukturen leiden, die die Weißen ihnen im Laufe der wenigen Jahrhunderte mit größter Brutalität aufgezwungen haben.




Dienstag, 20. August 2013
  1. Überall sehr laut. Auf dem Gelände wird ohnehin gebaggert und gehämmert, nun aber auch zu Hause im Hof, der aufgegraben wird, um Leitungen aller Art unterirdisch aufzunehmen. Eine Neuerung in diesem alten Haus, sonst lief ja der Kabelbaum quer durch die Luft zum Hinterhaus.
  2. Kaffee Nr. eins von zwei für diese Woche. Wenn die Frequenz so bleibt, macht er durchaus glücklich.
  3. Das Arbeitspensum. Am Sonntag schon mal jquery-Scripte gecheckt, um eine Übergangslösung für die Agentur-Website zu basteln, die endlich, endlich, einen Neuanfang macht, einen neuen Ort hat und einen Namen, der mir sehr gefällt.
  4. Nur die Lieblingschefin hat irgendetwas, das mich reizt. Vielleicht komme ich noch dazu, es schreibend zu erörtern und so Klarheit zu erlangen. Noch bin ich vorsichtig.
  5. Im Kreuzlendenbereich immer noch Leichtigkeit.
  6. Gestern eine Stunde Sorge, weil Mama nicht ans Telefon ging. Schon die Nummer des Nachbarn zur Hand gehabt, der einen Schlüssel von Mamas Haus besitzt, schon meine Schwester angerufen, die aber auch nicht erreichbar war. Dann endlich höre ich ihre fröhliche und starke Stimme – sie war bei der Schwägerin zum 90. Geburtstagskaffee. Wir quasseln und es ist schön, sie zu hören.
  7. In der Meditation werde ich gewahr, wie sehr sie mich liebt.
  8. Um mich in der Firmenstruktur A. zurechtzufinden, zeichne ich einen Stammbaum der Mitarbeiter gleichen Nachnamens, um den Überlick zu erhalten.
  9. Die Ringelblumen und die Kapuzinerkresse blühen endlich.
  10. Und nicht zuletzt retrograde Gedanken stärkeren Grades an den Geräuschemann und wie es wäre, ihn im September zu besuchen. 50:50, dass ich mich überhaupt melde.